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Philosophieren VIII

17.07.2013

Wir atmen ein und lassen den Atem kontrolliert wieder ausfließen, wobei wir mit verschiedenen Öffnungsgraden des Munds und mit absichtsvollen und gezielten Berührungen von Zähnen und Gaumen durch die Zunge Geräusche hervorbringen, die zum Grundbestand unserer artikulierten Verlautbarungen gehören.

Warum so und nicht anders? Zunächst einmal bleiben wir mit dieser Art der Artikulation sozusagen zu Hause und müssen keine äußerlichen Mittel zur Hand nehmen, die uns am Ende im Wege stehen könnten. Probieren wir es einmal mit Klatschen, da sind unsere Hände nicht einmal ganz äußerliche und von unserem Körper getrennte Mittel: 1x klatschen heißt „O. k.“, 2x klatschen „Gehen wir!“, 3x klatschen „Kehren wir zurück!“ – wie oft aber musst du klatschen, um sagen zu können: „Der Aufwand an Investitionen steht im umgekehrten Verhältnis zum Grad des mit ihnen erzielten Wachstums.“

Das Beispiel zeigt: Mit einfachen Mitteln und Techniken der Signalgebung wie Pfeifen, Zeigen mit Flaggen oder bemalten und bezifferten Schildern können zwar einfache Hinweise und primitive Befehle, Aufforderungen und Warnungen mitgeteilt werden, komplexe Informationen dagegen überschreiten ihr Fassungs- und Ausdrucksvermögen.

Der Aufwand an Energie bei der Artikulation sollte ökonomisch sein. Sprachen wie das Chinesische haben hier optimale Lösungen gefunden: Mit einem Vokal verknüpfte Konsonanten wie ta, mi, fu reichen zusammen mit den bedeutungsvariierenden Lautstärken und -höhen sowie der Positionierung der bedeutungsvollen Laute in der vollständigen Lautkette für die gesamte Ökonomie der sinnvollen Verlautbarung aus.

Wenn wir reden, hören wir uns unmittelbar und unser Brustkorb und unser Schädel fungieren dabei als Resonanzkörper. Auf diese Weise merken wir uns das von uns Gesagte und Gemeinte auf der Stelle, denn die Sensorik und Motorik unserer Artikulationsorgane wird von eben dem neuronalen Netzwerk aus gesteuert, das auch die Speicher und Verarbeitungsregister für das von uns Gesagte und Gemeinte zur Verfügung stellt.

Du atmest ein und bildest beim Ausatmen in absichtsvollen und kontrollierten Bewegungen mit Mund und Zunge artikulierte Laute, die bedeutungstragende Einheiten darstellen und deren sinnvolle Verkettung dir Sätze und Reihen von Sätzen liefern. Dabei synchronisierst du Input und Output beim Sprechen: Was du sagst, wird mit passenden Inhalten aus dem Gedächtnis befrachtet, was du hörst, an den passenden Stellen deiner Informationsspeicher abgelegt.

Dein Zuhörer ist derjenige, der nach deiner Äußerung reagieren und das Wort ergreifen wird. So redet ihr miteinander. Und praktischerweise stehen die Mittel der Verlautbarung nicht als äußerliche Hindernisse zwischen euch: Ihr steht oder geht frei und ungehindert Seit an Seit oder tête-à-tête, so dass ihr euch im Auge behalten und die Reaktionen des anderen auf die Anrede in seinem Mienenspiel mit ablesen könnt.

Aus dir und mir bildest du ein Wir, indem du mich mittels des Gesprächs in eine gemeinsame Arbeit oder die gemeinsame Bewältigung einer Aufgabe hineinziehst und engagierst. „Kannst du mir helfen?“, fragst du mich und darfst auf meine Hilfsbereitschaft setzen, weil wir befreundet sind. Du sagst: „Schichte die Holzbalken auf den Karren!“, und: „Nicht so, sondern anders herum!“ Wir ziehen den Karren gemeinsam wohin. Dorthin, wo du dir eine kleine Hütte im Garten bauen willst. Und wenn ich als Mitglied in unserem kleinen Gesprächs- und Aktions-Wir dir auch bei dem Bau der Hütte helfe, erwerbe ich das Recht, ab und an in der Hütte zu hausen.

