Totenanger der Erinnerung
Die Bank ist morsch,
wo wir einst saßen,
vor uns das stille Wölken
des Wiesenschaumkrauts.
Dunkles Brausen uns im Rücken,
die unstillbare Angst der Welt.
Die Eiche krümmt sich noch darüber,
in deren schütterem Septemberlaub
verlassene Nester schwanken.
Droben, auf dem Kimmelberg,
der Hoheitsbrocken,
Heroenquader
aus Vulkangestein und Knochenmark,
beschmiert von dumpfer Jugend
des preußischen Adlers
schlaffer Fittich,
dem Eulenspiegel ausgerupft hat
neulich einen Friedensflaum.
Wir streichen durch den staubigen Pfad,
ein trockenes Rinnsal,
das vergebens sich gesehnt,
ins Delta hoher Zeit zu münden.
Wo gehäufter Unrat
in den Dunst der Langeweile starrt,
flattert jäh empor Krähengeschrei.
Dort geht abschüssig das Gefühl,
wenn das graue Band erzittert im Tal,
die von Ausonius besungene
lieblich besonnte Mosella.
Überm Rath gehen wir nicht,
die alte Sippe der Fischer lebt nicht mehr,
ihre Netze zerriß ein schartiger Zahn,
und wo sie gewimmelt,
Zander, Barsch, Rotauge, Schleie und Aal,
die basaltenen Bottiche
zerschlug pfeifend ein Zwerg,
aus der Höhle Nibelheims gekrochen,
mit dem Vorschlaghammer,
der gedröhnt wie eine Palinodie
auf Hegels Weltgericht.
Kehren wir heim,
jeder zum Totenanger
seiner Erinnerung.
Da hängen schief,
wie Geschlechtertürme en miniature,
von Mäusen unterwühlt,
die Male mit den Namen,
zu Rätselrunen verwittert.
Laß ab, den Schatten aus Moos,
den Grind des Schuldgefühls
den Ahnen vom Antlitz zu waschen.
Die verblaßten Veilchen
magst, die fleckigen Primeln
beträufeln du mit grüner Wehmutfeuchte,
daß sie ins Licht einmal noch sich recken.
Die Augen aber,
die vom Biß der Zwiebel einst getränt,
im Schein des gußeisernen Herdes dunkel glänzten,
den bangen Schlummer dir bewachten,
sie öffnen ihre Lider dir nicht mehr,
schließt du zu träumen auch die deinen.
Die ihr Blut in deines mischten,
wurden bleiche Masken,
augenlose,
die auf dem schwarzen Wasser treiben,
an dessen Ufern fahl
des Mondes Schwester,
die Asphodele blüht.
Erläuterungen zum Wortverständnis:
„Kimmelberg“: erste Erhebung der Eifel über dem Ort Koblenz-Metternich mit Sicht über das Neuwieder Becken, das von den Römern kultivierte Fruchtland („Delta hoher Zeit“)
„Hoheitsbrocken“, „Heroenquader“: preußisches Kriegerdenkmal mit dem geduckten preußischen Adler auf dem Kimmelberg für die Gefallenen der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71, eingeweiht 1913 im Gedenken an die Völkerschlacht von Leipzig 1813
„Eulenspiegel“: Die Alt-Metternicher nannten sich in humoristischer „Fehldeutung“ des preußischen Adlers „Eulen“, um ihr antipreußisches Ressentiment gegenüber dem Herrschervogel Ausdruck zu verleihen, der seit der Besetzung der Rheinlande durch Berlin über ihren Häuptern schwebte. Eulenspiegelei ist die zeitgeistige Umwidmung des imperialen Kriegerdenkmals zum Mahnmal für Frieden und Völkerverständigung, nachdem ein gewisser „Eulenspiegel“ im Gefieder des Adlers einen kauzigen „Friedensflaum“ entdeckt haben soll; auch eine Form der „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche).
„Mosella“: rühmendes Versepos des am Kaiserhof zu Trier tätigen römischen Dichters Ausonius über die Mosel
„Überm Rath“: alter Pfad vom Kimmelberg über die Weinberge zum Moselort Güls, einem alten Fischerdorf; siehe auch: http://www.luxautumnalis.de/ueberm-rath/
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