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Sichtschneisen VIII

01.08.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Touristen, die vor den Ruinen den Kopf in den Baedeker stecken, statt die Säulen und antiken Reste zu betrachten.

Die Wolken sind freilich zu sehen, doch wenn es aufgeklart hat, ist nichts eigentlich zu sehen außer diesem tiefen Blau.

Das Prasseln des Regens hören, und dann wenn es aufgehört hat zu regnen, das Prasseln der Stille.

Das Geläut der Glocken, das Verklingen der Glocken, die Erinnerung an das Geläut der Glocken, die Erinnerung an das Verklingen der Glocken.

Wie klingen Glocken in der Erinnerung? In welches Dunkel, in welche Helle verklingt die Glocke in der Erinnerung?

Der Wind fährt ins Blattwerk. Knistern des dürren Laubs. Windstille dann. Als könnte man den erstarrten Blättern ansehen, dass der Hauch sie gerührt und wieder verlassen hat.

„Wo ist die Seele“, frug mich meine alte Griechisch-Lehrerin. Wo ist die Zahl 7? Wo ist die Tatsache, dass ich dich gestern nicht im Park gesehen habe?

Der Zeigefinger kann nicht auf sich selbst zeigen.

Ich kann nicht in demselben Sinne von mir reden, wie ich von dir und du von mir redest.

Der Spiegel kann sich nicht selber spiegeln.

Der Satz kann nicht auf sich selbst zeigen oder sich selbst enthalten.

Deshalb birgt der Satz „Dieser Satz ist falsch“ keine tiefschürfende Paradoxie, sondern Unsinn.

Es macht keinen Unterschied, sich im Spiegel zu sehen oder im Spiegel, der die Lichtstrahlen von einem anderen Spiegel reflektiert.

Wir können uns dagegen nicht im Spiegel der Erinnerung sehen, weil dieser Spiegel Lichtstrahlen anderer Spiegel reflektiert.

Wenn wir die Wege einer Person nachzeichnen, die täglichen und die außergewöhnlichen, die kleinen Abstecher und die großen Reisen, alle Hinwege, alle Rückwege, erhalten wir ein Knäuel und Gekringel von Linien, die sich kreuzen, parallel laufen, auseinanderstreben und sternförmig zusammenlaufen.

Doch wir erhalten keine bedeutungsvolle Chiffre, wir erkennen in dem Wirrwarr nicht wie in manchen kuriosen Rätselzeichnungen ein Gesicht.

Wenn wir alle alltäglichen Sprechakte einer Person vom „Guten Morgen“ bis zum „Gute Nacht“ eines Tages, eines Monats, eines Jahres, eines Lebens aufzeichnen, erhalten wir nur kohärente Abschnitte, wenn wir die Gelegenheiten, Umstände, Gesprächspartner mitprotokollieren. Doch die Gesamtheit dieser Abschnitte entbehrt der Kohärenz.

Bei den Wegen und bei den Sprechakten finden wir kein Gesetz, das ihren zeitlichen Ablauf oder ihre lokalen Vorkommnisse wie das Gesetz der Gravitation den Umlauf der Erde um die Sonne oder des Mondes um die Erde determinierte.

Weshalb enden die frühen platonischen Dialoge aporetisch? Nun, die Gesprächspartner des Sokrates ermüden, fühlen sich von seiner aufdringlichen Art, jeden Vorschlag zur Güte zur Beantwortung seiner Frage nach dem Wesen des Frommen, Gerechten, Tapferen durch Beispiele und kleine Anekdoten aus ihrem Alltag in den Wind zu schlagen, wie von der Bremse belästigt, die man nicht verscheuchen kann, oder sie schützen dringende Termine und Geschäfte vor, um den dialektischen Fallstricken des Meisterdenkers endlich zu entkommen.

Können wir eine Ironie aufblitzen sehen, diesmal nicht die sokratische, sondern eine platonische Ironie, in deren Licht die Ausweglosigkeit des Gesprächs als Irrweg, Sackgasse, Herumtasten im Dunkel eines Labyrinths erscheint, in dessen Zentrum der Minotaurus der Frage nach dem Wesen, der Jagd nach dem Begriff lauert?

Aber welcher Platon könnte solch ein ironisches Licht auf seinen Meister geworfen haben? Jedenfalls nicht jener Platon, der das geistreiche, aber auch systematisch in die Irre führende Höhlengleichnis geschrieben hat.

