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Wittgensteins Sinnbilder XXIII – das Glatteis

18.04.2019

Je genauer wir die tatsächliche Sprache betrachten, desto stärker wird der Widerstreit zwischen ihr und unserer Forderung. (Die Kristallreinheit der Logik hatte sich mir ja nicht ergeben; sondern sie war eine Forderung.) Der Widerstreit wird unerträglich; die Forderung droht nun, zu etwas Leerem zu werden. – Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen Teil I, 107

 

Auch das reine Licht – sagen wir: das Ideal – bedarf eines dichten und trüben Mediums, auf daß es im farbigen Abglanz erscheint.

Wenn jemand alle grammatischen Formen einer Fremdsprache auswendig gelernt hat und mühelos herunterzubeten vermag, kennt aber die gewöhnlichen Redeformen ihrer alltagssprachlichen Anwendung nicht, würden wir nicht von ihm sagen, er könne oder beherrsche die fremde Sprache.

Einer, der die Regeln des Schachspiels, des Tennis, des Handballs aus dem FF kennt, hat aber nie eine Schachfigur bewegt, nie eine Tennisschläger in der Hand gehalten, nie einen Ball geworfen, beherrscht diese Spiele nicht, ja kennt sie nicht einmal.

Wer auf dem Trocknen die Schwimmbewegungen mit Armen und Beinen erlernt hat, geht unter, wenn man ihn ins Schwimmbecken stößt.

Einer, der alle Gebete und Anweisungen zu den liturgischen Gesten und Handlungen der Meßfeier auswendig weiß, indes nie an einer teilgenommen wird, ist der Frömmigkeit ferner als ein Ungläubiger.

Einen, der in einem sokratischen Dialog zur klaren und sinnfälligen Definition der Frömmigkeit vorgedrungen ist und beherzt von dannen geht, im Glauben, er wisse nun, was Frömmigkeit ist, der aber nie gebetet hat, nie mit einem religiösen Kult vertraut worden ist, werden wir nicht fromm nennen wollen.

Je weniger Reibung die glatten Kufen der Schlittschuhe hemmt, umso flotter zieht der Läufer seine Kreise; doch wenn gar keine Reibung vorhanden wäre, fiele er gleich auf die Nase.

Fahren wir mit der Hand über eine extrem glatte Oberfläche, eine Art Super-Seide, fühlen wir kaum etwas oder nichts; der Stoff, selbst die weiche Seide, muß etwas aufgerauht sein, damit er fühlbar wird.

Wir können davon träumen, uns einbilden oder leicht vorstellen, wie es ist, ein Sänger oder Pianist zu sein und nach einer gelungenen Darbietung den Applaus einzuheimsen. Doch ein anderes ist es, davon zu träumen, Klavier spielen zu können, ein anderes, wirklich Klavier zu spielen.

Einer kann von dem Mythos besessen sein, alle Menschen seien im Grunde gut, alle Menschen seien Brüder, doch wenn er sein Versprechen gegen den Freund nicht eingehalten hat, senkt er die Augen, wenn er ihm begegnet, und fühlt sich schlecht; wenn er den Dieb auf frischer Tat ertappt, hält er ihm keine Moralpredigt oder bringt ihm den Chor aus Beethovens Neunter zu Gehör, sondern ruft die Polizei.

Wir könnten sagen: Der rauhe Boden des alltäglichen Redens und Tuns ist nicht so glatt und ebenmäßig wie der Boden oder das glattgewienerte Parkett unserer Vorstellungen, unserer Träume, unserer Ideen.

Auf dem rauhen Boden des Alltags müssen wir mit unerwarteten Ereignissen, Reaktionen, Begegnungen rechnen, deren Ausgang und Wirkung wir nicht vorhersehen oder antizipieren können. Im Traumbuch unseres Ideals kommen sie wenn überhaupt nur als winzige, kaum entzifferbare Fußnoten vor.

Sich auf dem unebenen Gelände des Alltags zu bewegen bedarf der Übung, der Geschicklichkeit und bestimmter Techniken und Kunstfertigkeiten, die wir gelernt haben müssen, wie der Technik des manierlichen Umgangs und unterhaltsamen oder fachmännischen Gesprächs, des Auto- oder Fahrradfahrens, des Singens, Klavierspielens oder Tanzens.

Wenn wir den freundlichen Abschiedsgruß der Verkäuferin nicht erwidern, begehen wir einen Fauxpas und müssen damit rechnen, daß sie uns beim nächsten Mal unwirsch behandelt. Der Gruß, das Lächeln, das Winken, ja selbst die abgepreßten Tränen des Abschieds, all die mehr oder weniger konventionellen Gepflogenheiten unseres rituellen Umgangs sind kein überflüssiges Dekor, welches der Fanatiker der nackten Wahrheit und Wahrhaftigkeit ungestraft niederreißen könnte.

Hätten wir mithilfe des Sokrates einen kristallklaren Begriff der Tapferkeit gewonnen und ihre Definition uns eingeprägt, bewahrte uns dies nicht davor, bei nächstbester Gelegenheit, wenn beispielsweise unsere Stimme bei der Verteidigung eines ungerecht behandelten Menschen gefragt wäre, feige das Maul zu halten.

Wir können dicke Wälzer über Ethik verschlungen, ja sie selbst geschrieben haben und dennoch moralisch Bankrott machen.

Der Wilde aus dem Busch, der zum ersten Mal die Kreuzigung von Grünewald sieht, schüttelt sich vielleicht vor Lachen. – Unter uns kann es allerdings auch Wilde dieser Sorte geben.

