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Von der Sprache der Empfindung

18.07.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Mit einem Wort ist die ganze Sprache da; in einer Empfindung die ganze Welt.

Wenn wir die Skala des tastend Fühlbaren zwischen 0 und 1 auftragen, kommen wir vom Grenzwert des noch nicht oder kaum Gefühlten oder des äußerst Subtilen (Betasten von Seide oder Spinnenweb) zum polaren Grenzwert des nicht mehr Fühlbaren oder äußerst Betäubenden (Eintauchen der Hand in Eiswasser).

Es ist bemerkenswert, daß wir analog zum Mikroskop für die Vergrößerung kleiner Objekte oder zum Megaphon zur Steigerung des Klangs keine Apparate zur Vergrößerung der Tastempfindung haben.

Wir sprechen sinnvoll vom allmählich sich steigernden visuellen Eindruck des Dunklen, wenn die Lichtquelle schwächer wird und versiegt. Ähnlich vom taktilen Eindruck des in seiner Gefühlsrasterung und Intensität abnehmend Tastbaren, wenn wir mit verbundenen Augen über Stoffe streifen, die von grobem Leinen über dichten Samt bis zu dünner Seide reichen.

Wir vergleichen die Tastwerte und ihre Benennungen wie fein und grob, weich und hart, fließend und starr mit der Palette der Farben und ihren Namen wie hellgrün und dunkelblau. Wir können nicht nur analog zum Farbkreis einen Tastkreis konstruieren, sondern mit einer solchen Gefühlspalette auch ähnliche sinnlich-sittlichen Wirkungen hervorrufen, wie sie Goethe den Farben zugesprochen hat.

Wir haben auf der einen Seite komplexe Empfindungen wie die Empfindung von hart, trocken und warm (Baumrinde), auf der anderen Seite die infinitesimale Abschattung sich stetig und kontinuierlich auffächernder Tasteindrücke wie vom Komplex „hart, trocken, warm“ in unendlich feinen Abschattungen zum Komplex „weich, feucht, kalt“ (Schwamm), analog den unendlich fein abgestuften Farbwerten zwischen rot und violett, hellgrün und dunkelgrün.

Wir können die von der Hand übermittelte Empfindung beim Abtasten der trockenen, von der Sonne beschienenen Baumrinde nicht anders beschreiben als durch den semantischen Komplex „hart, trocken, warm“.

Gewiß sind die sensorische Eindrücke uns vorsprachlich und vorbegrifflich gegeben; wollen wir sie aber beschreiben, müssen wir auf ADJEKTIVE wie süß und sauer, schwer und leicht, hell und dunkel, grün und rot, laut und leise, warm und kalt, fein und grob, weich und hart zurückgreifen.

Die Natur UNSERER Welt oder die Welt UNSERER Natur ist uns im Horizont qualitativer Begriffe erschlossen, die wir mit solchen Adjektiven abgrenzen und klassifizieren.

Wir können quantitative Begriffe wie den Begriff der Länge oder des Gewichts mittels unterschiedlicher Metriken wiedergeben (Meter oder Zoll; Gramm oder Pfund), ohne daß uns der Sinn des Gemeinten verlorenginge. Anders bei qualitativen Begriffe: Die Angabe des physikalischen Frequenzbereichs der Lichtschwingungen für einzelne Farbwerte vermittelt uns keine unmittelbaren visuellen Äquivalente.

Analysieren wir die Tastempfindung in die neuronalen Abläufe, die immer dann in unserem ZNS (zentralen Nervensystem) ablaufen, wenn wir den Empfindungskomplex „hart, trocken, warm“ haben, können wir von der physikalisch-chemischen Darstellung dieser Abläufe nicht auf den Tastwert schließen, den wir als „hart, trocken, warm“ benennen.

Wir können nicht ausschließen, daß sich ähnliche neuronalen Abläufe in unserem ZNS abspielen, die wir einem spezifischen Empfindungskomplex zuordnen, ohne daß wir diese Empfindung haben. Denn wenn wir beim Betasten der trockenen, warmen Baumrinde von einer Wespe gestochen werden, wird der Tasteindruck vom dadurch ausgelösten Schmerzgefühl überblendet oder neutralisiert.

Wir sagen von einem Mann, er habe ein weiches Gemüt oder einen trockenen Verstand oder ein hartes Herz; so übertragen wir Qualitäten des Tastsinns auf die Ebene psychologischer Prädikate. Die Verwendung sensorischer Qualitäten zur Bestimmung psychologischer Prädikate ist nicht zufällig, sondern intern und aufs Innigste mit der Struktur unserer Lebensweise verwoben.

Augenscheinlich betreiben wir Psychologie mit Qualitätsmerkmalen all unserer Sinnesempfindungen; so reden wir von einem schrillen Charakter oder einem Leisetreter (Klang), von einem hellen Kopf oder einer trüben Tasse (Gesichtswahrnehmung), einem sauertöpfischen Kerl oder einem süßen Mädchen (Geschmacksempfindung) und von einem Stinkstiefel oder von herber Männlichkeit (Geruchssinn).

Der sensorische Ausdruck psychologischer Eigenschaften geht über den metaphorischen Gebrauch hinaus: Denn wie wollen wir ein weiches Gemüt anders charakterisieren; es sei denn wir nennen es nachgiebig, mild und zart, und bedienen uns solchermaßen Merkmalen anderer sensorischer Herkunft.

Wir können demnach die Sprache der Empfindung weder quantifizieren noch begrifflich verallgemeinern. Wir können Empfindungswerte nur relativierend oder vergleichsweise gewichten, indem wir sagen, unser Freund habe ein überaus weiches Gemüt oder Peter sei vom Charakter nachgiebiger als sein Bruder Karl.

