Skip to content

Die Wiederkehr der Seele

28.06.2015

Kein Mose, kein Platon und kein Darwin haben das Geheimnis der Seele gelüftet. Nicht einmal Sigmund Freud und seine Antipoden. Niemand zählt uns auf die Hand ihr Woher und Wozu. Wir haben aber im Zeugnis der großen lyrischen Dichter das Zeugnis ihrer Gegenwart.

Dass die Seele sich fühlt und jeweils in bestimmter Weise, ist die knappe und dürre Formel, auf die wir angewiesen bleiben.

Wir können das Rätsel selbst oder das Rätsel des Selbst, das sich im Selbstgefühl versteckt, nicht auf einen Schlag durchschneiden, sondern müssen uns damit behelfen, es von allen Seiten zu umschreiten und uns ihm wieder und wieder zu nähern.

Erst wenn wir das zart duftende Veilchen, das uns von weitem entgegenleuchtete, näher in Augenschein nehmen, gewahren wir plötzlich seinen Duft.

Schon Pythagoras erfasste das Gestimmtsein der Seele im Vergleich mit der Stimmung von Saiten der Lyra. Indessen dringen wir nicht tiefer, wenn wir die Spannung in der harmonischen Folge der Töne metrisieren. Wir müssen vielmehr den Vergleich ins Paradoxe überspannen und uns fragen, wie es wäre, wenn die Lyra selbst lebendig wäre und sich selber spielte, sich selber hörte?

Du warst bestürzt, in der Toreinfahrt die Taube liegen zu sehen, deren Kopf abgerissen und verschwunden war. In diesem Betroffensein wurde dir das traurige Schicksal des verendeten Vogels zum Symbol für das Schicksal allen Lebens, das sich vor dem Tode und dem Grauen des Todes nicht zu bewahren vermag. Du musstest dich und dein Leben einbringen und einfügen in das von dir Gesehene, um zur symbolischen Tiefe durchdringen zu können.

Ein Dichter könnte solch ein symbolisch erschlossenes Dasein um die Nuance oder den Schatten einer Metapher oder eines Bildes sprechender, ausdrücklicher werden lassen, wenn er das Wissen um die Tatsache, dass die Taube der Lieblingsvogel der Aphrodite ist, in die Stimmung der Trauer einfügt, die die Vergänglichkeit der Liebe in der Zeit umschattet.

Die spezifischen Modifikationen des Selbstgefühls wie Bestürzung und Trauer, Jubel und Freude, Langeweile und Angst sind auch die spezifischen Modi der Stimmungen des Gedichts. Das Selbstgefühl tritt nicht nackt und bloß in die Welt, sondern jeweils umhüllt und umhaucht von dem Stoff, dem Duft und Wind der Gegenwart. Der kühle Wind der Bestürzung bläst dir jetzt ins Gesicht, wenn der symbolische Gehalt des Gedichts, das du jetzt liest, zu dir durchdringt und spricht.

Sätze wie: „Ich habe es selbst so empfunden“ oder „Ich habe es selbst so wahrgenommen“ sind gleichsam Steigerungen und Intensivierungen der Sätze „Ich habe es so empfunden“ und „Ich habe es so wahrgenommen“, die ihren verborgenen, aber immer gegenwärtigen Selbstbezug ausdrücklich machen.

Wenn du nach der Lektüre des Gedichts sagen kannst: „Ich habe es selbst so empfunden“, bestätigst du die Wahrheit der Annahme, dass Gedichte zu verstehen bedeutet, sich selbst etwas besser zu verstehen, oder die Wahrheit der Annahme, dass Gedichte Medien der Selbstbegegnung darstellen.

Das Selbstgefühl wird schöpferisch, wenn es sich in der spezifischen Modifikation seelischer Zustände ausdrückt und sich Symbolen aufprägt, die es auf gelungene Weise zur Sprache bringen und mitteilen. Das Gedicht ist das Medium der Selbstmitteilung.

Es gibt nicht erst ein gewisses, vages und anonymes Fühlen, das sich früher oder später ein kühnes, autonomes Selbst gleichsam aneignet. Jedes Fühlen, jedes Empfinden ist schon Selbstbezug oder birgt ihn in sich.

Das Selbstgefühl, das sich selber verborgen und verhüllt an der Haut der Dinge gleichsam entlangtastet, nimmt im Gedicht die Schwerelosigkeit des Traumbewusstseins an.