Das Kind ist mit einem Gedicht Rilkes überfordert; es muß mit „Hänschen klein“ und den Abzählversen beginnen.

Der junge Spund und Tunichtgut, der von Leid und Elend nur die ästhetische Erfahrung durch die Lektüre Dostojewskis hat, mit der er im literaturwissenschaftlichen Seminar großtut, mag menschlich gesprochen vollkommen versagen, wenn er ans Sterbebett seiner Mutter gerufen wird.

Wittgenstein glaubte an das göttliche Licht, das manchmal in Stunden der äußersten Prüfung und Ausgesetztheit oder dem ekstatisch erweckten Geist, wie dem Beethovens, die Mauer der Dunkelheit und des Schweigens, die alles Irdisch-Menschliche einschließt, durchbricht. Darum sein Beten, von daher sein Ideal der Durchsichtigkeit, Klarheit, ungetrübter Transparenz des bis auf den Grund reingewaschenen sprachlichen Ausdrucks.

Andererseits brach er mit dem Ideal der Analyse, das ihn, wie er zur Zeit der Abfassung des Tractatus glaubte, bis zu den verborgenen logisch reinen Kristallen des Satzes im Geröll der Alltagssprache hat schürfen lassen: das logische Bild, der Name, der Gegenstand, der Sachverhalt, die Tatsache, der Elementarsatz, die Betrachtung der Elementarsätze als Argumente der Wahrheitsfunktion.

Nun sagt er rückblickend, diese logischen Kristalle hätten sich ihm nicht aufgrund genauer Untersuchung der tatsächlichen Redepraxis ergeben, sondern seien nur die Lichtreflexe auf dem polierten Spiegel der Forderung eines logischen Ideals.

Das Ideal ist das Glatteis, auf dem wir mangels Reibung stürzen, unausbleiblich zu Fall kommen.

Das Ideal der Sprache schien Wittgenstein greifbar, schien gegeben, in der durchsichtigen Relation von Name und Gegenstand, als wäre die ursprüngliche Funktion des Sprechens das Benennen. Doch wenn wir fragen „Sind das Quitten oder Zitronen?“ oder „Hast du nur drei Äpfel mitgebracht?“, können wir auf die Gegenstände namens Quitten und Zitronen zeigen, so als wären diese Gegenstände die Bedeutungen der Namen „Quitten“ und „Zitronen“; doch worauf können wir mit dem Wort „oder“ zeigen? Ebenso können wir mit dem Namen „Apfel“ auf den Gegenstand Apfel zeigen; doch worauf zeigen wir mit dem Zahlwort „drei“?

Wir sagen: „Dies Rose ist rot“ und können den Namen „Rose“ aussprechend auf den Gegenstand Rose zeigen, der da vor uns aus der Vase ragt. Doch zeigen wir mit dem Wort „rot“ auf die Empfindung der Farbe Rot, gleichsam auf etwas, eine Vorstellung, ein mentales Bild, in uns, in unserem Bewußtsein?

Der Begriff einer äußeren Welt oder der Realismus ist eine Folge der Täuschung, als wären die Urzeichen Namen, mit denen wir Dinge der äußeren Welt benennen; der Begriff der inneren Welt, des Bewußtseins, oder der Idealismus ist eine Folge der Täuschung, als würden wir mit Wörtern für Empfindungen Vorstellungen und mentale Bilder der inneren Welt benennen.

Wir können auf die Quitten zeigen. Doch worauf zeigen wir, wenn wir sagen: „Nein, das sind keine Quitten, es sind Zitronen“, mit dem Wörtchen „keine“ und dem Ausdruck „keine Quitten“?

Auf die syntaktischen Gelenke, ohne die unser Reden in Ausdrucksarmut verkümmert, wie die Wörter „und“, „oder“, „nicht“, „aber“, „folglich“, „obwohl“ können wir nicht zeigen, sie sind keine Namen von Gegenständen.

Wird der Sinn eines (komplexen) Satzes aufgrund der eindeutigen Relation von Namen und Gegenstand (in den analysierbaren Elementarsätzen) eindeutig bestimmt, sodaß er entweder etwas Wahres oder Falsches sagt, was ist dann der Sinn von Sätzen wie „Das Auto fuhr näher an mich heran, als ich annahm“, „Der Lärm war geringer, als ich befürchtet hatte“ oder „Der Sessel stand ungefähr hier“?

Das reine Licht, das sich im trüben Medium bricht, wird nicht verdunkelt, sondern in eine Mannigfaltigkeit von Farben und Farbnuancen zerstreut.

Freilich, in die Sonne zu schauen blendet das Auge, und auf dem Glatteis können wir nicht gehen.

In der Sommerglut geht es sich leichter und angenehmer im Schatten der Bäume, und die Schatten der Vagheit, Mehrdeutigkeit, Hintersinnigkeit  und ungewohnter Metaphorik, wie sie uns im Gespräch oder in der Dichtung oder in den Schriften Wittgensteins begegnen, schrecken uns nicht, sondern ermuntern uns, sie für eigene Ausdrucksmöglichkeiten spielerisch zu erproben.

Freilich, die verwackelte Photographie macht sie als Paßphoto unbrauchbar, die sentimental vernebelte Stelle dieser Symphonie mißfällt uns, die Verunreinigung und der Schmutz auf dem Tischtuch oder dem Bild von Vermeer erregen unser Mißfallen, die Lüge und die Schuld sind Flecken, die von uns abzuwaschen wir bemüht sind oder sein sollten.

Aber das Clair obscure dieses Gemäldes findet unser Wohlgefallen, die schwebende Tonalität dieses Adagios hält uns in Atem und dieser Schönheitsfleck entzückt uns.

 

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