Die Gefangenen der platonischen Höhle sind, wie Platon ausdrücklich hervorhebt, der natürlichen Sprache mächtig. Sie können demnach, was sie sehen, in Worte fassen und sich ihre Gedanken mitteilen. Nehmen wir an, sie nennen den Krug Krug, den Kranz Kranz und den Topf Topf. Sie sagen, wenn der Schatten eines Kruges in ihrem Schatten-Bewusstseins-Kino auftaucht „Schau an, ein Krug“ oder wenn sein Schatten zum vierten Mal in der letzten Stunde vorüberflackert: „Schon wieder der Krug, das ist das dritte Mal in der letzten Stunde!“ – „Nein“, sagt der Nachbar, „das vierte Mal.“ Wenn einer sagt: „Schau, ein Krug!“, sagt sein Nachbar, „nein, das ist ein Topf.“

Wenn sie wunderbarerweise sich von Schattenmenschen in Kinder des Lichts verwandelt haben und alsdann bei klarem Sonnenschein den Krug sehen, werden sie bei seinem Anblick ihr altes Wort verwenden und sagen: „Schau an, ein Krug!“ Der Unterschied wird natürlich die Komplettierung ihrer sinnlichen Wahrnehmung durch den räumlichen oder dreidimensionalen Aspekt sowie die Farbigkeit der Dinge ausmachen. Müssen sie deswegen ihre Sprache und ihr Denken grundlegend revidieren oder nur um die Aspekte der Dreidimensionalität und Farbigkeit erweitern?

Sie sehen die Dinge klarer, tiefer, aspektreicher, aber nicht eigentlich wie Platon suggeriert, wahrer oder seiender, was immer dies heißen mag.

Sie gehen von einem primitiven Sprachspiel über zu einem, das einen höheren Grad an Mannigfaltigkeit hat.

Wenn wir Platon so verstehen, als habe er vorgeschlagen, wir sollten aus dem Schatten ins Licht treten und zu einem aspektreicheren, gehaltvolleren, subtileren Sprachspiel übergehen, wird sein Vorschlag vielleicht verständlicher, wenn wir an das Sprachspiel der Dichtung denken. Doch Krug bleibt Krug und Topf bleibt Topf, und damit kommen wir im Alltag aus, wenn wir solche Begriffe in Sprechakten verwenden wie: „Füll mir den Krug mit Wein!“ oder: „Ich tausche meinen Krug gegen deinen Topf.“

Doch zu sagen: „Das ist kein Krug, das ist ein Topf“ oder „Das waren vier Krüge, nicht drei“, bleibt in jeder Sprache anwendbar und ausdrückbar, in der wir über ein entsprechendes Vokabular, Zahlwörter und die Negation verfügen, gleichgültig, ob wir darüber hinaus den Krug auch noch bauchig, blau oder schön nennen können.

Wenn Platon meint, wie seien jetzt wie die Schattenleser in der Höhle zu einer nur eingeschränkten und flachen Ansicht der Dinge verdammt, die in Wirklichkeit aspektreicher und tiefer sind, wie der blaue Krug den Aspekt der Farbigkeit und der räumlichen Tiefe dem Schatten-Krug voraushat, bleibt er uns die Antwort darauf schuldig, welche Ansicht und welche Sprache uns von dem blauen dreidimensionalen Krug eine erweiterte Mannigfaltigkeit der Bedeutung zu geben vermöchten.

Die Schwarz-Weiß-Malerei öffnet sich unserer Weltsicht auf farbige, tastbare Dinge wie Krüge, in die wir Wasser gießen und Blumen stellen können. Gut. Doch welches Fenster tut sich auf, dass wir die farbigen, tastbaren Dinge vor einem neuen lichtvolleren Hintergrund erblicken? Wir haben nur dieses Licht, dieses Blau zwischen flüchtigen Wolken, diesen Krug mit Wasser, der unseren menschlichen Durst stillt.

Dass wir die Dinge Grau in Grau sehen oder in voller Farbenpracht ist kein prinzipieller Unterschied, denn er liegt in der beide Sichten übergreifenden Tatsache begründet, dass wir diejenigen sind, die unsere Welt von unserem Blickwinkel aus sehen.

Dass wir die Welt sehen und in diesem Sinne sind, diese seltsame Tatsache geht allen einzelnen Tatsachen, die wir als Dinge und ihre Relationen in der Welt beobachten, voraus.

