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Die Warteschlange

03.04.2016

oder vom vernünftigen Abwägen unter den Bedingungen der Sterblichkeit

Du kommst kurz vor Toresschluß am Samstagmittag zum Postamt, um anhand des Benachrichtigungsscheins eine Buchsendung abzuholen. In dein Erstaunen mischen sich Bedauern und Verärgerung, als du der langen, bis weit aus dem Eingang des Postamts sich hinausschiebenden Schlange der Wartenden ansichtig wirst, in die dich einzureihen dir nicht leichtfällt. Aber du tust es und hast damit eine Entscheidung gefällt – nämlich dich der gegebenen Situation anzupassen und sie so lange wie nötig auf dich zu nehmen, nämlich in der Menschenreihe zu warten, bis du an der Reihe bist.

Du überblickst die Lage und schätzt mit flüchtigen Blicken die Länge der Menschenschlange ab, um in etwa den Zeitaufwand abzuschätzen, den du benötigst, bis du zu der von dir angestrebten Zielerreichung gelangst. Du sagst dir vielleicht: „Das dauert eine ganze Weile, bestimmt eine gute Stunde. Ich wollte hier, nachdem ich das Buch abgeholt haben würde, noch einen Sprung zu meinen Freund Walter machen, das kann ich dann vergessen.“

Wir bemerken, daß wir im Alltagsleben nicht neutrale Orte besetzen und bewohnen, sondern aus und in Situationen leben. Du bist hastig aufgebrochen und hast dich gesputet, um das Postamt vor Schließung zu erreichen. Die Situation des zielstrebigen Gehens ist grundverschieden von der Situation, in die du gerätst, wenn du dich der Gruppe wartender Menschen anschließt. Hier teilst du die gemeinschaftliche Lage von Leuten, die der Zufall an diesem Ort zu dieser Zeit zusammengerufen hat. Wenn du ein paar Schritte seitwärts aus der Menschenschlange heraus unternimmst, wirst du bald eine unsichtbare Grenze überschreiten, jenseits derer du die Situation hinter dir läßt: Du bist aus der Reihe der Wartenden herausgetreten, wenn du beispielsweise einen Bekannten gesehen hast und auf ihn zugegangen bist, um mit ihm ein wenig zu plaudern. Auch kannst du nicht ohne weiteres dich wieder an derselben Stelle in die Menschenschlange einreihen – lautstarker Protest der Umstehenden würde sich erheben, und die Wartenden würden dir den Wiedereintritt in die Reihe verwehren.

Wir bemerken, daß alle Lebenslagen oder Situationen nicht nur physische, sondern auch normative Grenzen aufweisen. Die wartende Menschenschlange ist eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe, die im Gegensatz zu familiären und sozial formierten Gruppen keine innere Struktur aufweist, die die Zugehörigkeit, die Verfahren der Aufnahme und des Ausschlusses oder auch bestimmte privilegierte oder untergeordnete Positionen der Mitglieder definiert. In hierarchisch strukturierten Gruppen hat das Führungspersonal den Untergebenen gegenüber gewisse Vorrechte, der Mafiaboss kommt zur geheimen Sitzung, alle anderen weichen zurück, er geht stracks zu seinem Ehrensitz und sein Adlatus schenkt ihm vom besten Tropfen ein, der den anderen verwehrt ist. Würde ein übermütiger Teilnehmer ihm dieses Vorrecht streitig machen, wäre es schnell um ihn geschehen, denn das Überschreiten einer solchen normativen Grenze zöge empfindliche Sanktionen nach sich, bis hin zum Verlust des Lebens.

Wir haben in der Situation des Wartens in der Menschenschlange in nuce oder im Modell die Entstehung der modernen egalitären Gesellschaft vor Augen, die im Gegensatz zur traditionellen hierarchisch geprägten Gemeinschaft ihren Mitgliedern ihrem Selbstbild gemäß keine Vorrechte einräumt, indes den echten Abweichler, der das egalitäre Prinzip anzutasten und aus der Reihe zu springen wagt, umso härter bestraft. Wir wissen von den Ungeheuerlichkeiten, die sich an anderen Warteschlangen zutrugen: wenn ausgehungerte Kriegsgefangene, die mit ihrem Blechnapf vor der Essensausgabe auf die Zuteilung ihrer dürftigen Wassersuppe warteten, Kameraden, die sich vordrängeln wollten, oder alte Offiziere, die sich ein Vorrecht und eine Vorzugsbehandlung ob ihres Alters, ihrer Rangstellung und ihrer Verdienste anmaßten, ohne weiteres und auf der Stelle erschlugen und töteten.