Unser Sprechumfeld ist also zugleich immer Aktionsumfeld, wir reden, um zu handeln, und handelnd reden wir. Wir blicken uns beim Sprechen an oder zeigen dem anderen den Gegenstand im Zeigefeld, über den wir eine Aussage machen. In der Wechselrede schreiten wir den Weg der Rede ab, bei dem sich Frage und Antwort, Antwort und Frage abwechseln. Ebenso wechsele ich die Rolle des Sprechers und werde Hörer in genau der Reihenfolge, in der du von der Rolle des Hörers zu der des Sprechers wechselst. Oder du tust das, was ich dir sage, und ich tue das, was du mir sagst und aufträgst, empfiehlst oder anweist. Wenn du unsicher bist, was genau oder wie genau du tun sollst, was zu tun ich dir rate oder auftrage, fragst du mich. Und wieder hebt das Wechselspiel von Frage und Antwort, Antwort und Frage an.

Worüber reden wir, was können wir zum Bezugshorizont unseres Dialoges machen? Alles, worüber sich reden lässt. Und worüber ließe sich nicht reden? Alles, das heißt genau: Personen, Sachen und Ereignisse. Reden wir also über Personen, die Sachen und Ereignisse folgen im Schlepptau, denn wir charakterisieren ja Personen durch die Sachen, die ihnen gehören, die sie begehren und für die sie sich interessieren, die sie befürchten. Zu den materiellen und rechtlichen Sachen zählen Grund und Boden, Häuser und Wohnungen, Speicher mit Korn und Saaten, Weiden und Ställe mit Vieh, Geld und Schmuck, aber auch Söhne und Töchter als potentielle Heiratskandidaten. Und wir rücken uns wichtige Personen in den Mittelpunkt von Geschichten, die wir über sie erfahren und die wir über sie erzählen (und dies im Erzähltempus des narrativen Präteritums), von Ereignissen, in die sich verstrickten oder in denen sie sich bewährten.

Reden wir also über die anderen, bekennen wir mutig: Klatsch und Tratsch sind der Hauptzweck unserer Unterhaltungen. Personen, die unseren Weg gekreuzt haben und für unsere Lebensinteressen eine nicht unbedeutende Relevanz hatten und haben und haben werden (hier kommen wir der Funktion und dem korrekten Gebrauch der Tempora verbi schon nahe), sind wichtige Spielfiguren im Wechselspiel unseres Redens. Und über Abwesende lässt sich bekanntlich unbefangener plaudern. Sinn und Zweck unseres Klatsches ist ein anthropologisch gesehen tiefer und schwerwiegender: Wir wollen gemeinsam und mittels der Erfahrungen unseres Gesprächspartners ausloten, in welche Kategorie, zu welchem Typus wir den Kandidaten einzuordnen haben: (potentieller) Freund, Verbündeter, Feind oder neutrale Person. Klatsch hat insofern eine moralische Funktion, als er darauf abzielt den, über den geklatscht wird, moralisch zu qualifizieren.

Kann er unseren Zwecken dienen? Sollen wir ihm eine so wichtige Sache anvertrauen? Wird er Wort halten? Wird er zu uns stehen, obwohl er anderen gegenüber die Treue gebrochen hat? Erzähl uns die Geschichte seines Verrats, seines Treuebruchs! Wird er unsere neuen Waffensysteme, unser Art zu wirtschaften, unser Wissen um die Orte von Quellen und Brunnen, Bodenschätzen und Tierweiden, unseren Geheimcode, all das, was er, einmal in unsere Nähe gelassen, auskundschaften kann, den Gegnern und Feinden verraten? Gehört er nicht zur Sippe, der Verwandtschaft, dem Clan, der einst unsere Vorfahren, unsere Ahnen bedroht, verleumdet, verfolgt hat? Erzähl uns die Geschichte, die Legende, den Mythos von der alten Feindschaft zwischen ihrem und unserem Zweig!

