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Okt 5 24

Der jäh angeschlagene Gong

Worte eines Dichters können uns durch und durch gehen.

Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 155)

 

Es trifft der Ton, der milde oder schroffe –
ein Gong wird das Bewußtsein angeschlagen.
Erschüttert kann es nur von Schmerzen sagen,
dem feinen Riß im traumgewebten Stoffe.

Wie eine Scheibe, die des Nachts gefroren,
von kristallinem Flor ward überblendet,
hat das Gedicht den hellen Kelch gespendet,
aus einem zarten Keim der Nacht geboren.

Und keiner weiß, wozu sie uns geschenkt,
die Keime, die zu lichtem Nichts erblühen.
Doch scheint erwacht, dem sie sich eingesenkt,

wenn Stengel durch die Haut des Schlafes dringen
und rings die surrealen Knospen glühen.
Laß, Dichter, sie im Hauch des Liedes schwingen!

 

Okt 5 24

Zuflucht im Verlies

Der Himmel floß wie Dotter weich herab,
er hing noch zitternd auf der Kirchturmspitze,
die Krähe kam, daß sie’s zerhacke, ritze,
des Ungesagten nährend zartes Lab.

Das man zerkocht zu Phrasenbrei, das Wort
trat schäumend vor die gleisnerischen Lippen.
Die Engel flatterten, den Tau zu nippen,
doch riß der Sturm den Kelch des Liedes fort.

Such dir im Schlafe, Dichter, ein Verlies,
dort grabe Korridore, tiefe Gänge,
zu münden in ein dunkles Paradies.

Hier findest du kein Wort, das nicht versehrt,
doch drunten schenken noch die Nachtgesänge,
was grellen Tages Wirrwarr dir verwehrt.

 

Okt 4 24

Der Pfad der Liebenden

So wollen, Liebe, wir wie Schatten gleiten
still über weiche Gräser, taubenetzte,
vergessen, was das scheue Herz verletzte,
wenn unterm Mond sich bleiche Blüten breiten.

Wir lassen von den Worten, die uns blieben,
den Duft nur gelten, trunkner Lippen Beben,
von Strahlen, die aus Dämmerlauben schweben,
die Male, die sie auf die Stirn uns schrieben.

Willst, Dichter, du nach Liebenden noch sehen,
in ihren Atem deinen Vers zu tauchen,
mußt weit du, weiter als ein Pilger gehen,

der seinen Born voll Schaum des Lichtes findet.
Sie träumen, wo Violen Dunkles hauchen
und seufzend Seele sich um Seele windet.

 

Okt 4 24

Verfehltes Treffen

Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 611)

 

Herr Niemand geht auf asphaltiertem Grund,
von kalten Strömen wird sein Herz gesteuert,
daß es kein Übermaß an Sinn befeuert,
der graue Knebel Angst stopft ihm den Mund.

Der Dichter streunt am Uferschilf entlang,
zu schauen, ob im Wasser Blüten glimmen,
er wünscht sich, bis sie dunkeln, mitzuschwimmen,
das wunde Herz betäube Vogelsang.

Was könnten diese beiden sich denn sagen?
Der eine hört Gefasel eines Narren,
nur Töne, die das Glas des Sinns beschlagen.

Der andre hält die Blume Lied vergebens
vor Augen, die ins Blütenlose starren.
Sie fliehen sich, die Linien des Lebens.

 

Okt 3 24

Mäandern

Wenn ich für mich denke ohne ein Buch schreiben zu wollen, so springe ich um das Thema herum; das ist die einzige mir natürliche Denkweise. In einer Reihe gezwungen fortzudenken ist mir eine Qual. Soll ich es nun überhaupt probieren? Ich verschwende unsägliche Mühe auf ein Anordnen der Gedanken, das vielleicht gar keinen Wert hat.

Ludwig Wittgenstein

 

Der Faden war zu dünn, zu heikel: Ich,
die Bilder, Zeichen, Träume aufzureihen.
Wir hatten auch kein Sieb, den Mix zu seihen,
bis alles Trübe vom Geklärten wich.

Und lockte uns erblühter Worte Feld,
trug Flattern blind von einem Duft zum andern.
Wie Ströme, die sich teilen und mäandern,
war uns zu sagen, was ins Offne quellt.

Bevor wir in die Nacht, den Ursprung, münden,
mag sich Gestirn in unserm Liede spiegeln.
Würd es sich auch zum goldnen Ringe ründen,

wir müßten ihn am End vom Finger streifen.
Wir wollen nicht im Schrein des Buchs versiegeln,
was nur in blauer Luft zum Lied kann reifen.

 

Okt 2 24

Überm Abgrund schweben

Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig).

Es steht da – wie unser Leben.

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 559)

 

Wie Kinder, die den glatten Kieselstein
auf Wellen schleudern, daß er schimmernd springe,
sehn wir erregt, ob uns das Spiel gelinge,
das Wort erglänzt im dunklen, stummen Sein.

Wie eine Knospe auf dem Wasser schwebt,
die Sonne weckt sie, Nacht wird sie verschließen,
woher sie kommt, wohin die Wasser fließen,
sie weiß es nicht, weiß nicht, wozu sie lebt.

So schweben überm Abgrund wir dahin.
Was zarte Wurzeln aus dem Dunkel saugen,
nährt heller Blüten ephemeren Sinn.

Nur Rauschen bleibt, was wir von ferne hören,
trübt Mondes Milch das zarte Glas der Augen.
Mag es wie einer Muschel Klang betören.

 

Okt 1 24

Das inkarnierte Wort

Die Philosophen, die glauben, daß man im Denken die Erfahrung gleichsam ausdehnen kann, sollten daran denken, daß man durchs Telefon die Rede, aber nicht die Masern übertragen kann.

Ich kann doch nicht in den Gedanken, durch Worte, eine Voraussicht erschleichen von etwas, was ich nicht kenne.

(Nihil est in intellectu …)

Als könnte ich in den Gedanken gleichsam von hinten herum kommen und einen Blick von etwas erhaschen, was von vorn zu sehen unmöglich ist.

Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 256, 262)

 

Im Feingefühl der Hand, der wachen Haut,
wird uns erhellt, was sonst im Dunkel bliebe.
Taub wär der Geist, wenn er sich wund nicht riebe
am Rätselwort, wie Schnee, der niemals taut.

Wahr wird das Wort, wenn es sich inkarniert.
So muß es auch den Leidensweg beschreiten.
Es kann dem Geiste Nahrung nur bereiten,
wenn es befruchtet wird und Frucht gebiert.

