Vom Zögern auf der Schwelle
Betrachten wir verwandtschaftliche Verhältnisse und die davon abgeleiteten Einstellungen. Es ist klar, daß für die Eltern und Großeltern die eigenen Kinder und Kindeskinder zum engeren Kreis der Familie gehören als die verschwägerte Sippschaft, denn diese ist eingeheiratet und nicht im eigentlichen Sinne verwandt. Wir können sagen, daß Heike und Uwe sich ähnlicher sehen und ähnlicher sind als Ernst und Helga, wenn es sich bei ersteren um Geschwister, bei letzteren um deren Neffen und Nichten handelt.
Wir finden heute im Bereich der biologisch fundierten Erforschung der Verwandtschaft einen Zweig des objektiven Wissens, die Genetik, die mit großer Sicherheit den Grad der Verwandtschaft feststellen kann.
Ansonsten verfügen wir für Geburten, die über zwei oder drei Menschenalter zurückliegen, im besten Falle über Stammbäume und Einträge in das Taufregister des Kirchensprengels, in dem das Kind geboren wurde. Gewöhnlich haben die Eltern den Eintrag im Kirchenregister vornehmen lassen. Doch nach der Devise Pater semper incertus ist nur die Mutter die einzige und echte Zeugin der Geburt ihres Kindes. Sie nur kann sagen: „Das ist mein Kind.“ Ihr Mann kann im strengen Sinne, wie es das altrömische Ritual des Aufhebens des Kindes vom Erdboden durch den Pater familias auf schönste vor Augen führt, die Vaterschaft und die Aufnahme des Kinds in den Kreis der Familie nur bestätigen.
Der Begriff der Familie und der Verwandtschaft im gewöhnlichen Sinne (nicht im technischen Sinne des genetisch fundierten Wissens) ist demnach im hergebrachten Sinne von der subjektiven oder Erste-Person-Perspektive der Mutter abhängig.
Wir wollen hier, ohne in die Breite zu gehen, darauf aufmerksam machen, daß die wichtigen Begriffe, die unsere Orientierung im Leben bestimmen, wie Liebe und Vertrauen, Intimität und Geborgenheit, Treue und Verpflichtung, Pietät und Andenken dem Wurzelgeflecht der Familie und somit dem Verhältnis der Eltern zueinander und der Beziehung zwischen Eltern und Kindern entstammen.
Freilich sind demgemäß auch die Gründe, die uns die Orientierung im Leben rauben, Feindseligkeit und Mißtrauen, Verwahrlosung und Unbehaustheit, Unfähigkeit zur Treue und zur Einlösung von Zusagen und Versprechen, Undank und Wildwuchs des Gefühls dem familiären Umkreis erwachsen, insofern und in dem Maße, wie er pathologisch vergiftet ist oder die Beziehungen zwischen Eltern und Nachkommen gestört und entfremdet sind.
Begriffe wie Liebe, Vertrauen, Intimität oder Treue und ihr Gegenteil können demgemäß keine bloßen Konstrukte und willkürlichen kulturellen Erfindungen darstellen. Denn sie gehen letztlich auf die natürliche Tatsache zurück, daß wir als schutzbedürftige, verletzliche und sterbliche Lebewesen von einer Mutter geboren wurden.
Die Begriffe, die unsere aus dem familiären Umkreis erwachsenen Formen primitiver Sittlichkeit prägen, sind nicht Prädikate einer vorwaltenden Eigenschaft, sondern solche einer spezifischen Relation. Wir können ihren Inhalt nur näher angeben, wenn wir beispielsweise sagen, daß der Mann die Frau liebt, das Kind den Eltern vertraut und der Freund dem Freund die Treue bewahrt.
Dabei bemerken wir, daß Einstellungen wie Feindseligkeit, Mißtrauen, Verachtung oder Untreue deviante oder entartete Formen der ursprünglichen Werthaltungen darstellen. Oft erwächst Feindseligkeit aus gestörter oder verratener Liebe, Mißtrauen aus mißbrauchtem Vertrauen, Verachtung aus enttäuschter Achtung und Untreue aus gedemütigter Anhänglichkeit.
Betrachten wir die Situation des Kinds, das die Wohnung und im übertragenen Sinne den familiären Umkreis als Schutzraum und gleichsam als warme Höhle physischer und psychischer Sicherheit erfährt und auffaßt. Dagegen wird das verstörte, vernachlässigte und mißhandelte Kind die eigenen vier Wände und darüber hinaus geschlossene Räume an und für sich, auch im übertragenen Sinne von Nahebeziehungen, als Gefängnis und Verließ empfinden. In diesem Mißempfinden wurzelt die Unfähigkeit zur Intimität oder die quälende Neigung zu Fluchtgedanken oder panischen Zuständen.