Ist also Argwohn geboten oder sind über die Jahre die Wogen geglättet und ein Vertrauensvorsprung unsererseits harmlos und unbedenklich? Hat er die Willensstärke und Kraft, die Kenntnisse und Fertigkeiten, um mit uns bei der Bewältigung der anstehenden Aufgabe erfolgreich kooperieren zu können? Ist er ausdauernd und geduldig bei der Arbeit, bei der Sache, oder wird er leicht ungeduldig und bricht die Arbeit schnell ermüdet oder missmutig ab? Ist er tapfer, beißt er sich auf die Lippen, wenn es mal hart auf hart kommt, oder ist er ein Jammerlappen, der gleich losheult und die Flinte, die Sense ins Gras wirft? Erzähl uns die Geschichte von der Schlacht, in der er sich heldenhaft geschlagen hat, in der er den Schild feige weggeworfen hat und zum Feind übergelaufen ist! Oder war es sein Vorfahr, über den die alte Ballade von Verrat und Feigheit erzählt? Sag uns die Ballade auf, sing uns die Ballade vor!

Können wir mit dem und jenem, mit diesen und jenen gemeinsam leben und arbeiten, Kriege führen, Kolonien gründen – eignen sie sich als Bündnispartner für solche Vorhaben oder können wir mit ihnen wie mit Freunden unter vier Augen sprechen? Werden sie den Beeinflussungen und Bestechungsversuchen unserer Gegner widerstehen? Oder sind sie schwach, niederträchtig, gemein? Können wir mit solchen Leuten ein Abkommen, einen Vertrag, ein Bündnis schließen? Werden sie die Abmachung auf Dauer einhalten oder nachdem sie ihren Vorteil eingestrichen haben sich arglistig davonschleichen? Und was soll mit jenem geschehen, der uns geschadet, betrogen, verraten hat? Der böse Absichten hegt und uns schaden, betrügen, verraten will? Wie wappnen wir uns, wie bleiben wir wehrhaft, wie hüten wir den wertvollen Wir-Kern unserer Lebens- und Überlebensgemeinschaft?

Wie nehmen wir auf den abwesenden Dritten Bezug? Wir fragen: Wer und was ist er? Mit seinem Eigennamen, seinem Ehrentitel oder seinem Spitznamen ziehen wir ihn in die Gegenwart unseres Redens, mit dem Gedächtnisbild seines Gesichts belebt er unsere Unterhaltung. Unsere hervorstechende Begabung, uns die Gesichter so vieler Personen merken zu können, befruchten wir mit all den Anekdoten, Histörchen, Geschichten, die sich um sie ranken, die wir vom Hörensagen kennen, die kluge Ratgeber uns offenbart oder falscher Verleumder uns eingeflüstert haben, und verknüpfen, konterkarieren oder korrigieren sie mit all den Erzählungen über dieselbe Person, die unser Gesprächspartner uns freigebig mitteilt.

Moralische Qualifizierungen von Personen und Moral in diesem guten Sinne sind kein mentaler Luxus, sondern lebens- und überlebenswichtig, damit du und damit wir uns mit Leuten umgeben, die uns nicht schaden, verraten und unglücklich machen, sondern mit guten Charakteren, die uns langfristig nutzen und unterstützen, uns ermutigen und erheitern, mit wertvollen Personen, die mit ihrem Wohlwollen und all ihrem Können und Wissen unsere Gemeinschaft beleben, bereichern, verschönern.

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