Mit einer Krücke kann ein Greis wohl gehen,
nicht weit, daß er am Abend kehre heim.
Doch lernt das blinde Wort nicht wieder sehen,

ward einmal ihm die Netzhaut abgezogen.
Der Ring des Liedes ist aus Gold, ein Reim,
den heißer Sinn zum Kreise sich gebogen.

 

Okt 1 24

Das verstoßene Wort

Den Kindern hält die arge Welt im Lot
das Singen, Klatschen, Tanzen, Ringelreihen.
Mich schleudert hin und her der Woge Schreien.
ich bin die Gischt, der Schaum, das lecke Boot.

Ins Gruppenphoto hab ich nicht gepaßt,
schief stand ich da wie gegen Sturmes Rasen.
Und reckten keck empor sie ihre Nasen,
hab ich mir ratlos an die Stirn gefaßt.

Wenn sie auf weicher Seufzer Welle gleiten,
die sich in fernem Uferschilf versprüht,
weckt mich aus dumpfem Schlaf ein leises Wimmern.

Es ist das Wort, das ich verstieß vor Zeiten,
da es zu hell im dunklen Vers geblüht.
Das welke nehm ich auf, das blasse Schimmern.

 

Sep 30 24

Löcher im Netz

Ist es also so, daß ich gewisse Autoritäten anerkennen muß, um überhaupt urteilen zu können?

Man könnte Einem, der gegen die zweifellosen Sätze Einwände machen wollte, einfach sagen „Ach, Unsinn!“. Also nicht ihm antworten, sondern ihn zurechtweisen.

Worauf kann ich mich verlassen?

Ich will eigentlich nur sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt „auf etwas verlassen kann“.)

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 493, 495, 508, 509)

 

Nimm an, der Spiegel sei konvex verbogen,
worin man einzig sich zu sehen pflegt –
nie würde der Verdacht in dir erregt,
dein wahres Bild blieb ewig dir entzogen.

Wär es an wenig Stellen leicht gerissen,
das Netz der Sprache, welches dir gespannt –
die Spinne Sinn hat flugs sie überrannt,
was durchgeschlüpft, sie wird es nicht vermissen.

Der Zweifel, der behaucht ihn lang genug,
macht, daß der klare Spiegel dir erblinde.
Und keine Spinne wird es neu dir weben,

hast du zerfetzt das Netz als eitlen Trug.
Schält Irrwitz von der Sprache Stamm die Rinde,
wird Blatt um Blatt der Sinn ins Dunkel schweben.

 

Sep 29 24

Sieh nicht nach vorn

Blickst du zurück, verliert sich deine Spur.
Die Halme, die dein banger Schritt gebogen,
hat hoher Strahl zu sich emporgezogen.
Du bist ein Windstrich, schmal, auf weiter Flur.

Und gehst du nicht allein, ergreif das Glück,
wenn warme Hände sich in deine schmiegen,
dich Worte, zart gehaucht, in Träume wiegen.
Einmal verscheucht, kehrt Anmut nicht zurück.

Sieh nicht nach vorn, denn dort erschauern schon
vorm Abendrot die müd geweinten Blüten.
Häuf, wenn es dunkelt, Sonnenmoos zum Bette.

Verblaßt der Mond, die weiße Knospe Mohn,
schau trunkner Liebe Stern, den bald verglühten.
Kein Fittich schwingt, der uns vorm Abgrund rette.

 

Sep 29 24

Gewundene Pfade

What’s ragged should be left ragged.

(Was zerzaust ist, soll man nicht glätten.)

Ludwig Wittgenstein

 

Man rutscht auf allzu glatt gewachsten Dielen,
und ohne Reibung haften keine Worte.
Ins Offne gehen wir aus enger Pforte,
wo Knospen zittern über zarten Stielen.

Die Rätselsätze schlängeln sich wie Pfade
um Monolithen, die im Frühlicht blauen,
im Dämmer scheinen sie wie Schnee zu tauen.
Gewundene Pfade werden nicht mehr grade.

Den Sinn, zerzaust wie ungepflegte Haare,
kann glatt kein goldner Kamm uns striegeln.
Wir bringen ihn, ein Inbild unsres Seins,

nicht unverkürzt ins transparente Wahre,
womit Gewitzte ihren Gang besiegeln.
Auch Wandrer Hermes ist ein Gott des Scheins.

 

Sep 28 24

Der Weg des Denkens

Ich will den Menschen hier als Tier betrachten; als ein primitives Wesen. Dem man zwar Instinkt, aber nicht Raisonnement zutraut. Als ein Wesen in einem primitiven Zustande. Denn welche Logik für ein primitives Verständigungsmittel genügt, deren brauchen wir uns auch nicht zu schämen. Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen.

„So muß man also wissen, daß die Gegenstände existieren, deren Namen man durch eine hinweisende Erklärung einem Kind beibringt?“ – Warum muß man’s wissen? Ist es nicht genug, daß Erfahrung später nicht das Gegenteil erweise?
Warum soll denn das Sprachspiel auf Wissen beruhen?

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 475, 477)

 

Uns führt der Weg des Denkens nicht ins Licht,
worin die Wesen klar umrissen scheinen.
Kein innres Auge strahlt, sie wahr zu meinen,
und Schatten wandern über ihr Gesicht.

Wir haben uns das Wort nicht ausgedacht,
ein Stab ward es zu regem Gang empfangen.
Doch die mit ihm zum Gipfelschnee gelangen,
verstummen angesichts der hohen Pracht.

Der Weg des Denkens führt zu keinem Ende.
Wie Atemholen, flach manchmal, dann tief,
hat er kein Ziel, wo man die Lösung fände.

Kann Platons Sonne auch nicht mehr erhellen,
was aus dem Abgrund uns ins Dasein rief,
noch schimmern in der Nacht Gesanges Quellen.

 

Sep 28 24

Wesen ohne Halt

Die Blätter, Blüten zittern, lassen los,
sie mochten länger in der Sonne bleiben,
nun taumeln sie, im Dunst des Herbsts zu treiben.
Wie ist die Hoffnung leicht, die Schwermut groß.

Sie haben sich, wie Wesen ohne Halt,
dem rauhen Spiel des Herbstwinds rasch ergeben,
die ausgerauscht, verhaucht ein stilles Leben,
verloren, was sie hielt, die Wohlgestalt.