Symbole erschließen uns die Wirklichkeit und Wirksamkeit der menschlichen Ausgangssituation im Schoß der Familie. Tor und Schwelle geben uns das einfache Bild für die Problematik des Übergangs von Innen und Außen, Außen und Innen, die von der Geburt über das Heranreifen und den Aufbruch in neue Räume bis zur Rückkehr in den ruhigen Port des Alters und zum Tode reicht.
Das behütete Kind tritt anfangs gestützt und angeleitet von der Fürsorge seiner Lieben über die Schwelle, dann mutigen Schrittes allein, aber mit dem Gefühl, von unsichtbaren Händen bei jedem Zögern und Zagen gehalten zu werden, in die offene, ihm offen stehende Welt. Das verstörte Kind zögert lange bänglich oder weigert sich die Schwelle zu übertreten, auch wenn es die Höhle der Herkunft als Ort der Verlorenheit und Ausweglosigkeit erfahren hat. Es fühlt sich wie ein Nichtschwimmer, der vom unbarmherzigen Schicksal ins tiefe Wasser geworfen wurde. Es wird jede Einladung von wohlwollenden Menschen auf seinem verirrten Weg als Bedrohung auffassen, als wolle man es wieder in das Verlies seiner Kindheit sperren.
Je nachdem, wie wir den entscheidenden Übergang aus dem dunklen Mutterschoß ans Licht des Tages oder dem Schoß der Familie in die Welt eigenen Daseins erlebt haben, wird uns auch der Tod anders erscheinen, dem behüteten Kind verspricht er die gnädige Auflösung wie die Stille des Abends nach den hohen Erregungen des Tages, dem verstörten Kind ist er als sein verzerrter und höhnisch äffender Schatten am hellen Tage jederzeit gewärtig.
Es ist ihm selbst wenig tröstlich, doch uns wie ein Zeichen höher Gerechtigkeit, wenn wir bemerken, daß das zwar verstörte, aber musisch geniale Kind anders als das behütete oft die Gabe mitbringt, im Lärm und Zwielicht der Welt und trotz des Chaos in seiner eigenen Seele sublime Gebilde zartsinniger Harmonie hervorzubringen und uns mit Klängen oder Bildern edlen Sinns, liebenswürdigen Charmes oder gedämpfter Festlichkeit über das Ermatten und Verstummen vor dem Absurden hinwegzuhelfen.
Der eine mag uns auf einem Rastplatz der Lebensreise mit seiner vergnügten Geselligkeit und seinem Mutterwitz aufs angenehmste die Zeit vertreiben. Dem anderen, dem unter Gottes ehernem Himmel nicht zu helfen ist, den kein tröstlicher Schimmer im Verlies seines Herzens erreicht, vermag uns contre cœur mit den zerzausten Locken seiner Verse oder dem raschen Wimpernschlag seiner Tuschfeder zu betören oder zu trösten.
Wer unverstört aus der Liebe lebt, vermöchte ihr wohl weniger hohe und geistvolle Klänge und Bilder zu widmen als wer ihrer entbehrt oder von ihrer Kunde nur die kaum leserlichen Fetzen eines zerrissenen Liebesbriefes in Händen hält.
Doch können wir Mittleren am Abhang des Lebens uns nicht halten ohne des Maßes Mitte, wie wir es am Wohlwollen und der Zusage des Freundes genießen oder an der unscheinbaren Aster finden, die uns zarte Hand gepflückt.
Blendet allzu gewaltig die Sonne, bergen wir uns im Dämmer des Weinlaubs, das uns mit Schatten und Flüstern an den Schlaf gemahnt.
Prasselt Regen aufs Dach, öffnen wir das Fenster und strecken die Hand hinaus, ob uns die Tropfen noch an die Sommerabende der Kindheit erinnern oder ob sie uns kitzeln wie zärtlich uns huldigende Zungen.
Wir kramen endlich nicht mehr in den Erinnerungsfetzen unseres Lebens, als könnten wir im Sammelsurium von Skizzen und Fotos der untersten Schublade eine sinnvolle Reihenfolge ausfindig machen. Und könnten wir es, verstünden wir mehr?
Wir wollen unser Genüge finden am schmucklosen Becher, halb gefüllt mit dem herben Wein des uns Sagbaren, von dem wir zum Abschied die schuldigen Tropfen auf den Schoß der Mutter Erde schütten. Funkeln sie noch ein wenig in der Abendsonne, wenn uns das Dunkel schon umfängt?
Comments are closed.