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Größe kennt keine Entwicklung

15.07.2016

Sentenzen und Aphorismen

Für die Griechen war es die absteigende Linie, golden, silbern, erzen und irden, gerechnet nach Äonen, Zeitaltern, Epochen.

Dann kam die Gloria Augustana, und Vergil war der große Umdeuter, der die neue aurea aetas mit dem Kaisertum und einem staatlichen Epos verkündete.

Sogar die römischen Christen, auch wenn ihnen der Stachel des metaphysischen Abstiegs über die Sünde der Ureltern, das Kainsmal, die Sintflut, Sodom und Gomorrha und die babylonische Verwirrung im Fleische stak, hatten nicht nur in Weihnachten, Ostern und Pfingsten die äußersten Zeichen der Umkehr, sondern konnten vom heiligen Glauben an das alte Imperium nicht lassen und sahen seine Grenze nicht anders als in der Wiederkunft des Herrn.

Unsere geistige Verwirrung rührt von der säkularen Geschichtslehre und Anthropologie der Humanisten und Aufklärer, nach denen wahlweise der Mensch, die Menschheit oder die menschliche Gesellschaft ein Experiment und Labor des Fortschritts und der Entwicklung zu Reife, Wohlstand und den Segnungen von Technik und Wohlfahrt seien.

Größeres Verwirrungs- und Verdummungspotential enthält nur noch der biologische und soziologische Evolutionsgedanke des 19. Jahrhunderts, der bis dato (bis zu Habermas & Co.) die leichtgläubigen Geister in Atem hält und sich in den biologischen Dogmen des Neodarwinismus und den soziologischen Dogmen der epochalen Abschnitte der Geschichts-und Gesellschaftentwicklung von Mittelalter, Neuzeit und Moderne niederschlägt und zur geistigen Unterwerfung unter die großen Vokabeln und Maulheldenbekenntnisse von Revolution, Menschenrechten, universaler Moral und Demokratie, das heißt der Emanzipation von allen Schranken und Distinktionen von Rasse und Herkunft, Geschlecht und Sexus, Anstand und Sittlichkeit bei Strafe des öffentlichen Prangers und des Verlusts von Profession, Lohn und Brot anhält.

Wer nichts als die Parolen von Aufklärung, Demokratie, Menschenrechten im Munde führt, will die Unterwerfung unter die vulgärste Gesinnung, will die Entblößung und Enteignung des Daseins von der schützenden Hülle der eigenen Sprache, der heimischen Kulte und Gebräuche, der lokalen Lebensformen und der geistigen Blüten des indigenen Territoriums.

Wer dich heute anzischt und an die Gurgel geht mit der Ludenparole „Aufklärung“ und „Demokratie“, ist ein Erpresser, ein Kaltmacher, ein Kommissar des abgefeimtesten und sterilsten Jargons, der nicht zögert, bei einem Wimpern-, geschweige denn Achselzucken die Pistole der wahren Moral aus der Tasche zu ziehen.

Warum sollten wir uns als Nachfolger von 1789 oder der Aufklärung verstehen müssen? Wir haben nicht weniger Recht, wenn wir uns als Zeitgenossen der Minnesänger, der Walther, Reinmar, Wolfram, Hartmann verstehen – denn die historischen Ereignisse erheben nur im Spiegel unseres validierenden, auswählenden und synthetisierenden Wertbewußtseins normative Ansprüche.

Was soll es dich scheren, nach dem gescheiterten GRÖFAZ geboren zu sein? Mußt du ihm noch darin huldigen, alles was an Größe und Schönheit in seinem Schatten liegt, geflissentlich zu beschweigen? Sind die Toten, die auf sein Konto gehen, die moralische Bürde, unter der dein schwankendes Boot unter applaudierten Bekundungen metaphysischen Ekels in seine Götterdämmerung nachfolgen soll?

