Der kurz blühende Schatten
Fetzen eines nie gesehenen, nie zu sehenden Bilds.
Betrachten wir alles ruhig, fast teilnahmslos. Sage dir ruhig, fast teilnahmslos: „Jedes hat sein Schicksal.“ – Dann wende dich wieder ab, ruhig, fast teilnahmslos.
Wenn du der Verführung zur Emphase widerstehst, bleibt noch Flüssigkeit im Glas, da du nicht zitterst, bleibt noch Wahres im Satz …
Ziehe die rhetorischen Masken von den Sätzen, die aus Empörung, Entrüstung oder Dünkel geäußert wurden, es bleiben die Runzeln gemeiner Weltsichten auf den ausdruckslosen Gesichtern.
Warum sollte der Entwurf des menschlichen Körpers nicht das Zeugnis einer unerbittlichen Kontroverse zwischen Gott und dem Dämon sein, die nicht wegen des befriedigenden Ergebnisses, sondern aus Müdigkeit und Überdruss aufgegeben wurde?
Die höchsten Ideale – die ärgsten Verbrechen (oder das lächerlichste Betragen).
Die Stumpfsinnigen bekränzen sich gegenseitig mit dem Flor der Weisheit.
Sie leugnen die Tatsache der Rasse, doch rücken sie gern einen Dunkelhäutigen neben sich ins Rampenlicht für das Pressefoto.
Das von Schädlingen heimgesuchte Lebewesen verliert allen Reiz und jede vitale Anmut des Ausdrucks, bevor es verendet.
Vulgarität und Zotigkeit sind der Wutausbruch der emotional Minderbegabten.
Wenn du das Gefühl hast, lange genug gelebt zu haben – musst du dir neue Begierden entfachen oder mit dem Missbehagen weitersiechen.
Die sich nicht genug tun können im Lob der Alterität, vertun ihr Reden mit immer denselben Phrasen, vertun ihr Leben mit immer denselben Gesten.
Wenn wir es ganz anders meinen, als wir es sagten, haben wir nichts gesagt.
Es gibt nur einen Weg, ganz anders zu werden und doch derselbe zu sein: die Konversion. Ob wir heute die Konversion von ihren religiösen und metaphysischen Kontexten ablösen und auf die unheimliche Gegend einer neuen Erfahrung übertragen können, gilt weder als ausgemacht noch als abgetan.
Wie aber jener, dem neue Offenbarungen nicht in Sicht scheinen? Alles ist bereits um- und umgedreht und vielfach von allen Seiten beäugt. Es bleibt ihm nur, die alten, schon vergilbten Fotos wieder und wieder zu betrachten – und immer langsamer schlägt er die Seiten des Albums um.
Heute wird als Außenseiter nicht geächtet, wer auf der falschen Seite steht, sondern wer sich abseits hält.
Bei diesen Sirenen ist es besser, zu den Knechten des Odysseus zu gehören.
Sie versuchen wie dem Vieh das Brandmal allem eine Pointe aufzudrücken.
Wer könnte den Scherbenhaufen, den er in fremdem Hause vorfindet, zu einer vollkommenen Vase zusammensetzen, deren Urbild er nie gesehen hat? Nimmt also wirklich unsere Geschichte im Rückblick genügend Form und Struktur an, so dass wir sagen könnten: „Schaut her!“?
Du konntest nicht anders als das Rätsel des Lebens missverstehen wie der Lyderkönig das delphische Orakel.
Als wärest du der niedrigste Tempeldiener, bestallt, die Stufen des Altars zu wischen – und du hast jedes Stäubchen beseitigt, jeden Flecken entfernt – und nun, da sich von ferne in den dunklen Gängen der schmerzliche Glanz der Prozession ausbreitet und der feierliche Singsang der Priester anschwillt, die nahen, den großen Kult am Altar zu vollziehen, nun wirst du wie ein räudiger Hund weggescheucht und sollst nie erfahren, welchem Gotte dort geopfert wird.
Du hast die Einladung freudig angenommen und dich zeitig auf den Weg gemacht. Doch der Weg zum Haus des Gastgebers, das du bisher noch nie betreten hast, erweist sich als weiter und umständlicher als gedacht. So bist du spät daran, ja hast dich wohl verspätet, als du die festlich beleuchtete Halle betrittst. Was für ein Gewimmel fremder, nie gesehener Menschen, was für ein unverständliches Gemurmel fremder Sprachen! Chöre sich verschlingender, aneinander zerrender und nagender Klänge, halb tierischen, halb kindlichen Ursprungs, dringen an dein Ohr, Klänge nie gehörter schauerlicher und zugleich beseligender Harmonien. Ein grotesk geschminkter Zwerg in der albernen Maskerade eines flatternden Paletots und eines Baretts mimt den Diener und während er dir lüsterne und verächtliche Blicke zuwirft, führt er dich in den Saal zu dem dir zugewiesenen Platz. Dort blinkt dir auch richtig dein Name in goldenen Zügen auf dem Reservierungsschild entgegen – doch sitzt auf dem Platz dahinter schon ein anderer Mensch, siegesgewiss strahlend, als wäre ihm dieser Platz schon von jeher zubestimmt gewesen, ein Mensch, der dir sehr ähnlich sieht, und er lächelt dich an.
Wie sterben? So, dass du der Qual der Wiederkehr entbunden wärest – nur nicht erneut ins laute Getümmel der Menschen! Abseits dich zu entwinden in die stille Gegend sei dir gegeben, als Schatten kurz blühend einer leise schwingenden Dolde, die an der schmerzlichen Lust ihres Leuchtens vergeht, Blüte für Blüte ertrinkt in einem unergründlichen Azur – und mit dem süßen Verfall wird auch ihr Schatten geringer, ärmlicher, unwirklicher.
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