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Philosophieren XI

19.07.2013

Handeln ist die Verwirklichung deiner Absichten und Zwecke mit geeigneten, angemessenen Mitteln: Mit den über das zentrale Nervensystem gesteuerten Muskelkontraktionen und -laxationen deiner Arme, Beine und Hände, und vor allem deines Mundwerks, nimmst du Einfluss auf das große Weltgeschehen inmitten deiner kleinen Lebensprovinz.

Willst du die geeigneten Mittel wie Kleidung, Deo oder Blumen zu einem vorgegebenen Zweck wie einem Rendezvous oder aus der Reihe dir gleichzeitig sich anbietender Zwecke wie eines Rendezvous, des Besuchs des Vortrags deines Doktorvaters und der Teilnahme an der Sitzung einer berühmten Wahrsagerin, die nur an diesem Nachmittag in der Stadt gastiert, den für deine gegenwärtige und künftige Situation passendsten und eher zuträglichen, eher förderlichen auswählen und diesen Zweck zu deiner Absicht erklären, solltest du dich in vernunftgeleiteten Erwägungen ergehen.

Die Mittelwahl gelingt dir diesmal auch bei herabgedimmtem Verstand: Beim Friseur warst du, gebadet hast du, die Kleidung stimmt und ein letzter Blick in den Spiegel sagt dir: Viel Glück bei deinem Date!

Anders ist es um die begründete Wahl des Zwecks aus der vorliegenden Reihe von Zwecken bestellt: Hier musst du auf der Grundlage von Güterabwägungen und der Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten zur guten oder richtigen Entscheidung kommen. Das Rendezvous könnte den Beginn einer tragenden Verbindung darstellen. Den Vortag deines Doktorvaters solltest du nicht verpassen, sonst könnte er düpiert sein, und das könnte dir bei deiner momentanen Leistungsbilanz übel ausschlagen. Und wenn du ein Astro-Fan bist und den Glauben an die Sterne von allen vernünftigen Gegenargumenten abgeschottet hast, zieht es dich magisch zur Sitzung der berühmten Wahrsagerin.

Nur wenn in deinen Gedanken aufgrund eines überzeugenden Kalküls oder wegen gefühlsmäßiger Aufwallung eine der drei Optionen Oberwasser bekommt, wirst du handeln. Wenn alle drei oder zwei sich mit gleicher Schwere gegenseitig blockieren, kannst du entweder würfeln oder musst zu Hause bleiben.

Du überlegst so: Wenn mein Rendezvouspartner mehr als oberflächliches Interesse an mir hat, wird er bereit sein, eine plausible Entschuldigung zu akzeptieren und das Rendezvous zu verschieben. Damit ist diese Option freigestellt und nichts ist verloren. Meinem Doktorvater sende ich eine freundliche Mail und teile ihm mit einem Ausdruck des Bedauerns mit, dass ich wegen Krankheit leider um den Genuss seines Vortrags komme. Das wird das Risiko, seinen Unmut in der Bewertung der Dissertation oder während der Disputation zu spüren zu bekommen, verringern oder ganz beseitigen. Also gehe ich zur Wahrsagerin! – Erhoffst du dir von dieser doch klare Auskünfte und gute Ratschläge für deinen weiteren Lebensweg – und eben dies scheint dir der passendste, eher zuträgliche und eher förderliche Zweck in deiner augenblicklichen Lage zu sein.

So hast du mit guten Gründen und plausiblen Erwägungen eine Entscheidung für eine Sache getroffen, die die meisten für uns als irrational und obskur abtun dürften. Und doch ist es gerade solch ein Weg der Überlegung und Entscheidung, den wir oft mit all unserer Verstandeskraft und mit allen guten Geistern oder auch von allen guten Geistern verlassen beschreiten, auch wenn er uns am Ende in Teufels Küche führt.

Also versuche es noch einmal. Du taxierst zunächst die Risiken nach dem Schweregrad der Bedrohung, die sie für dich haben: Risiko, den Partner fürs Leben zu verpassen (80 Punkte), Risiko, deine Promotion zu vermasseln und dadurch beruflich ins Abseits zu geraten (80 Punkte), Risiko, aufgrund der verpassten Ratschläge einer berühmten Wahrsagerin dich auf deinem Lebensweg zu verirren (20 Punkte). Dann bewertest du die Wahrscheinlichkeit, mit der jedes der genannten Risiken tatsächlich eintreten dürfte: Partnerverlust 50 Punkte, berufliches Scheitern 60 Punkte, Verpassen der Wahrsagerin 100 Punkte. Dann multiplizierst du die zugehörigen Punkte (4.000, 4.800, 2.000), um zu sehen, welche Größe dir das zu vermeidende Risiko anzeigt, und kommst zum Ergebnis, dass es klüger und ratsamer ist, das Rendezvous und das Treffen mit der Wahrsagerin sausen zu lassen und dem Besuch des Vortrags deines Doktorvaters den Vorzug zu geben.

Das Ergebnis scheint dir plausibel. Denn die Promotion zu vermasseln wiegt in deiner gegenwärtigen Lebenssituation am schwersten. Das Argument, dein Rendezvouspartner werde, wenn es ihm denn ernst ist, sich auf die Verschiebung eures Treffens einlassen, gilt weiterhin. Und die Bedrohung, die aufgrund nicht erteilter Ratschläge einer Wahrsagerin über dir schwebt, ist doch eher gering zu veranschlagen.

Steigen wir kurz auf die Gipfel der Zeit und schnuppern die Höhenluft historischer Entscheidungen. Als Cäsar den Rubikon überschritt, verfolgte er die Absicht, mit seinen Truppen auf Rom zu marschieren. Als Cäsar mit seinen Truppen auf Rom marschierte, verfolgte er die Absicht, die Macht des Senats zu stürzen und den Feldherrn Antonius, hinter den der Senat sich verschanzt hatte, zu warnen. Als Cäsar mittels des Einmarschs in Rom die Macht des Senats stürzte, verfolgte er die Absicht, eine neues Machtgefüge und eine neue Staatsform in Rom zu etablieren.

So weit können wir die ineinander geschachtelten Absichten des großen Feldherrn ans Licht ziehen. Tatsächlich etablierte sich in der Folge von Cäsars absichtsvollem Handeln und dem darauf entfesselten Bürgerkrieg eine neue Staatsform in Rom, das augusteische Kaisertum. Dies absichtsvoll herbeiführen zu wollen können wir dem Handeln Cäsars allerdings nicht entnehmen. Die Errichtung des Kaisertums in Rom ist eine indirekte Konsequenz von Cäsars Handeln, die nicht im bewussten Fokus seiner damaligen Absichten lag und liegen konnte.

Du bist also brav zum Vortrag deines Doktorvaters gegangen. Indes ging die Sache nicht gut aus: Dein Rendezvouspartner, dem du per Mail eine plötzliche Erkrankung als Vorwand nanntest, um euer Treffen zu verschieben, erschien doch tatsächlich auf der Veranstaltung, da er um die Tatsache deines Promotionsverfahrens bei dem Referenten wusste und dir gerne, soweit es in seinen Kräften stand, Bericht davon geben wollte. Von Stund an haben sich eure Wege getrennt: Diese unbeabsichtigte Folge deines absichtsvollen Handels musst du in den Kauf nehmen und ertragen lernen.

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