Variationen über ein unbekanntes Thema
Beiläufige Bemerkungen zum Übersetzen von Gedichten
Von einem zum anderen Berggipfel können nur Vögel leicht und umstandslos übersetzen.
Übersetzungen von Gedichten sind Variationen über ein Thema, das der Originaltext vorgegeben hat. Es kann daher nicht die eine, wahre und exklusive Übersetzung geben, sondern eine jede ist die Annäherung an ein Urbild oder Muster, das auch dem Dichter der Ausgangsprache mehr oder weniger klar und lebendig vorgeschwebt hat.
Gedichte sind Variationen über ein unbekanntes Thema: Denn der Impuls zum Gedicht kommt nicht aus der reinen Welt der Bedeutungen, sondern ähnelt dem Windstoß, der den Strandhafer beugt oder im feinen Sand Rillen und Mulden formt. Wir sehen die Biegung des Schilfs, die Rillen und Mulden im Sand, wir ahnen die Urgewalt des Winds.
Gedichte sind das Echo einer Stimme, deren Urheber unbekannt und namenlos oder noch unbekannt und noch unbenannt sein mag. Gedichte stellen oft Versuche dar, der Stimme, die sie aus dem Schweigen ruft, einen Namen, ein Gesicht, ein Leben zu geben. Diese ausgesprochenen oder ungesagt bleibenden Namen sind anders, handelt es sich um die hymnische Anrufung einer numinosen Macht, anders beim odischen Ansingen einer mythischen oder historischen Person, und wieder anders, wenn aus der liedhaften Stimmung ein Du berührt wird, das sich als verklärtes Spiegelbild des dichterischen Ich erweist. Kunst der Übersetzung ist es, den richtigen Namen mit der richtigen Intonation zu finden.
Die Worte und Wendungen des Gedichts sind wie Eisblumen auf den Scheiben: Wir wissen, es sind keine echten Blumen, sie blühen und duften nicht, und dennoch reichen sie an die Schönheit der wahren Blumen. Die wahren Blumen sind das Bild für den schöpferischen Ausgangsimpuls, dem die Übersetzung mit ihren jeweiligen künstlichen Blumen sich anschmiegt.
Gedichte sind Übersetzungen der stummen Sprache der Dinge.
Bei mißlungenen Übersetzungsversuchen wirken jene stummen Dinge wie geschältes, gekochtes Obst in Einmachgläsern, du magst erkennen, daß es sich um Birnen, Pflaumen oder Erdbeeren handelt, doch ihr lieblicher Geschmack und ihr feiner Geruch bleiben unter dem sterilen Glase gefangen und verborgen.
Übersetzungen gleichen geometrischen Projektionen: Die Ausgangspunkte werden verschoben, die Verbindungslinien gedehnt oder gekürzt, das Ganze kann seitenverkehrt oder verzerrt anmuten, entstand aber nach klaren Regeln.
Das Verweisungssystem der Ausgangssprache wird nur an den Rändern und Grenzen, den Umfassungslinien und inneren Faltungen vom Verweisungssystem der Zielsprache überlappt, deshalb sind wörtliche Gedichtübersetzungen unmöglich, mißleitend, ja unverständlich.
Wenn du einen Linol- oder Holzschnitt von einer Landschaft oder einem Gesicht anfertigst, wirst du den ersten groben Entwurf probeweise einfarbig auf Papier abziehen; dann verfeinerst du die Arbeit, wo es dir nötig scheint, und wieder machst du Probedrucke, vielleicht mit zwei oder drei Farben. Am Ende hast du letzte Hand angelegt und der mehrfarbige Papierabzug stellt den letzten Akt, die letzte Version deines Werkes dar, mit dem du fürs erste einverstanden und zufrieden bist. In diesem Falle stehen die Probedrucke für Stufen und Versionen der Gedichtübersetzung.
Wenn du den Linol- oder Holzschnitt eines individuellen Porträtbildes einer umgekehrten Verarbeitung unterziehst, also Schritt für Schritt erst die subtilen Linien der Gesichtszüge, des Mienenspiels, der Falten und dann auch markantere Linien um Kinn oder Auge oder der Haartracht mit dem Grabstichel oder Hohleisen glättest und neutralisierst, wobei du jeden Schritt wieder als Papierabzug dokumentierst, wird allmählich die Individualität und das persönliche Profil des Abgebildeten verblassen und verlöschen, und nur das universale Muster oder die intuitive Grundlage dessen, was wir Gesicht nennen, wird bleiben. Bei Gedichtübersetzungen kann uns dieses asketische Verfahren der Lichtung oder Ausdünnung und Ausmagerung dazu dienen, Schwulst und rhetorische Füllsel zu vermeiden und das Wesentliche der dichterischen Aussage zu entdecken.
Der Holzschnitt gibt uns noch andere Fingerzeige: Der erfahrene und geistreiche Künstler versteht sich darauf, die in der verwendeten Holzplatte eingewachsenen feinen oder groben Muster, die Äderungen und sogar wurmstichige Flecken und sogenannte Augen in seinem Werk bedeutsam oder anspielungsreich mitsprechen zu lassen. Wir vergleichen dieses kunsthandwerkliche Verfahren mit der Wirkmacht der natürlichen Stimme des Dichters: Sie mag rauh oder zart, leise oder laut, warm oder kühl sein, immer wird sie auch die Atmosphäre seines Gedichts, wie die Bodenbeschaffenheit und das Klima den Artenreichtum der Gartenpflanzen, tingieren und mitprägen. Ein elegisches Gedicht, das seine dunklen Klagen und wehmütigen Erinnerungen leise hinhaucht und gleichsam schmerzlich verhüllt, muß im Übersetzer nicht nur einen poetam doctum, sondern auch einen guten Stimmenimitator und Schauspieler der Seele finden.