Kein Gedicht ist eine einsame Monade, sondern jedes blickt auf seinesgleichen, auch wenn diese nur virtuell vorhanden sind. Deshalb kommen die gelungensten Exemplare in einer Gemeinschaft von mehr oder weniger nahe oder fern stehenden poetischen Schwestern zur Welt, mit denen sie gleich Sternen eine Konstellation oder ein Gesamtbild aufbauen. Darum reihen sich die Preislieder des Hohelieds zu einem Zyklus, daher Goethes Wort von seinen Dichtungen als den Bruchstücken einer großen Konfession.

Wir bleiben unbefriedigt zurück, wenn wir von einem Dichter nur immer wieder in das Einerlei einer einzigen Stimmung versetzt werden, und wünschen uns instinktiv die Selbstmitteilungen der Seele als variationsreich gesetzte und bunt gestimmte Polyphonie.

Sicherlich ist der animalische Kern unserer Seele zu Grundtypen seelischer Zustände aufgeschlossen. So kennen wir uns und unseresgleichen ohne es in der Schule gelernt zu haben als Bedürftige und Hoffende, als Ängstliche und Siegesgewisse. Aber auch dieser Kern zerfällt von Anfang an in eine strukturierte Mannigfaltigkeit von Zustandsvarianten.

Die Wiederholung, der Refrain, der Reim, sie bestätigen und sagen nicht dasselbe, sondern intensivieren und steigern das Selbstgefühl. Selbst das Ausbleiben der erwarteten Wiederholung, des Refrains, des Reims können zu dieser Form der Intensivierung und Steigerung beitragen.

Wir kennen uns selbst nicht ohne unsere Stimme, die wir hören, wenn wir reden, die wir sogar hören, wenn wir stumm mit uns selber reden.

Nachdem das Gedicht die ihm konventionell nach der Gelegenheit seines Vortrags zugemessene Weise und Melodie abgelegt hatte, verhallten das Echo des Klanges und der Gesang der Stimme nicht ganz, nur dass Klang und Gesang ihm nunmehr aus dem Wort selbst zugemutet und zugedichtet wurden. Im richtigen Aufsagen und Rezitieren von Gedichten will sich dieser innerliche Gesang Gehör verschaffen.

Das Gedicht bezeugt, dass sich das Leben der menschlichen Seele als Mitteilung von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr vollzieht. Wie das gesprochene Wort, wenn es etwas zu sagen und mitzuteilen hat, sein Ohr und Gehör findet, so entwirft sich die menschliche Seele im dichterischen Wort und empfängt sich dabei zugleich. Sie spricht sich aus und spricht sich zu.

Das dichterische Wort ist der Spiegel, ohne den sich die Seele unsichtbar bliebe. Gedichte sind Spiegelungen der Seele.

Im Gedicht sprichst du mit geliehenen Worten von dir selbst in einer Weise, die deine eigenen Worte an Klarheit und Innigkeit weit übertreffen.

Die Hand, die liebkost, liebkost sich selbst. Der Mund, der küsst, küsst sich selbst. Im Gedicht, das dich berührt, berührst du dich selbst.

Masken zu tragen war dem frühen Menschen für den Augenblick intensiver Selbstbegegnung vorbehalten: Das Tier, das er nun darstellte und in das er sich verwandelte, gebar ihm gleichsam die Seele aus dem Schoß der Seele. Das Gedicht ist die Maske, unter der sich die Seele neu gebiert.

Die großen Stoffe und symbolträchtigsten Dinge, die der Dichter auf das spezifische Selbstgefühl des Gedichtes stimmt, sind das Wetter und die Jahreszeiten, sind Sonne und Regen, Wind und Schnee, Pflanzen und Tiere. Mit dem Zauberstab der Metapher weckt er in solchen Stoffen das ganze seelische Leben in aller Fülle und allem Reichtum seiner Formen.

Die elende Taube mit dem abgerissenen Kopf beschwor uns im Gedicht die Trauer über die Liebe, die unter dem düster-engen Horizont des Todes und der Vergänglichkeit unerfüllt blieb. Sie fliegt, neugeboren aus einem anderen Gedicht, in die offen leuchtende Landschaft der sich selbst offenbaren, der wiederkehrenden Seele.

Comments are closed.

Top