Gehst einsam, Dichter, du durch dürre Auen,
wie suchst umsonst die Blicke du, die feuchten,
von Veilchen, die wie Reime nächtlich blauen.

Erloschen sind die Quellen, sind verstummt,
die unter Dämmerlauben silbern leuchten.
Ein Seufzen dunkelt, wo das Licht gesummt.

 

Sep 27 24

Die große Jahrmarktslotterie

Wie, wenn etwas wirklich Unerhörtes geschähe? Wenn ich etwa sähe, wie Häuser sich nach und nach und ohne offenbare Ursache in Dampf verwandelten; wenn das Vieh auf der Wiese auf den Köpfen stünde, lachte und verständliche Worte redete; wenn Bäume sich nach und nach in Menschen und Menschen in Bäume verwandelten. Hatte ich nun recht, als ich vor allen diesen Geschehnissen sagte ›Ich weiß, daß das ein Haus ist‹ etc., oder einfach ›Das ist ein Haus‹ etc.?

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 513)

Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.

Angelus Silesius

 

Bei dieser großen Jahrmarktslotterie
sind alle angepriesenen Lose Nieten.
Als wären Gaukler, die sie an uns bieten,
wir aber Opfer einer Sinnmanie.

Wer „Heureka!“ hier plötzlich schreit,
hat sich nur selber oder uns betrogen.
Ins Nichts zerrinnt nach kurzem Schein der Bogen,
wir bleiben, was wir sind, dem Tod geweiht.

Betrogen sind, die Sinn im Ursprung suchen,
Betrüger, die ihn aus dem Ärmel ziehen,
er bröckelt schon, wenn sie den Preis verbuchen.

Steh ungerührt am Rand, bezeug es Dichter,
was du geschaut: Vorm eignen Schatten fliehen,
die selbst sich Leuchten dünken, kleine Lichter.

 

Sep 26 24

Der Grund hat keinen Grund

Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.

Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube.

Wenn ich will, daß die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen.

Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 166, 253, 343)

 

Der Grund, worauf wir stehn, hat keinen Grund,
doch trägt er uns, wenn wir ihn nicht befragen.
Daß nicht das Mark der Sprache sie zernagen,
verstopft das Rätsel bald der Schwätzer Mund.

Uns trägt ein Strom, wir wissen nicht woher,
nicht, ob er bald versickert oder mündet,
ob sich des Lebens Linie einmal ründet,
das Boot voll goldner Fracht ist oder leer.

Du kannst die Blüte Vers nur sachte betten
auf weicher Wasser unentwegtes Fließen,
sie, Dichter, nicht vor dem Verblassen retten.

Du hoffst, an fernen Ufern blieben stehen,
die ihren süßen Schimmer noch genießen
und mit dem Bild der Anmut heimwärts gehen.

 

Sep 26 24

Das dunkle Haus

Die Wände haben alles aufgesogen,
Gebete, Flüche, Seufzer, die erstarben,
die feinen Risse sind wie alte Narben,
vom Wehen- und vom Todeskrampf gezogen.

Und nachts wirst du von Träumen überfallen,
in denen Kinder ängstlich vor dir flehen,
mit ihnen aus dem dunklen Haus zu gehen
ins süße Licht, das Lied der Nachtigallen.

Es fehlt dem Haus, das du bewohnst, der Segen,
und was vor Zeiten hier gedacht, erlitten,
dringt wie ein Moderduft dir noch entgegen

aus jeder Ritze, jeder Vorhangfalte –
vergebens, Rosenwasser auszuschütten.
Der Schrei nach Liebe war’s, der hier verhallte.

 

Sep 25 24

Die eigne Stimme fremd

Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.

Ludwig Wittgenstein

 

Er wittert schon, der Hund, was wir kaum fühlen,
er spitzt die Ohren, pocht das Herz zu laut.
Die junger Sehnsucht Blattgerank zerwühlen,
mit solchen Stürmen ist er nicht vertraut.

Die Worte mit den sanft geschwungnen Schleifen,
die einst halb offnen Munds dir Liebe schrieb,
nun kannst du ihren Sinn nicht mehr begreifen,
als ob die Blüten Wüstenwind zerrieb.

Bisweilen klingt die eigne Stimme fremd
wie Rufe, die aus Brunnen widerhallen,
wird klarer Sinn von Rätseln überschwemmt.

Wenn Worte, nachts gehaucht von Lippen, weichen,
bei Tag dich ritzen wie mit scharfen Krallen,
scheint, die du liebst, Mänaden fast zu gleichen.

 

Sep 25 24

Was bleibt

Ich gehe durch die herbstliche Allee
und höre, wie im Sturm die Zweige stöhnen.
Ich konnte mich des Sommers kaum entwöhnen,
doch liegt auf meinem Herzen schon der Schnee.

Ich sitze auf dem moosbedeckten Stein
und sehe, wie im Tal die Wellen grauen.
Und denke jäh ich an den Blick, den blauen,
erlischt er schon, ein gleisnerischer Schein.

Ich liege wach in einem dunklen Zimmer
und fühle, wie die Nacht das Bild zerstückt,
das Spiegelbild, in tausend blinde Schimmer.

Von all den Reimen, leuchtend schönen Blumen,
die ich auf heimatlicher Au gepflückt,
bleibt nur ein schwarzes Häuflein stummer Krumen.

 

Sep 24 24

Vom grauen Star der Theorie genesen

Ich verstehe sie nicht, aber ihr Ton beglückt mich.

Ludwig Wittgenstein (über die Gedichte von Georg Trakl)

 

Was uns beglückt, wir müssen’s nicht verstehen.
Reißt Bruckner uns auch hoch, in welch ein Blau,
weiß niemand, und es wird uns wunders flau,
als würden wir auf schroffen Graten gehen.

Sie fliehen hin, die Linien des Lebens,
sagt uns der Seher, der am Fenster stand,
doch sind sie nicht wie Falten einer Hand –
die Rätselschrift, wir deuten sie vergebens.

Der Denker hat die Richtung umgekehrt,
hat kreuz und quer, von rechts nach links gelesen,
bis sich der Sinn der Worte so vermehrt,

daß sie in zarte Büschel ihm zerfielen.
Vom grauen Star der Theorie genesen,
kannst, Dichter, du frei mit den Zeichen spielen.

 

Sep 24 24

Der Verse milde Sonnen

Gleichgültig, wer um wen mag kreisen,
doch nicht, wer wem die Sonne ist, die wärmt,
wer, wenn sie untergeht, sich sehnt und härmt,
ihr, bis sie wieder scheine, nach will reisen.