Im übrigen erfassen wir an dem soziologischen Modell der Warteschlange auch den Grund, warum traditionelle Gemeinschaften von der Überlieferung und dem Nacherzählen ihrer Mythen zehren: Sie beziehen ihr Selbstbild auf die Herkunft der mythisch überhöhten Ahnen. Der homerische Rhapsode erzählt von den Heldentaten eines Achilleus und den Abenteuern eines Odysseus vor der adligen Runde von Hörern, die sich mit den besungenen Protagonisten auf eine Stufe des Könnens und Geltens stellen. Dagegen sind die Individuen der egalitären Gruppe einzelne Atome einer Masse, die kaum noch gemeinschaftliche Traditionen teilen. Sie sind auf sich verwiesen. Das wird gut sichtbar, wenn viele und vor allem die Jüngeren unter den Wartenden mit ihrem Smartphone beschäftigt sind.

Kennzeichnend für intern unstrukturierte Gruppen und Menschenansammlungen wie unsere Warteschlange ist demnach die Gleichstellung aller Mitglieder. Der Personalchef hat keinen Vortritt vor dem Angestellten, der sich zufällig vor ihm in die Reihe gestellt hat. Der Schwerbehinderte im Rollstuhl wird nicht bevorzugt behandelt, er muß sich wie alle anderen in Geduld üben. Es ist allerdings ein naives Vorurteil anzunehmen, egalitäre Gruppen seien weniger durch normative Grenzen eingeengt. Das Gegenteil ist der Fall, wie wir bereits sahen, als du den Versuch unternommen haben solltest, dich wieder in die Schlange einzureihen, nachdem du für ein Schwätzchen mit deinem Bekannten dich aus ihr davongeschlichen hattest. Wie erst, wenn einer im Dünkel eines Vorrechtsbewußtseins zu später Stunde in das Postamt träte, mit großer Geste an allen Wartenden vorbeistöbe und sich wichtigtuerisch vor dem Schalterbeamten aufbaute? Ein ungeheures Gejohle durchzöge die Reihe, tatkräftige Mannskerle sprängen herbei, um den unverschämten und anmaßenden Emporkömmling und Glücksritter mit roher Gewalt in die Schranken zu weisen. Unwahrscheinlich, daß er an diesem Tage noch in den Genuß gelangt, sein Paket ausgehändigt zu bekommen.

Wir wohnen hier der Entstehung der Begriffe von Recht und Pflicht oder Gebot, von Unrecht und Strafe oder Sanktion aus der Situation des Alltagslebens bei. Nur wer sich der ungeschriebenen Pflicht unterwirft, sich brav in die Schlange einzureihen, nur wer sich einreiht und das Schicksal der Wartenden geduldig teilt, kann das Recht in Anspruch nehmen, sein persönliches Ziel zu erreichen. Wer diese Pflicht verletzt und gegen das ungeschriebene Gebot, es allen anderen gleichzutun, verstößt, muß Strafen und Sanktionen befürchten, die von Gesten der Mißachtung und Verachtung (Ausbuhen) bis zur Androhung oder Anwendung körperlicher Gewalt (Rauswurf) reichen.

Wir bemerken auch, wie sich das soziale Schicksal anders in traditionellen, anders in egalitären Gruppen gestaltet: Das Grundproblem des Sozialen, Ordnung im Zusammenleben zu stiften und zu erhalten, regelt die traditionelle Gruppe mittels Verfahren der Zuordnung, Einstufung und Klassifizierung gemäß Kriterien wie Herkunft und Abstammung, wie wir es an den Ordnungen der Gilden, Kasten und Klassen ersehen, Zuordnungen, die eindeutig und rigide, Ordnungen, die starr und meist undurchlässig sind.

Blicken wir dem sozialen Schicksal der egalitären Gruppe am Modell der Warteschlange in die Eingeweide: Du reihst dich ein, und der Zufall von Tag und Stunde wählt die Menschen aus, die vor dir, die hinter dir warten müssen. Ihr habt keine innere Verbindung, wie sie die Zugehörigkeitsauslese der Verwandtschaft, der Freundschaft, des familiären, schulischen und beruflichen Umfelds bereitstellt. Deshalb ist die Kommunikation auf das Nötigste, das Funktionale und Zweckdienliche heruntergefahren. Nur Rudimente und Reste natürlicher und gewachsener Bande ragen in das artifizielle und willkürliche Gebilde der Warteschlange hinein: Da steht vor dir ein Paar, sie lehnt sich manchmal an seine Schulter, er spricht ihr tröstliche Worte zu. Dich kennt hier niemand, niemand weiß, wer du bist, wie es um dein Leben bestellt ist, niemand interessiert es im geringsten. Und auch du kennst niemanden und hast keinen inneren Anteil am Dasein all dieser Menschen. Was gehen dich diese Leute an, mit denen auszuharren und ein künstliches soziales Schicksal zu teilen du dir nicht ausgesucht hast?