Bei den meisten Gedichten spiegelt sich der originäre Impuls, der sie ins Leben der Sprache rief, in der rhythmischen Gliederung ihrer Gestalt und der lautlichen Überwölbung der Reime. Deshalb zeugt es von Ignoranz oder Hochmut zeitgenössischer Übersetzer und Verächter des Schönen, Rhythmus und Reim in den Wind zu schreiben und sich nicht um sie zu scheren. Diese arrogante Haltung tarnt sich gern im Gestus der Bescheidenheit, ist aber Ausdruck undichterischer Kriecherei vor einem Zeitgeist, der rhythmische Wohlgestalt und lautlichen Wohlklang als intime Annäherungen verabscheut und verwirft, weil an ihnen die Rohheit und Barbarei des eigenen Empfindens schändlich zutage zu treten drohen.
Der Rhythmus gleicht den Säulen und dem Gewölbe eines Laubenganges, die Reime dem Laub und den wohltuenden Schatten, die es wirft.
Es ist erstaunlich zu sehen, daß sich reine Dialektgedichte wie die schwäbischen oder rheinfränkischen nur um den Preis ihrer Entstellung oder Verarmung ins Hochdeutsche übersetzen lassen; während die Gedichte Biagio Marins, die alle auf Friulanisch oder im Gardeser Heimatdialekt des Dichters verfaßt sind, die Übersetzung in eine literarische Hochsprache dulden. Hierin erweist sich die Tatsache, daß es sich beim Friulanischen um eine eigene Sprache literarischen Ranges neben dem Hochitalienischen handelt. Die Gedichte Biagio Marins einer vorgeblichen Treue zur Mundart halber beispielsweise ins Schwäbische übersetzen zu wollen, wäre ein lächerliches Unterfangen und gliche einer unfreiwilligen Parodie.
Der Wind, der die italienische Zypresse schüttelt, ist von gleicher Substanz und Intensität wie der Wind, der die Blätter der deutschen Eiche rührt. Die Identität der Substanz und der Bewegung bezeichnen in diesem Bild die universale Bedingung der Möglichkeit der Gedichtübersetzung; die Verschiedenheit der Baumarten bezeichnet, wieder bildhaft, das lokale, kulturelle, spezifische Kolorit, das nicht unmittelbar übersetzbar ist, sondern nur durch Analogien wiedergegeben werden kann.
Hier erfassen wir auch den Grund, weshalb genuine sprachliche Wendungen und idiomatische Ausdrücke mit ihrem kulturhistorischen Einschlag und lokalen Zungenschlag nicht unmittelbar übersetzt, sondern nur durch den bedachtsamen Gebrauch analoger sprachlicher Wendungen der Zielsprache wiedergegeben werden können. Denn was in Frankfurt die Spatzen von den Dächern pfeifen, ist in Florenz „il segreto di Pulcinella“ (wobei heute nur die Eingeweihten um die Bedeutung dieser Figur des Volkstheaters wissen); und wenn in Rom gilt: meglio un uovo oggi che una gallina domani („Besser heute ein Ei in der Hand als morgen eine Henne im Stall“), dann gilt in Berlin: Besser ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach, und wenn in Dresden oder London eine Schwalbe noch keinen Sommer macht und one swallow does not make a summer, dann macht sie in Paris und Neapel noch keinen Frühling: une hirondelle ne fait pas le printemps beziehungsweise una rondine non fa primavera.
Wie können wir das südliche Licht, das in den Gedichten eines Biagio Marin als Urgedanke der Schöpfung leuchtet, in deutscher Übersetzung reflektieren lassen? Wir müssen uns auf die Sedimente des deutschen Wortes stützen, die sich im Laufe der Jahre durch die Übertragungen der Genesis oder der Gedichte Sapphos, Pindars und der griechischen Tragiker, durch die poetischen Betrachtungen der deutschen Lichtmystiker und die Dichtungen Goethes und Georges an ihm wie ein funkelndes Inkarnat von Kieseln und Halbedelsteinen abgesetzt haben.
Übersetzen heißt im besten Falle Nachdichten, den Sinn und Geist des Originals in Sinn und Geist der eigenen Sprache heben, fügen, retten; Nachdichten aber heißt im besten Falle Weiterdichten, den ursprünglichen dichterischen Impuls aus der Vorlage befreien und befruchtend auf den Acker der eigenen Sprache regnen lassen. Unter mancherlei Unkraut, das auf solche Weise üppig aufzuschießen pflegt, gedeiht auch hier und dort die reine, leuchtende Blume.
Übersetzen heißt verstehen wollen; und die beste Art des Verständnisses finden wir in den Versuchen, den Urimpuls des zu übersetzenden Gedichts aufzugreifen und in der eigenen Sprache einzusenken, keimen zu lassen, aufblühen zu lassen, wenn auch die so entstehenden Blüten und Früchte anders duften und anders schmecken als die im heimischen Garten des übersetzten Dichters.