Daß auch der Strahl, dem sich erwachte Rosen
entgegenrecken, herrlich aufgetan,
sich daran freue, scheint ein frommer Wahn,
er, Sohn der Weltennacht, der blütenlosen.

Daß, Dichter, deiner Verse milde Sonnen,
wenn unsre Herzen sie aus Träumen, grauen,
und sanft erwecken uns aus stummen Qualen,

sich selber fühlen wie an Edens Bronnen
verzückte Augen, feucht vom Glanz, dem blauen,
und wenn wir blühen, inniger noch strahlen.

 

Sep 23 24

Schatten, die vorüberziehen

Wir lassen sie vorüberziehen, Schatten,
und die sie werfen, Wolken – fragen nicht,
wie lang es währt, das trügerische Licht,
bis es im Laub des Dämmers mag ermatten.

Wir wollen nicht mehr nach der Quelle sehen,
die heiß entquillt ins dichterische Wort,
uns reißt der Strom, ein kaltes Rauschen, fort
in Meere, wo die Bilder untergehen.

Laß, Dichter, laß die blassen Blüten treiben,
auf des Erinnerns weichen Wellen schwanken,
sie können wie die Liebe ja nicht bleiben.

Wie sich die Knospen unterm Mond verschließen,
die an der Verse zartem Gitter ranken.
Wie jäh die Tropfen in das Dunkel fließen.

 

Sep 22 24

Das entschlafene Wort

Es hat das Wort, dem Aug der Liebe gleich,
im Schnee des Monds die Lider bang geschlossen.
Der Glanz der Träne ist im Schlaf geflossen,
da ihm geträumt von Südens Gartenreich.

Schlaf, schlafe, Flocken taumeln blind herab,
schon schimmern hell aus dunklen Laubes Beben
die Flügel eines Engels, der ergeben
die Stille hütet am vergessnen Grab.

Es taut der Schnee, der auf das Grab gefallen,
das Abendrot durchglüht ein junges Laub.
Im Lied zerfließt das Herz der Nachtigallen,

doch nicht, daß sie das Dichterwort erweckten,
als wär entschlafen es im Silberstaub,
aus dem sich kahler Stoppeln Finger reckten.

 

Sep 21 24

Die Heimkehr des Worts

Das Bewußtsein in des Andern Gesicht. Schau ins Gesicht des Andern, und sieh das Bewußtsein in ihm und einen bestimmten Bewußtseinston. Du siehst auf ihm, in ihm, Freude, Gleichgültigkeit, Interesse, Rührung, Dumpfheit u.s.f. Das Licht im Gesicht des Andern.

Schaust du in dich, um den Grimm in seinem Gesicht zu erkennen? Er ist dort so deutlich wie in deiner eigenen Brust.

(Und was will man nun sagen? Daß das Gesicht des Andern mich zur Nachahmung anregt, und daß ich also kleine Bewegungen und Muskelspannungen im eigenen empfinde und die Summe dieser meine? Unsinn. Unsinn, – denn du machst Annahmen statt bloß zu beschreiben. Wem hier Erklärungen im Kopf spuken, der vernachlässigt es, sich auf die wichtigsten Tatsachen zu besinnen.)

Das Bewußtsein ist so deutlich in seinem Gesicht und Benehmen, wie in mir selbst.

Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 220, 221)

 

Bewußtsein sehen wir – nicht im Gehirne,
es leuchtet auf in jemandes Gesicht,
des Lächelns sanftes, Staunens jähes Licht,
es glimmt um eine geistbehauchte Stirne.

Daß einer trauert, kannst du nicht erschließen,
vielleicht trägt er aus Pflichtgefühl das Band,
du siehst es aber, zittert seine Hand,
hält er das Bild, und stille Tränen fließen.

Den Abgrund zwischen Leib und Geist vermeiden,
die im Gesicht den Seelenausdruck lesen,
den Kern nicht von der äußern Hülle scheiden.

Es kehrt das Wort, das dichterische, heim,
das deutungslos im Schattenland gewesen.
Im Laub des Sinnes glüht die Frucht, der Reim.

 

Sep 21 24

Erloschen sind die Flammen

Am unorganischen Maschinentakt
verkrüppeln Rhythmen, stocken Melodien,
die Flüssen gleich zu fernen Meeren ziehen.
Wie ward der Anmut holder Vers zerhackt.

Begradigt ist der Pfad und asphaltiert,
der sich elegisch durch das Ried geschwungen,
wo du einst, Liebe, vor dich hin gesungen.
Wie öd der Mond auf tote Bleche stiert.

Erloschen sind die Flammen in dem Herde,
die uns die Wärme dunklen Fühlens gaben.
O Blick der Güte, lächelnde Gebärde,

da, Dichter, du das Brot des Worts, das reine,
uns ausgeteilt, daß Müde sich erlaben.
Wie unterm Aschenruß es ward zum Steine.

 

Sep 20 24

Der Götze der Vulgären

Des Demos Macht, o Götze der Vulgären,
im Wahn, sie seien gleichen Rangs geboren,
ging aller Sinn für Höheres verloren.
Wie sie nach warmem Urschleim sich verzehren.

Sie frösteln schon, wenn ihnen kühle Lüfte
die Botschaft von den Lichtkristallen bringen,
die um den Grat der Einsamkeiten schwingen.
Sie würgen unterm Odem reiner Düfte.

Ihr Geist vom Grau unschöpferischer Massen
schminkt grell sich mit der Welterrettungslüge
vom Heil des Volkes im Gemisch der Rassen,

vom Gras, das sprießt, wenn sie die Lilien knicken.
Damit das Wort sich ihrem Wahne füge,
sollst, Dichter, du den Kot mit Blüten schmücken.

 

Sep 20 24

Ratlos vor der Kröte

Ein Quaken gluckst aus Bäuchen, lüstern-fetten,
der volle Mond droht, feucht und angeschwollen,
demnächst zu platzen, rosa Wölkchen rollen
heran, ihn vor dem Suizid zu retten.

Doch unten bläht sich der Gesang noch breiter,
bis endlich sie ins Wasser klatscht, die Kröte,
ihr nach, daß man die Kühnheit überböte,
die zweite, dritte, vierte und so weiter.