Kennzeichnend für die mehr oder weniger undurchlässigen Ordnungen der traditionellen Gesellschaft ist die Ruhe und Gelassenheit, die von ihren Mitgliedern ausstrahlen, wie wir auf Porträtbildern alter Meister gewahren. Das hat seinen guten Grund in dem aus Zufriedenheit oder Resignation gespeisten Einverständnis mit den jeweiligen Daseinsbedingungen. Im Gegensatz dazu sind egalitäre Gruppen vom Geist der Unruhe und Aufgeregtheit obsediert, jederzeit kann der Funke eines Gerüchts oder das Fanal und Empörungsgeschrei rebellischer Großmäuler die ganze Gruppe zum Kochen und Aufflammen bringen. Der tiefere Grund für die Neigung zur Massenhysterie in solchen Verbänden liegt in der Diskrepanz zwischen ihrem egalitären Selbstverständnis und den realen Unterschieden im Zugang zu den Ressourcen von Geld, Macht und öffentlichem Ansehen aufgrund der faktischen Ungleichheit der Begabungen und Temperamente, eine Diskrepanz, die aufgrund der Zugänglichkeit noch der intimsten Informationen in den Mediennetzen allen sichtbar ist. So blickt in der Warteschlange der arme Schlucker, der sein Freßpaket von Verwandten abholen will, scheel auf den Vordermann, der mit seinem elfenbeinfarbenen Smartphone über horrennde Geldgeschäfte mit seinem Kompagnon verhandelt. So die alte, runzlige Marktfrau, die ein Päckchen ihrer weit weggezogenen Enkelin mit einem Paar Handschuhen und einem selbstgestrickten Schal abholen will, auf das vitale Prachtweib vor ihr, die auf hohen Hacken ihren Hintern unter einer edlen Pelzjacke tänzeln läßt.

Du hast dich also in die Warteschlange eingereiht und es vorgezogen, eine ganze Weile die nicht eben freudvolle Schicksalsgemeinschaft der Wartenden zu teilen, als dich gleich auf dem Absatz umzudrehen und das Abholen des Buchs auf einen anderen Tag zu verschieben, der wie ein gewöhnlicher Werktagvormittag günstigere Bedingungen verspricht. Du magst dir sagen: „Jetzt habe ich mich schon dermaßen abgehetzt, um noch rechtzeitig zum Postamt zu gelangen. Diese Mühe wäre ja vergebens, würde ich gleich die Flinte ins Korn werfen und die Segel streichen. Vielleicht geht es ja schneller voran als befürchtet.“

Wir konstatieren hier en passant ein allgemeines Gesetz, das sich aus der conditio humana, des Lebens der Menschen unter Bedingungen begrenzter Ressourcen von Kraft und Zeit oder kurz der Sterblichkeit ableiten läßt: Je höher der Aufwand zur Zielerreichung, umso wertvoller erscheint das Ziel und umso hartnäckiger das Streben, an ihm festzuhalten. Je länger du in der Schlange gewartet hast, umso vernünftiger erscheint es dir, auch noch den Rest der nötigen Zeit mit Warten zu verbringen.

Die prinzipiellen und prinzipiell vernünftigen Fragen, die wir in Situationen unter Bedingungen begrenzter Ressourcen an Kraft und Zeit stellen, können wir etwa so formulieren: „Jetzt habe ich schon so lange gewartet, um meinem Ziel näherzkommen. Wäre es da nicht weniger vernünftig, aus der Warteschlange auszuscheren, um endlich wieder frei atmen zu können, als mich den Rest der Zeit in Geduld zu üben und am Ende mein Paket in Händen zu halten?“ Oder: „Lohnt es sich, nur um den Druck dieser unleidlichen Lage mit einem beherzten, aber vielleicht unvernünftigen Schritt, abzuschütteln, die Warteschlange wieder zu verlassen, wo ich doch schon so viel Mühe und Zeit aufgewandt habe, um mein Ziel zu erreichen?“