Die Sprache der Empfindung erschließt uns wesentliche Aspekte der menschlichen Natur.

Diese Natur ist nicht der Gegenstand einer Wissenschaft oder einer wissenschaftlichen Theorie, die seine wesentlichen Eigenschaften und Aspekte unter Zuhilfenahme von Gesetzeshypothesen und der Annahme empirischer Randbedingungen erklärt, sondern das unabsehbare Feld jener Beschreibungen, die durch Verwendung von Empfindungswörtern und psychologischen Prädikaten unsere schlichten Selbstbeobachtungen, aber auch die subtilen Ausdrucksformen der Dichtung möglich machen.

Die wissenschaftliche Theorie der neuronalen Prozesse, die unsere sensorischen Wahrnehmungen und Empfindungen funktional oder kausal erklären, kann in der Sprache der Empfindung nicht wiedergegeben oder übersetzt werden; sie bringt den qualitativen Gehalt unserer Erlebnisse und somit unsere eigentliche menschliche Natur ihrer theoretischen Funktion gemäß notwendig zum Verschwinden.

Das, was wir empfinden, erschließt uns nicht nur Aspekte der natürlichen Welt, in der wir leben, sondern auch wesentliche Aspekte unserer eigenen Natur. So erschließt uns die tastende Hand sowohl die Eigenschaften der besonnten Baumrinde, hart, trocken und warm zu sein, als auch die Eigenschaft dessen, der solche Empfindungen hat, eben genau auf diese Weise empfinden zu KÖNNEN.

Oft wird, was wir empfinden, moduliert, verfeinert, verfremdet oder in ein anderes Licht gerückt aufgrund dessen, was wir gleichzeitig noch empfinden oder wahrnehmen, so wenn wir die flaumigen Blätter der Rose betasten, deren Schönheit wir bewundern und deren Duft seltsame Ahnungen und Erinnerungen in uns wachruft. Oder wir sehen im Konzertsaal den Schlagzeuger vehement auf die Becken einschlagen und die Gruppe der Blechbläser sich erheben, um in die gewaltigen Akkorde in Bruckners 7. Symphonie auszubrechen.

Keine Empfindung ohne einen, der empfindet. Da wir uns im sensorischen Raum der Empfindung aber in einer vorbegrifflichen und vorsprachlichen Dimension aufhalten, sollten wir den mißverständlichen Gebrauch von Bezeichnungen wie Subjekt und Ich vermeiden und von einem bloßen Jemand sprechen, dem wir die Empfindung zuweisen. Jemand ist gewiß nicht niemand, aber auch noch nicht das seiner bewußte, sprechende Ich, das Sprachhandlungen mit einem anwesenden Gegenüber austauscht.

Ich kann als gleichsam anonymer Jemand etwas empfinden, ohne schon in der Lage zu sein, es zu benennen, zu beschreiben oder mein Gegenüber gestisch und verbal darauf hinzuweisen.

Wir gewahren den grundlegenden Unterschied zwischen dem Jemand, der empfindet, und dem Ich, das spricht, besonders deutlich am Unterschied der Empfindung und Wahrnehmung von Geräuschen und Klängen und dem Hören von artikulierten Lauten der menschlichen Sprache.

Das sprachmächtige Ich ist in eine gleichsam wetterwendische Atmosphäre intentionaler Spannungen eingetaucht, es integriert seine sensorischen Empfindungen und Wahrnehmungen kontinuierlich in den Horizont seiner Erinnerungen und Erwartungen.

So siehst du den Mond anders, wenn du ihn rein empfindend und ruhig betrachtest, als wenn du aufgrund deiner astronomischen Kenntnisse erwartest, daß er gleich in den Erdschatten treten wird. Dir schmeckt dasselbe Gericht anders, wenn du es für dich allein zubereitet hast, als wenn du es dir zu Gast bei einem Freund munden läßt. Der Duft der Blumen nimmt anders ein, wenn sie eine Freundin mitgebracht hat, und die weichen Modulationen einer Nocturne bezaubern anders noch, wenn die Geliebte dabei unversehens ihre Hand in die deine schmiegt.

Während das sprachliche Ich in ein kommunikatives Bedeutungsfeld eingelassen ist, so derjenige, welcher empfindet und wahrnimmt, in ein Aktionsfeld: Ich ziehe augenblicks die Hand vor der heißen Flamme zurück, halte mir die Ohren bei schrillen Geräuschen zu und beschaue länger die wohlgestalten Blumen, zumal wenn sie lieblich duften.

Je dichter uns die sprachlich vermittelten intentionalen Spannungen von Erinnerung und Erwartung umhüllen, umso mehr werden unser Gefühl und Gespür von der Nähe der Dinge abgezogen.

Dies gilt auch von den technisch und elektronisch durchformten und verwalteten Gehäusen, in denen wir wohnen und arbeiten; die Dinge verlieren ihre atmende Haut, und überstimulierte und überreizte Freizeitvergnügungen müssen als Surrogate eines gelassen-unschuldigen Empfindungslebens herhalten.

Die technische Welt entkoppelt schließlich die natürliche Resonanz von Klang, Farbe, Fühlbarem in konventionelle Schemata, so wenn wir den Signalwert der Ampelfarben kaum noch wahrnehmen oder von der lauen Luft und der atmosphärischen Anmut des Sommertags durch Glasscheiben der Bürotürme getrennt sind.

So müssen wir bisweilen mit jenen starken Reminiszenzen ursprünglicher und überströmender Empfindung in der Sprache der großen Dichtung eines Goethe, George oder Hofmannstahls vorliebnehmen.

 

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