Da siehst du endlich eins am andern schleimen,
stets hockt der Schmalhans auf der Dick-Madame.
„Mußt, Dichter, du es denn auf Liebe reimen,

wenn sommernachts aufs Silberkleid der Weiden
am Teichrand spritzt des braunen Triebes Schlamm?“
„Wie sie in diesem Zwielicht unterscheiden?“

 

Sep 19 24

Mit fremden Stimmen

Wenn Einer sagt „Ich habe einen Körper“, so kann man ihn fragen „Und wer spricht hier mit diesem Munde?“

Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit (Nr. 244)

 

Daß eine Seele spricht, die fern geweilt
bei Göttern, und dies nun vergessen habe,
im Menschenleib zu hausen wie im Grabe,
hat Orpheus ichblind Platon mitgeteilt.

Doch ist, wer spricht, nicht eine Puppe nur,
die zappelt an gereizten Nervenbahnen,
kein Wiedergänger der verblichnen Ahnen,
schlafwandelnd an der Gene langer Schnur.

Und manchmal, Dichter, brennt auf deiner Zunge
ein Feuer, das mit fremden Stimmen singt,
es fließt der Atem aus azurner Lunge,

der Verse in das Dunkel sprüht, Kometen,
daß wir nicht wissen, wer die Botschaft bringt,
der Mund der Muse oder des Poeten.

 

Sep 18 24

Edler Wein und fader Fusel

Daß zwischen Wort und Wort ein Rätsel gärt,
der Dichter, zwielichtbang, er darf es sagen.
Die es mit Lärm und grellem Strahl verjagen,
verstümmeln sich die Wurzel, die sie nährt.

Die Rebe grünt, wo graue Öde war,
im Laubendämmer glühen Traubensonnen.
Gold ist in einen irdnen Krug geronnen,
das Erdennacht und Himmelslicht gebar.

Der Sinn der Worte ward von uns empfangen,
ein edler Wein, gekeltert von den Vätern,
der ihre Zunge löste und sie sangen.

Gepantschter Fusel schmeckt nur fad und seicht.
Dionysos rächt sich an den Verrätern,
die Zungen lallen und der Rhythmus schleicht.

 

Sep 17 24

Das Fenster Sprache

Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.

Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen.

Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.

Wer keiner Tatsache gewiß ist, der kann auch des Sinnes seiner Worte nicht gewiß sein.

Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.

Wenn mich ein Blinder fragte „Hast du zwei Hände?“, so würde ich mich nicht durch Hinschauen davon vergewissern. Ja, ich weiß nicht, ob ich meinen Augen trauen sollte, wenn ich überhaupt dran zweifelte. Ja, warum soll ich nicht meine Augen damit prüfen, daß ich schaue, ob ich beide Hände sehe? Was ist wodurch zu prüfen?! (Wer entscheidet darüber, was feststeht?)

Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit (Nr. 94, 95, 97, 114, 115, 125)

 

Der Tag bricht an, ich sag, die Blumen sind
viel farbenreicher als beim Kerzenscheine.
Doch fragst du mich, was ich mit Farbe meine,
vermute ich, du seist bedeutungsblind.

Du magst wohl schreien, dies sei deine Hand,
hab ich sie eingequetscht dir aus Versehen.
„Reich mir die Hand!“ heißt nicht, erst nachzusehen,
ob sie vorhanden, ist man bei Verstand.

Du kannst zugleich nicht beides überprüfen,
den Maßstab und was du dran mißt, die Dinge,
sonst taumelst du im Zwielicht leerer Tiefen.

Wir müssen mit Bedacht die Angeln eichen,
damit das alte Fenster auf sich schwinge
und uns die milden Strahlen noch erreichen.

 

Sep 17 24

Grille in der Herbstnacht

Es scheint wie Schluchzen nur, halb schon im Schlaf,
steigt flehend an und bricht in sich zusammen.
So züngeln eines kurzen Lebens Flammen
und flackern, wenn ein feuchter Hauch sie traf.

Wie anders war es in der Sommernacht,
da ihre Flügel aneinanderschlugen,
des Daseins hellen Ruf ins Dunkel trugen,
als rühme sie der Schöpfung hohe Pracht.

Wie bang im Nachttau kleine Kerzen zittern,
die Angedenken vor das Mal gerückt,
wo unterm Moos die Namen schon verwittern.

Auch dir scheint, Dichter, Schluchzen nur geblieben.
Ward Mundes Blume, die uns einst entzückt,
vom Ächzen schwarzen Windes denn zerrieben?

 

Sep 16 24

Die ausgerissenen Fäden

Tradition ist nichts, was Einer lernen kann, ist nicht ein Faden, den einer aufnehmen kann, wenn es ihm gefällt; so wenig, wie es möglich ist, sich die eigenen Ahnen auszusuchen.
Wer eine Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklich Verliebter.

Ludwig Wittgenstein

 

Du kannst die eigne Sprache nicht erfinden,
die mütterlich im Wiegenliede floß.
Sie ist der Erde und des Himmels Sproß,
der sich am Stab des Geists empor muß winden.

Die Quelle, halb verschüttet, schluchzt vergebens
nach ihrem Bruder, dem berühmten Strom.
Der Schmerz im Glied, das fehlt, scheint ein Phantom,
doch er bezeugt das volle Maß des Lebens.

Verwirrte wähnen sich der Sprache Herren
und reißen Fäden aus dem edlen Teppich,
bis sich die schönen Muster wild verzerren.

Flicht scheu nur, Dichter, Purpur von Exoten
zum heimatlichen Kranz von Lauch und Eppich,
beschäme blasse Wangen nicht mit roten.

 

Sep 15 24

Das helle Lied

Dem Kinde gleich, verirrt im dunklen Wald,
den eignen Namen hat es schon vergessen,
ist unser Geist von einem Schaum zerfressen,
gequollen aus der Tiefe, schwarz und kalt.

Wie eine Maus, die aus dem Dickicht kroch,
schon fiept sie leise in der Eule Krallen,
ward unser Herz vom Dämon überfallen,
der sich verbarg in einer Wunde Loch.

Daß uns doch, Dichter, orphisch-rettend töne
dein helles Lied, wenn wir im Finstern gehen,
das kranke Herz sich mit dem Geist versöhne,

die Kreatur sich berge noch, die bange,
dem stummen Schmerze süße Namen wehen.
Daß sich der Dämon füge dem Gesange.

 

Sep 14 24

Sonett des Unglücklichen

Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.

Ludwig Wittgenstein

 

Im hellen Licht verfolgen mich die Schatten,
und in der Nacht bohrt sich der Mond ein Loch
durch all die Decken, wo ich mich verkroch.
Mein Tag ist Nacht, mein Schlaf im Traum ermatten.