Wenn wir vernünftig rechnen und also Vernunft stets als mehr oder weniger formales und mechanisches Verfahren der deduktiven Ableitung ansehen und verwenden könnten, würden wir sagen: „Jetzt habe ich wohl schon über die Hälfte der benötigten Zeit in der Warteschlange verbracht. Demnach wäre es unvernünftig, das Warten jetzt abzubrechen. Denn je mehr ich, sagt mir die Vernunft, das Zeitlimit über der Halbzeit des Wartens erfülle, umso mehr lohnt es sich, auch den Rest meiner Zeit noch daranzugeben.“

Hier kommen wir zu dem springenden Punkt, der uns vor Augen führt, weshalb vernünftige Erwägungen der Art, wie wir sie hier an ihrem Ursprung und in ihrer lebensweltlichen und lebenswichtigen Funktion im Alltag betrachten, nicht als Formen des Rechnens und Berechnens oder der formalen Ableitung zu charakterisieren und zu definieren sind: Denn die lebendige Situation erlaubt uns keine klare Voraussicht und wahrheitsgemäße Prognose ihres Verlaufs. Wir wissen nicht genau, wie lange wir warten müssen, und können demnach auch nicht die genaue Zeitstrecke berechnen, die die Hälfte der Wartezeit umfaßt, und die zu erfüllen weiteres Warten bis zum guten Schluß immer sinnvoller und lohnender erscheinen läßt.

Wir müssen also zu den Bedingungen begrenzter Ressourcen an Kraft und Zeit, die die Situationen unseres Lebensalltags bestimmen, auch die Begrenzung unserer Fähigkeit der Voraussicht hinzunehmen. Da wir nicht genau voraussehen können, wie lange die Situation dauert, in die wir geraten sind oder in der zu bleiben wir uns vorläufig entschieden haben, können wir nur mehr oder weniger geschickt und sorgfältig erwägen und abwägen, ob es vernünftiger oder unvernünftiger ist, in ihr zu verharren oder sie zu verlassen. Wenn du nur noch ein paar Leute in der Warteschlange vor dir siehst, wäre es um ein vielfaches unvernünftiger die Schlange zu verlassen, als wenn du dich soeben erst in sie eingereiht hättest. Und es wäre vernünftiger, die Warteschlange sofort zu verlassen, wenn dir ein kurzer Überblick über die Situation verrät, daß dich das Warten wahrscheinlich so viel Zeit kosten würde, daß du den anschließenden Termin für ein wichtiges Treffen verpassen würdest.

Welche Instanz ist es eigentlich, die all unserem vernünftigen Erwägen und Abwägen souffliert und die Funktion der abwägenden Vernunft steuert? Pathetisch gesagt: der Tod. Oder schlicht und ergreifend die Tatsache, daß wir kein unbegrenztes Kontingent weder an Kraft noch an Lebenszeit zur Verfügung haben. Was kümmert es den unsterblichen Apollo, daß heute sein Pfeil danebentraf, wenn er morgen und übermorgen und alle Zeit tausend und abertausend Pfeile abschießen kann, die ihr Ziel erreichen? Aber wir haben oft nur mehr einen Pfeil im Köcher und unsere Kraft, den Bogen zu spannen, ist schon erlahmt. Da wägen wir noch einmal ab, ob jenes Ziel dasjenige ist, das es verdient, von uns erreicht zu werden.

Hier gelangen wir schließlich zu dem Begriff, der gleichsam die tiefsten Wurzeln in den Boden unserer Lebenssituation geschlagen hat: dem Begriff des Werts oder Sinns.

Du magst dich in die Warteschlang einreihen und dich in Geduld üben, weil du ein Buch abholen willst, das dir einen neuen geistigen Nährwert verspricht. Wenn es allerdings ein billiger Unterhaltungsroman wäre, könntest du den Verzehr dieses weniger lebenswichtigen Nährwerts gern auf morgen und übermorgen aufschieben und getrost die Warteschlange verlassen, um es anderentags zu versuchen. Ein armer Schlucker indes, der von seinen gutmütigen Verwandten ein Paket mit Lebensmitteln abholen will, ohne das sein Wochenende mit Magenknurren verbunden wäre, hat im Ziel seines Wartens einen ganz anderen Nährwert vor Augen, der ihm die aufgewandte Geduld und Unbill des Wartenmüssens leichter vergilt.

Gewiß, wäre der arme Schlucker ein religiöser Asket, geübt in der Sublimierung des Magengrummelns zu mystischen Erlebnissen, würde ihm der unmittelbare Verzicht auf die leiblichen Genüsse nicht schwerfallen. Andererseits hätten wir in ihm einen Heros des Alltags, geprüft und geeicht, sich in der Askese, dem Verzicht, der Geduld und Ausdauer zu üben, die uns die Bewältigung des Lebensalltags zumeist abverlangt.