Alles, was wir in der Welt wahrnehmen, unterliegt dem Gesetz schicksalhaften Ausgleichs, dass was entsteht untergeht, lebt, stirbt. So, könnte man sagen, ist die Welt in einem vollständigen Gleichgewicht.

Nur das flüchtige dichterische Wort und die zarte musikalische Geste vermöchten uns in den Augenblick der Stille und in das dunkle Auge des Sturms dieses unablässigen Untergangs zu versetzen.

Dass wir sind, ist ebensowenig begreifbar wie der Tod, verstanden als die unüberschreitbare Grenze unseres Daseins.

Wenn wir in einen klaren Satz alles pfropfen und pressen, was darin impliziert und mitgemeint ist, wird er unverständlich.

Jemand steht an der Pforte und winkt dir nach, und du bist nicht betrübt, du lächelst, auch wenn du für immer gehen musst.

Platon spricht von dem, worüber man nicht sprechen kann, dem Strahl eines überirdischen Lichts, der durch den Dunst des vergeblich Gesagten bricht.

Wir könnten auch sagen, Platon spricht von dem, was die christlichen Theologen darin lasen, der Liebe Gottes.

Der Aspekt von Liebe, den Platon mit der Sonne des Guten verbindet, ist menschlich gesprochen die Sorge um den Geliebten. Da die überirdische Sonne, anders als die sichtbare, niemals untergeht, eignet dieser Liebe ewige Treue und Beständigkeit, aber auch Einsicht in die Schwächen und Gebrechen des Geliebten, an denen sie sich nicht ärgert, sondern denen sie mit ihrer heilenden Wärme abzuhelfen sucht.

Wenn wir Gefühle und Stimmungen wie Freude, Lust, Schmerz, Angst und Grauen von Haltungen wie Hoffnung, Treue, Freundschaft und Liebe unterscheiden, sehen wir, dass Liebe sich gleichsam mit allen möglichen Gefühlen und Stimmungen verträgt oder einlässt, aber selbst kein Gefühl und keine Stimmung ist.

Man kann sich nicht sagen: „O, heute fühle ich mich gestimmt, sie zu lieben.“

Man kann sich nicht sagen: „Ach, sie hat mich heute mit ihrer dummen Bemerkung enttäuscht, dafür werde ich sie einen Tag lang nicht lieben.“

Es mag keine Evidenz für die Tatsache geben, dass jemand seine Freundin liebt, aber die Evidenz für die Tatsache, dass er sie nicht liebt, tritt ans helle Licht, wenn er sie dem Spott der anderen preisgibt oder ihr in einer schwierigen Lage nicht beisteht.

Die Hoffnung, dass die Geliebte zurückkehrt, wird nicht ausgelöscht von der Angst, sie könne plötzlich vor der Tür stehen.

Die Treue ist kein Abkommen auf Gegenseitigkeit. Sie kann die Untreue des anderen verwinden.

Der Hund kann nicht hoffen, dass sein Herrchen unbeschadet von der Expedition nach Hause zurückkehrt.

Dass Liebe stirbt, wie eine Blume welkt, die man zu tränken vergessen hat, ist ein schiefes Bild.

Die Rose der Liebe, die allzu reichlich mit allerlei Vergnügungen übergossen wird, welkt schneller als die im dürren Sand blühende Distel.

Du freust dich an der Nähe der Geliebten, doch ihre Ferne macht dich nicht betrübt.

Liebe ist keine Spiegelung des Geliebten und keine Symmetrie gegenseitiger Ansprüche. Selbst wenn du an der Liebe des anderen zweifelst, musst du nicht an deiner Liebe zweifeln.

Empfindungen wie Lust und Schmerz, Gefühle wie Freude und Trauer sind elementare Erlebnisse. Doch können Lust und Schmerz, Freude und Trauer ein echter Teil der Liebe werden. So ist die Trauer über den Tod des Geliebten anders als die Trauer über den Verlust eines Freundes oder gar eines Jobs.

Können wir den übernatürlichen Aspekt der göttlichen Liebe, den Platon meint und von dem die Evangelien künden, besser ausdrücken als mit den schlichten Worten des Marienlieds „Du Rose ohne Dornen“?

Rose, die in dieser Welt nicht blühen kann, Liebe, die in dieser Welt keine Kinder, sondern nur Bilder zeugen kann, wie in der Dichtung, wenn wir den Bogen von Jesaias bis zu William Blake ziehen.

 

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