Die Worte, die mir gelten, sind wie Mücken,
sie zittern schon im Netz, das sich gewebt
die Spinne Angst, sie eilt, wenn es erbebt,
das warme Herz des Sinnes zu zerstücken.

Kannst, Dichter, du nicht einen Trank mir spenden,
den aus dem Gold der Trauben du gepreßt,
gepflückt von deiner Muse holden Händen,

den Wein, der mir die Flammen löscht, die dunkeln,
im Rausch mich Liebesblicke fühlen läßt,
wo Sterne aus dem kalten Abgrund funkeln?

 

Sep 13 24

Verbirg dich

Gemeine Seele, freigelassen, rast,
ist’s eine Meute, hörst du voll Entsetzen
sie heulend bald ein scheues Leben hetzen,
das demutstumm auf Gottes Au gegrast.

Hat Schlauheit sich dem niedern Trieb geweiht,
wird sie mit Öl und Gas ihn stimulieren,
im leeren Rausch der Kraft sich zu verlieren,
wenn unter ihm der heiße Motor schreit.

Verbirg dich, Dichter, gut in Laubes Schatten,
die klaren Versen, nährt sie Tau, entsprießen.
Die Rasenden, sie werden bald ermatten,

in Wüsten stottern tot sich die Maschinen,
wenn deine weichen Wasser weiterfließen
und deine Reime summen, goldne Bienen.

 

Sep 12 24

Daß nie der Schmerz erwacht

Wir sahen fern den Strom im Abend blassen.
Wie Wolkenkissen auf sich bauschten, weiche,
war uns, als ob der junge Mond erbleiche
vorm Kreuz des Wingerts, der längst aufgelassen.

Wir hörten bang die Süße späten Sanges
in Efeudämmerung herniedertropfen.
Uns war, als würden müde Pilger klopfen
ans Tor des schon verfallnen Wandelganges.

Und als der kalte Schwamm der Finsternis
die Bilder ausgewischt, die uns erwärmten,
quoll nur noch Seufzen aus dem tiefen Riß,

der durch das mürbe Mark der Sprache lief.
Daß wir mit Liedern nicht um Blüten schwärmten,
daß nie der Schmerz erwacht, weil Liebe rief.

 

Sep 11 24

Die Haut der Sprache juckt

Die Philosophie hat keinen Fortschritt gemacht? – Wenn Einer kratzt, wo es ihn juckt, muß ein Fortschritt zu sehen sein? Ist es sonst kein echtes Kratzen, oder kein echtes Jucken? Und kann nicht diese Reaktion auf die Reizung lange Zeit so weitergehen, ehe ein Mittel gegen das Jucken gefunden wird?

Ludwig Wittgenstein

 

Es ist die Haut der Sprache, was da juckt,
als würde ihre Poren Talg verstopfen,
und Wort um Wort gerinnt zu trüben Pfropfen,
bis lichter Sinn vom Unsinn ward verschluckt.

Es gibt kein Mittel, das die Reizung hemmt,
und wenn wir kratzen, wird es nur noch schlimmer.
Der Seele bleibt nur kindliches Gewimmer,
fühlt sie im Leib, dem eigenen, sich fremd.

Die vielgerühmten Therapien trogen,
man machte unser Selbstempfinden taub
und hat die kranke Haut dann abgezogen.

Kannst, Dichter, du noch einen Ausweg zeigen?
„Gib hin dich wie dem Wind das weiche Laub
dem Rauschen über abgrundtiefem Schweigen.“

 

Sep 11 24

Der Kleingeist

Eine Zeit mißversteht die andere; und eine kleine Zeit mißversteht alle andern in ihrer eigenen häßlichen Weise.

Ludwig Wittgenstein

 

Den Argwohn wurmt am Stolz der Indigenen,
die lächelt und im Haar gar Blüten trägt,
wie kleines Dasein große Seelen prägt,
die sich im Zweifelsfall an Rosen lehnen.

Den Kleingeist muß ein blonder Held empören,
der um ein kurzes, hohes Leben bat.
Der Siechende spuckt auf das Inkarnat
der Götter, die mit feuchtem Glanz betören.

Den Haß auf Größe wirst du immer finden
bei Gnomen. Abscheu vor dem Schöpferlicht
wird Monstren zeugen unter geistig Blinden.

Die Parasiten, die am Erbe nagen,
bereiten sich ihr eigenes Gericht.
Kein Epos wird den Untergang beklagen.

 

Sep 10 24

Der gelöste Knoten

Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unsrer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.) Der Widerstreit wird unerträglich; die Forderung droht nun zu etwas Leerem zu werden. – Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!

Das Vorurteil der Kristallreinheit kann nur so beseitigt werden, daß wir unsere ganze Betrachtung drehen.

Warum ist die Philosophie so kompliziert? Sie sollte doch ganz einfach sein. – Die Philosophie löst die Knoten in unserem Denken auf, die wir unsinnigerweise hineingemacht haben; dazu muss sie aber ebenso komplizierte Bewegungen machen, wie diese Knoten sind. Obwohl also das Resultat der Philosophie einfach ist, kann es nicht ihre Methode sein, dazu zu gelangen. 

Die Komplexität der Philosophie ist nicht die ihrer Materie, sondern die unseres verknoteten Verstandes.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Licht hat sich an Säulen aufgestaut.
Die Schatten, die sie werfen, aber wandern.
Des Lebens grüne Lieder, sie mäandern,
wenn kristalliner Sinn in Reimen taut.

Behutsam hat den Knoten aufgelöst,
worin des Lichtes Fäden sich verschlungen,
ein leiser Sang, im Abendrot gesungen,
vom dunklen Duft der Rosen eingeflößt.

Die sich an Krücken des Begriffes schleppen,
vernehmen einen Ruf: „Laßt sie nur fahren!“
Sie schreiten barfuß auf bemoosten Treppen

zur freien Aussicht von den Rebenhängen.
Sie sagen, was sie sehn, mit Worten, klaren,
und keins verirrt sich noch in Rätselgängen.

 

Sep 10 24

Die Saat des Abendlandes

Wenn das Christentum die Wahrheit ist, dann ist alle Philosophie darüber falsch.

Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Kloster war die Saat des Abendlandes,
die Heiligung des Tages im Gebet,
damit des Herzens Unruh werde stet,
des Lebens Uhr sei Rieseln goldnen Sandes.

Die gleichen Hände sollen Unkraut rupfen,
damit die Saat der Hoffnung neu ergrünt,
daß Demut einem hohen Lichte dient,
die Chiffren auf die keuschen Blätter tupfen.