Denn der Begriff des Werts oder desjenigen, dem wir einen Sinn für unser Dasein zusprechen, ist immer auch eine Funktion der Mühe und Kraftanstrengung, deren es zu seiner Erlangung bedarf. Das meinen wir, wenn wir uns angesichts der Warteschlange unter Abwägung aller uns überschaubaren Umstände fragen: „Lohnt sich das Warten? Ist es sinnvoll, hier die Zeit zu vergeuden, wenn ich andernorts Sinnvolleres tun oder erreichen könnte?“

Vielleicht steht in der Warteschlange ein Selbstmörder, der sich von einem ominösen Absender Medikamente hat zusenden lassen, mit denen er sich an diesem Wochenende das Leben nehmen will. Vielleicht steht in der Warteschlange ein Mörder, der sich von einer ominösen Adresse die Pistole hat zusenden lassen, mit der er an diesem Wochenende sein Opfer ums Leben bringen will. Vielleicht steht in der Warteschlange ein Terrorist, der sich von einer ominösen Adresse Sprengstoff hat zusenden lassen, mit dem er an diesem Wochenende einen Anschlag verüben will.

Was sollen wir sagen? Vermutlich ist der primäre Sinn des Wertbegriffs kein moralischer Sinn oder ein Sinn, den wir unter allen Umständen nach objektiven Kriterien beurteilen können. Natürlich werden der Mörder und der Terrorist nach Ausführung ihrer Übeltaten zur Verantwortung gezogen und der Gerechtigkeit zugeführt werden können. Doch für sie hat sich das Warten in der Warteschlange gelohnt. Auch sie haben im Rahmen ihres Wertempfindens vernünftige Erwägungen angestellt, mit dem Ergebnis, daß es sich für sie allemal lohne und sinnvoll erscheine, die kleine Schicksalsgemeinschaft der Wartenden zu teilen.

Doch gehen wir noch einen letzten Schritt und nehmen an, die Warteschlange sei eine Parabel aus der Dichtung Franz Kafkas. Ist nicht das Leben ein immer erneutes Warten auf ein imaginäres Ziel hin, dessen Erfüllung so disparat zur Mühe und Geduld des Wartens ist, daß sie leer ist wie eine leere Schachtel oder ein mit Holzwolle gefülltes Paket? Gewiß wird in dieser Parabel das eiserne Rouleau vor dem Postschalter mit einem großen Krach niedergelassen, gerade in dem Augenblick, wenn du deinen Abholschein zückst und jenem Beamten mit dem Lächeln der Auguren vorlegen möchtest? Was war also der Sinn des Wartens, was der Sinn der Schicksalsgemeinschaft der Menschen, die das Wartenmüssen blind zusammengeschart hat und die in der gehörigen Ordnung zu halten sie Recht und Gesetz aufgerichtet, Strafen und Sanktionen ausgesprochen und ausgeübt haben?

Oder ist es die Parabel darüber, was sich die Menschen, wenn es Farbe zu bekennen gilt, eigentlich zu sagen haben, nämlich Lügen und Prahlhansgeschichten? Denn ein jeder mag vorgeben, Post von einer hochgestellten Persönlichkeit, von der reichen Tante in Amerika, von einem berühmten Gesicht des Boulevards zu erhalten, oder dem anderen die Nase lang machen mit Schilderungen des funkelnden, wertvollen Inhalts seines Pakets, wenn auch alles Talmi ist, was an diesen Geschichten glänzt.

Nun, auch dann war es immerhin ein Sinn des Wartens, sich die Zeit mit der Darbietung ausgedachter Geschichten und blendender Fiktionen zu vertreiben.

Oder ist es die Parabel darüber, wie alle warten, um am Ende von jenem Beamten mit dem Lächeln der Auguren das von der obersten Behörde amtlich besiegelte Todesurteil abzuholen, mit dem Tag und der Stunde, dem Ort und der Art der Vollstreckung?

Nun, auch dann war der Sinn des Wartens die Teilhabe an der blind zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaft der Wartenden und ihren fatalen Bemühungen, die Ordnung des Wartens durch Gesetz und Recht zu erhalten, und ihren kindlichen Versuchen, sich mit dem Erzählen von Witzen, Anekdoten und Geschichten, dem Trällern und Singen von Liedern oder dem mehr oder weniger unterhaltsamen, mehr oder weniger geschmacklosen Ziehen von Grimassen die Wartezeit zu verkürzen.

 

 

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