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Philosophieren XIX

30.07.2013

„Du erkühnst dich, solch ehrwürdige und heikle Dinge, wie es die religiösen Angelegenheiten nun einmal sind, gleichsam ohne Handschuhe, mit rauhen Händen und nackten Blicken anzugehen und zu berühren. Braucht es nicht die Handschuhe der theologischen und philosophischer Begriffe, wenn du dich nicht an deinem Gegenstand vergreifen willst?“

„Wie bei allen Sachen, scheint es mir vernünftiger, von dem auszugehen, was wir bereits kennen, verstehen und gebrauchen, uns die Namen und Redewendungen vorzuknöpfen, die auf die Sachen zutreffen und sie richtig aufs Korn nehmen. Warum etwas erfinden, wenn doch alles da ist und vor Augen steht? Warum nach Luft haschen, wenn einfaches Atmen genügt?

Schau dir an, wie die Leute über Religion reden, und du findest heraus, was es damit auf sich hat. Wende dich an die einfachen Menschen und die Laien, dann führe dir den Sprachbestand, die Grammatik und sprachliche Logik der Gebete, Lieder und Legenden zu Gemüte. Schließlich begutachte das hochentwickelte Vokabular und die sich in Bildern, Vergleichen, Metaphern und Allegorien ergehende Sprachkunst der Katechismen, der Breviere und Stundenbücher, der Predigten und Traktate, der Mönchsregeln und Beichtspiegel, des neuen und des Alten Testaments.

Du musst natürlich auch genau hinschauen und herausfinden, wie die Gläubigen das, was sie sagen und singen, am heiligen Ort zur heiligen Zeit, wie in der Osternacht vor der Schwelle des Haupteingangs der Kirche zu nächtlicher Stunde, einbetten, einfließen lassen und einfügen in das, was sie tun, am heiligen Ort zur heiligen Zeit – wie wenn sie in der Lichtfeier der Osterliturgie nach der Weihe und Entzündung der Osterkerze am Osterfeuer vor der Kirche dem Priester folgen, der ihnen mit der hochgehaltenen Osterkerze in das geheimnisvoll-unheimlich dunkle Kirchenschiff vorausschreitet und dreimal in jeweils höherer Tonlage in die finstere Leere ruft „Lumen Christi“, und ihm in jeweils höherer Tonlage antworten „Deo gratias“, während sich allmählich das Kircheninnere erhellt, denn alle Kinder und Eltern und Großeltern entzünden ihre mitgebrachten Kerzen am neuen Osterlicht, bis endlich in die Helle dieser tiefsten Nacht die Orgel mit großer Wucht das Gloria in excelsis Deo anstimmt.“

„Und all die großen Begriffe, mit denen metaphysischer Eifer solch schlichtes folkloristisches Brauchtum, solch schlichte Volksfrömmigkeit in die ätherischen Höhen ontologischer Gottesbeweise und furchteinflößender Theodizeen gezogen hat, all diese Geistes- und Gottesschätze soll ich für dein armes Denken dahinfahren lassen?“

„Wer durch hohen Schnee den Pfad sucht, wirft die ihm aufgebürdete Last von Scheitern von der Schulter. Und wohin gerätst du, wenn die metaphysischen Vorhänge lange genug über den religiösen Dingen geweht haben? Am Ende verbleiben dir solch schlaue Fragen, was Gotte wohl vor der Schöpfung der Welt tat und wie er sich die Langeweile der Ewigkeit vertrieb oder wie lang wohl sein Bart seit dem ersten Tag der Schöpfung gewachsen sein muss.“

„Du meinst also, ich solle den Leuten aufs Maul schauen und betrachten, was sie dabei tun und hantieren, das sei die ganze Weisheit, das ganze Geheimnis? Gut, ich habe ja vernommen und gelesen, wie die Menschen das ihnen Heilige und das diesem Entgegengesetzte benennen: heilig eben und unheilig, fromm und widergöttlich, erbauend und verwirrend, sakral und profan, inspiriert und erkünstelt, rein und unrein, erlöst und verdammt – und ich habe auch öfters mitangesehen, wie sie ihre Gotteshäuser bauen, einrichten und weihen, wie sie bei der Taufe dem Bösen eine Abfuhr erteilen und den Täufling segnen, ich weiß, wie sie sich von ihren Sünden rituell entlasten und ihre Toten in geweihter Erde feierlich bestatten. Wenn ich dermaßen meine Nase auf der flachen Gegenwart plattdrücke, wie gewinne ich den nötigen Abstand, dessen es bedarf, um all die Dinge begrifflich zu bestimmen? Weiß ich, was fromm ist, wenn ich von Hinz und Kunz vernehme, wie sie zu diesem sagen, er sei fromm, und zu jenem, er sei es nicht?“

„Ja, wenn du neben Hinz und Kunz den Diakon, den Kantor, den Priester und den Bischof, meinetwegen auch den einen oder anderen deiner Theologen, ebenso gut aber auch die religiös inspirierten Dichter und Komponisten stellst und auch diese befragst und ihre Werke als Zeugen mit aufnimmst. Lerne, der Fülle des Vorhandenen recht zu geben!

Dann kannst du selbst zu reden beginnen. Wie wenn du sagtest, in der Osterliturgie und durch die Lichtfeier der Osternacht werde der Erfahrung eines gnadenhaften Neubeginns symbolhaft Ausdruck verliehen, dem Geschenk des Wiederlebenkönnens nach hoffnungslos scheinender Erstarrung, dem Geschenk des Wiederredenkönnens nach hoffnungslos scheinendem Verstummen, dem Geschenk des Wiederhandelnkönnens nach hoffnungslos scheinender Ermattung: Nein, du wirst sagen, nicht nur werde dieser Erfahrung in der heiligen Handlung am heiligen Ort zur heiligen Zeit symbolhaft Ausdruck verliehen, sondern diese plötzlich in tiefste Nacht einbrechende Helle, dieses Rufen nach dem heiligen Licht, dieses strahlende Klingen aus der Höhe, sie seien der Neubeginn, sie seien das neue Leben, sie seien das neue Sagen, sie seien das neue Handeln!

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