Doch jene Stille, trunkner Seele Krug,
hat wilden Schreis Barbarenfaust zertrümmert.
Wo der Gesang gab süßen Tranks genug,

hat man die Quelle mit Asphalt gefüllt.
Die jungfräulichen Lilien sind verkümmert,
brach liegt der Garten, fernen Edens Bild.

 

Sep 9 24

Der große Strom

Dieses Buch ist für solche geschrieben, die seinem Geist freundlich gegenüberstehen. Dieser Geist ist ein anderer als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation, in dem wir alle stehen. Dieser äußert sich in einem Fortschritt, in einem Bauen immer größerer und komplizierterer Strukturen, jener andere in einem Streben nach Klarheit und Durchsichtigkeit welcher Strukturen immer. Dieser will die Welt durch ihre Peripherie – in ihrer Mannigfaltigkeit – erfassen, jener in ihrem Zentrum – ihrem Wesen. Daher reiht dieser ein Gebilde an das andere, steigt quasi von Stufe zu Stufe immer weiter, während jener dort bleibt, wo er ist, und immer dasselbe erfassen will. (Philosophische Bemerkungen, Vorwort)

Ludwig Wittgenstein

 

Unruhe strebt vom Zentrum in die Weite.
Es nimmt am Grenzenlosen blindlings Maß,
wer eigner Herkunft Bild und Grund vergaß,
als ob zum Katarakt die Argo gleite.

Sie reißen Wurzeln aus gleich den Titanen,
errichten Türme bis zum Himmelszelt,
und dem Zement, auf daß er ewig hält,
vermengen sie die Knochen ihrer Ahnen.

Du aber sitzt am großen Strom, zu schauen,
wie trübe wird, voll Schlamm die träge Flut,
daß Sonnentages Bilder rasch ergrauen.

Auch Goethes Mond kann dich nicht mehr erweichen,
im Lied zu sagen, hier zu sein war gut,
siehst, Dichter, du im Strom sie treiben: Leichen.

 

Sep 8 24

Sprachspiel

In einer Konversation: Einer wirft einen Ball; der Andre weiß nicht: soll er ihn zurückwerfen, oder einem Dritten zuwerfen, oder liegenlassen, oder aufheben und in die Tasche stecken, etc.

Wie ist es, wenn Leute nicht den gleichen Sinn für Humor haben? Sie reagieren nicht richtig auf einander. Es ist, als wäre es unter gewissen Menschen Sitte, einem Andern einen Ball zuzuwerfen, welcher ihn auffangen und zurückwerfen soll; aber gewisse Leute würfen ihn nicht zurück, sondern steckten ihn in die Tasche.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Wort, den Ball gilt’s nicht zu apportieren,
wie es der Hund, treu und beflissen, tut.
Das Spiel der Sprache sprüht, verlischt wie Glut.
Den Ball, den einer warf, wird er verlieren,

wenn ihn der andre nicht zurück mag geben:
Der wirft ihn einer holden Schönen zu.
Der Erste geht, läßt Liebende in Ruh,
die Wurf um Wurf einander höher heben.

Du kannst nicht jedem Spieler gleich vertrauen.
Die Arglist wirft den Ball, den sie gefangen,
ins Dickicht, wo ihn niemand wiederfindet.

Von dem am Helikon die Musen sangen,
den Ball mag dreist ein Epigone klauen,
daß er aus mattem Vers ein Truglicht schindet.

 

Sep 8 24

Gedämpften Tons

Für den Menschen ist das Ewige, Wichtige, oft durch einen undurchdringlichen Schleier verdeckt. Er weiß: da drunten ist etwas, aber er sieht es nicht. Der Schleier reflektiert das Tageslicht.

Ludwig Wittgenstein

 

Das Pathos edler Phrasen wirkte hohl,
als würde plötzlich eine Wunde nässen,
die unter dem Verband man fast vergessen,
und alles, was nicht heilt, wär nun frivol.

Des Lichtes Fäden scheinen blind verstrickt
in einen Knäuel, der nicht zu entwirren,
und, wie Insekten in ein Spinnweb, schwirren
die Worte in den Schleier, der erstickt.

So dämpfe, wenn es dämmert, deinen Ton,
damit die tiefen Seufzer aufwärts quillen,
die, Dichter, dir vertraut, des Orpheus Sohn.

An Reimen, die wie blaue Falter glommen,
mag ihren Durst die alte Spinne stillen,
freu dich des kleinen Käfers, der entkommen.

 

Sep 7 24

Letzte Auskünfte

Ich schreibe beinahe immer Selbstgespräche …

Mein eigenes Denken über Kunst und Werte ist weit desillusionierter, als das der Menschen vor hundert Jahren sein konnte. Und doch heißt das nicht, daß es deswegen richtiger ist. Es heißt nur, daß im Vordergrund meines Geistes Untergänge sind, die nicht im Vordergrund jener waren.

Ludwig Wittgenstein

 

„Sag: Welche Freuden sind es, die dir blieben?“
„Die Körner auszustreuen, wenn es tagt,
daß mir ein schönes Turteltäubchen sagt,
auch wunde Seelen sind geneigt zu lieben.“

„Und welchen Kummer hast du zu verwinden?“
„Daß allzu früh die Blume mir verblich,
die Iris meines traumverlornen Ich
mußt allzu früh am Schnee des Schlafs erblinden.“

„Sind Worte noch, dich Taumelnden zu halten?“
„Nicht Worte sind’s, nur abschiedssanftes Schauern
von Blättern, die sich keusch um Strahlen falten,

wenn sie vom bleichen Mond des Abgrunds fließen,
des Efeus Flüstern an den hohen Mauern,
die sich um meiner Kindheit Garten schließen.“

 

Sep 6 24

Der schmale Grat

Der ehrliche religiöse Denker ist wie ein Seiltänzer. Er geht, dem Anscheine nach, beinahe nur auf der Luft.
Sein Boden ist der schmalste, der sich denken läßt. Und doch läßt sich auf ihm wirklich gehen.

Ludwig Wittgenstein

 

Der Pfad der dürren Gräser, plattgetreten,
hat uns zum stillen Haine nicht gebracht,
daß dort, von Gottes hohem Strahl entfacht,
wie Flammen wir mit ganzem Leibe beten.

Auf Märkten, wo gepeitschte Puppen schreien
um Paradiese ohne Not und Tod,
sehnt sich das Herz, von Nacht und Wahn bedroht,
nach Stimmen, die ihm Licht ins Dunkel schneien.