Der Kosmos, die Erde, die Tiere, der Mensch haben keine Entwicklung in dem Sinne, daß wir ihr Dasein, ihre Struktur und Gestalt nach validen Kriterien von Wachstum, Komplexität, Differenzierung einteilen und bewerten könnten. Die Satellitenbilder der frühen kosmischen Hintergrundstrahlung zeigen eine Musterbildung, die der astronomischen Verteilung der Materie in Galaxien ähnlich ist und deren mathematische Abbildungen sich nicht grundlegend unterscheiden. Wir wissen um die Einschnitte, die Brüche, die Sedimentverschiebungen in geologischen Dimensionen, die das Unterste ins Oberste kehren, die uns den Gedanken kontinuierlicher Phasen mit großer Skepsis betrachten lassen. Im frühsten Geißeltierchen ist das organische Leben in seiner Differenziertheit und Komplexität gegeben, die der Differenziertheit und Komplexität des menschlichen Zentralorgans nur in quantitativen Graden, nicht in funktionellen Möglichkeiten nachsteht. Die frühen Sprachen der Hebräer, Ägypter, Griechen, die klassischen Sprachdenkmäler und Kunstwerke der Tragiker und der Akropolis verfügten über eine Differenziertheit des Ausdrucks und eine Nuanciertheit des Stils, die den Entwicklungsgedanken ad absurdum führen.

Die entscheidenden Vorkommnisse sind keine Nachträge des Geschehenen, sondern Einbrüche, Zäsuren, harte Fügungen, Untergänge, Schwellenphänomene, Morgenröten. Dies gilt nicht nur für biologische Phänomene wie die Verpuppung und Metamorphose oder die physisch-seelischen Sprünge der Kindheit, der Pubertät und des Alters, sondern a fortiori für die Ereignisse im kulturellen Raum – seien es die Offenbarungen der Götter, die Entstehung neuer Mythen und Riten oder neuer Formen musikalischen und dichterischen Ausdrucks.

Gewähren wir uns die geistige Souveränität, im Werden die Gleichzeitigkeit des Virtuellen zu erblicken, im Vorwalten einer Linie des Geschehens der gleichzeitige Nachhall und Vorhall virtueller Linien, derer wir uns zu neuem Ausdruck und zu neuen Ausblicken bedienen, indem wir sie verknoten, verdichten oder kontrapunktisch gegeneinanderführen.

Wer an dumme Dogmen wie die Entwicklung glaubt, kommt nicht umhin, auch dumme Fragen zu stellen: Gehören all jene, die vor den glorreichen Errungenschaften der Aufklärung und der Moderne haben ihr Dasein fristen müssen, in die Vorhölle der Geschichte? Gehören die Talente, denen eine dürftige Kräutermedizin das Leben nicht soweit verlängern konnte, daß sie zur vollen Blüte kamen, zu den bedauernswerten Misfits und Schulabbrechern der Vormoderne? Haben all die fleißigen, treuen, demütigen Frauen, die vor den glorreichen Errungenschaften des Frauenwahlrechts, des Rechts auf allgemeine Verdingung in Fabrik und Büro und des Rechts auf medial geförderte Exhibition und staatlich honorierte Prostitution ein verpfuschtes Leben geführt?

Das fanatische Insistieren auf den Idealen von 1789 und auf unbedingten und allgemeinen Menschenrechten führt zur Verwahrlosung der Sitten, zur Verrohung durch Freisetzung ungezügelter, perverser, flegelhafter Ansprüche und Antriebe – ein kühler Blick genügt, die Größe sittlicher Verhältnisse an der Tiefe und Feinheit gegenseitiger Verpflichtung zu gewahren, Verpflichtung, die auch das Recht zur Geltung bringt, denn meine Verpflichtung, das dir gegebene Versprechen einzulösen, impliziert deinen rechtmäßigen Anspruch auf eben die Bezeugung und Bewahrheitung meiner Pflicht.

Wir müssen uns von Flegeln und Rowdys des Kulturbetriebs nicht ins Bockhorn jagen lassen mit ihrer Falschmünzerei, nach der das Gold einer pindarischen Ode oder einer Hölderlinischen Hymne vom ungeprägten Blei und formlosen Schutt ihrer Manifeste aufgewogen werden könne, auch wenn sie vorgeben, damit den neuesten Entwicklungsstand medialen Auswurfs zu repräsentieren.

Goethe war in den kleinen Liedern von äußerstem Raffinement, in den Hymnen Sturzflut und prometheischer Schrei, in den Elegien das dunkle Wasser, das sich zur Widerspiegelung des Gestirns am Fels der Trauer und Verzweiflung staut – dies und alles andere war er ganz, unbedingt, rein. O, er hat von Vater und Mutter viel für seine Entwicklung mitbekommen? Aber dies nicht, nicht dies.

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