Der Weg hat dich dem Lärm des Tals entrückt
zum schmalen Grat, dem Abgrund leiser Schauer,
wo, Dichter, dich der Enzian entzückt.

Bring uns den Duft in unser Krankenzimmer,
daß wir des Tags gedenken ohne Trauer,
leg auf das Kissen uns den blauen Schimmer.

 

Sep 5 24

Die abschüssige Bahn

„Die Tücke des Objekts.“ – Ein unnötiger Anthropomorphismus. Man könnte von einer Tücke der Welt reden; sich leicht vorstellen, der Teufel habe die Welt geschaffen, oder einen Teil von ihr. Und es ist nicht nötig, ein Eingreifen des Dämons von Fall zu Fall sich vorzustellen; es kann alles „den Naturgesetzen entsprechend“ vor sich gehen; es ist dann eben der ganze Plan von vornherein aufs Schlimme angelegt. Der Mensch aber befindet sich in dieser Welt, in der die Dinge zerbrechen, rutschen, alles mögliche Unheil anstiften. Und er ist natürlich eins von den Dingen. – Die „Tücke des Objekts“ ist ein dummer Anthropomorphismus. Denn die Wahrheit ist viel ernster als diese Fiktion.

Ludwig Wittgenstein

 

Gott scheint nur eine schwache Gegenmacht,
wie jenes Sternbild über schwarzen Hängen,
das sie eratmen ließ in süßen Sängen,
die Hirten in der einen Wundernacht.

Dann ragte schon das Kreuz auf Golgotha,
und der gesegnet hatte, war verlassen.
Wie deine Lilien, Schmerzensmutter, blassen,
wie der Verneiner überschreit dein Ja.

Nach holden Händen greifen wir vergebens,
denn keines kann am anderen sich halten,
abschüssig ist die Bahn des dunklen Lebens.

Gesanges Rosen, dämmerfeuchte Gluten,
verlöschen unterm Aug der Angst, dem kalten.
O Dorn der Liebe, daß wir still verbluten.

 

Sep 4 24

Birg dich im Abseits

Wo Andre weitergehn, dort bleib ich stehn.

Ludwig Wittgenstein

 

Mit dunklem Schwirren scheucht er auf die Herde,
zum Abgrund stößt der Schatten eines Aars.
Wir baumeln, Puppen einer schrillen Farce,
im Bodenlosen über Gottes Erde.

Schlafwandler sind, die über Schädel schreiten,
fern lockt ein Girren, lockt Sirenensang,
zu lösen sie von harter Strahlen Zwang,
wach erst, da sich im Sturz die Augen weiten.

Birg, Dichter, dich im Abseits zwischen Halmen,
wo in der fremden Nacht das Heimchen zirpt.
Die Sonne übertönt die Angst mit Psalmen,

wenn aus den Gärten heiße Rufe steigen
und kleines Dasein um das große wirbt.
Die stille Mitte sei im trunknen Reigen.

 

Sep 3 24

Die Falten des Herzens

Die Falten meines Herzens wollen immer zusammenkleben, und um es zu öffnen, müßte ich sie immer wieder auseinanderreißen.

Ludwig Wittgenstein

 

Die in der Sommernacht am Fenster stehen,
als habe aufgestoßen es ein Strahl
des Mondes, fühlen aus dem Heimattal,
dem fernen, frühe Melodien wehen.

Die einsam wandeln in Gesanges Hainen,
und von den Dämmerlauben tropft noch Licht
auf müder Anemonen Angesicht,
sie halten jählings inne, um zu weinen.

Mag die verklebten uns, des Herzens Falten,
aus Versen quillend transparente Feuchte
sanft lösen, die vom Schnee des Schlafes kalten,

die Lider, uns dein Atem, Dichter, wecken,
daß aus dem Dunkel hell die Rose leuchte
und wir das Dasein schauen ohne Schrecken.

 

Sep 3 24

Emily Dickinson, We outgrow love

We outgrow love like other things
And put it in the drawer,
Till it an antique fashion shows
Like costumes grandsires wore.

 

Wir wachsen aus der Liebe wie aus Kleidern
und legen sie in einen Schrank zurück,
bis sie ein Rock, der aus der Mode kam,
uns dünkt, wie einmal ihn die Ahnen trugen.

 

Sep 2 24

Die Einsamkeit der Monaden

Ich kann nicht niederknien, zu beten, weil gleichsam meine Knie steif sind. Ich fürchte mich vor der Auflösung (vor meiner Auflösung), wenn ich weich würde.

Ludwig Wittgenstein

 

Wie unsre Haut ist auch die Seele nackt.
So lauschten wir der Nacht mit offnen Poren,
so fühlten wir uns an den Strom verloren,
den dunklen Glanz, des Staunens Katarakt.

Da ließen wir gewundner Muschel gleich
den zarten Schmelz mit Schalen überkleiden,
einander in Monaden uns zu scheiden.
Hart ward der Sinn, das Herz der Angst blieb weich.

Wohl tönen Muscheln, an ein Ohr gehalten,
wie Meere rauschen, die vor Zeiten blauten.
Wir haben Worte bloß, die schon erkalten,

bevor sie noch in fremde Herzen dringen.
An hohen Dämmen, die wir um uns bauten,
prallt schäumend, Dichter, ab dein Singen.

 

Sep 1 24

Ohne Hoffnung

Esperanto. Das Gefühl des Ekels, wenn wir ein erfundenes Wort mit erfundenen Ableitungssilben aussprechen. Das Wort ist kalt, hat keine Assoziationen und spielt doch „Sprache“.

Ludwig Wittgenstein

 

Als griffest eines Fremden Hand du blind,
und was du fühlst ist nur ein Stumpf, ein glatter.
Des Lebens Stimmen werden dumpfer, matter,
als riefen, die vom Schnee verschüttet sind.

Das Aug der Liebe war nur buntes Glas.
Wie zarte Haut, von Strahlen aufgeschnitten,
sind Seelen, die den Sonnenpfad durchschritten,
verwehte Schuppen, fetter Maden Fraß.

Das nicht vom Schmerz beseelte Wort ist kalt,
es torkelt wie an wirren Silberdrähten
die Puppe, strohgefüllt und grell bemalt.

Sie spielen Sprache, doch die Worte gleichen
gepreßtem Hauch von Lippen, zugenähten.
Die Frucht des Sinns ist faul, die sie uns reichen.

 



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