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Auf den Spuren der Vernunft V

15.07.2014

Wir sagen: „Ich war ganz Ohr“ oder „Er spitzte seine Ohren“. Wir deuten an, dass jemand in einer unübersichtlichen Lage, wenn plötzlich sein Name fällt, aufhorcht oder hellhörig wird. Und einem, der für die nächstliegenden Argumente nicht zugänglich ist oder starrsinnig an einem Fehlurteil festhält, nennen wir harthörig und herrschen ihn an: „Du bist wohl taub auf beiden Ohren?“ oder „Wasch dir mal die Ohren!“

Den eindeutigen Sinn von „hellhäutig“ kannst du nicht doppelsinnig machen, indem du ein Analogon „hellhäutig2“ zu „hellhörig1“ bildest und „hellhäutig2“ jemanden nennst, der seine gesamte Aufmerksamkeit gleichmäßig intensiv über die ganze Oberfläche seiner Haut verteilt.

Die Variationen und Modulationen unserer Aufmerksamkeit merken wir dem Reichtum des Vokabulars an und ab, das wir zur Bezeichnung von Wahrnehmungsvorgängen verwenden. Der reichen Palette von Verben des Sehens wie erblicken, schauen, sichten, erspähen, beobachten, betrachten usw. steht eine relativ begrenzte Anzahl von Verben des Hörens gegenüber: hören, horchen, lauschen.

Wir erklären uns diesen semantischen Engpass auf dem Hörgebiet mit der Dominanz des visuellen Sinnes bei der Orientierung, der uns angesichts der etymologischen Herkunft des Wissensbegriffs (von der Wurzel von lat. videre) vor Augen geführt wird. Die Vorherrschaft des Sehens in den Regimen der Wahrnehmung beruht auf der Kraft der Diskriminierung, Identifikation und Unterscheidung von Gegenständen der Außenwelt: Wenn du nach dem gefragt wirst, was dir vor Augen liegt und über den Weg läuft, antwortest du spontan, ohne groß zu überlegen, gleichsam reflexionslos: „mein Schreibtisch“, „meine Kaffeetasse“, „mein Laptop“, „der Hund meines Nachbarn“, „meine Nachbarin“, „ein Müllauto“. Wegen des nisus ad visum, unserer Wahrnehmungsstärke durch das Augenlicht, ordnen und strukturieren wir unsere Welt als räumlich-zeitliche Struktur, in der uns physische Entitäten in komplexen Verknüpfungen und Abfolgen begegnen.

Wir wenden uns wieder dem Hörsinn zu und bemerken, dass er im Verhältnis zum Sehsinn stärker zeitlich geordnet ist: Alles, was uns ans Ohr dringt, hat einen Beginn in der Zeit, eine gewisse, wenn auch noch so kurze Dauer und endet schließlich mehr oder weniger abrupt oder ausklingend. Wir sind allerdings so vortrefflich auditorisch begabt, dass wir auch die Richtung, aus der der Schall uns trifft, mehr oder weniger präzise oder vage angeben können. In der Kooperation von Auge und Ohr, wenn es gilt, das von unserem Gegenüber uns Gesagte fein gegen das mimisch Ausgedrückte abzuwägen, haben wir es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht.

Wir wissen, aus welchem Frequenzbereich unsere Ohren uns Informationen einfangen können und wo für uns das große Schweigen beginnt. Aber das, was unter 20 Hertz für sich und ohne uns dahergrummelt, ist für uns kein Bestandteil der Welt – und deshalb auch nicht eigentlich dem Raum des uns unzugänglichen Schweigens angehörig. Wir bemerken Schweigen und Stille nur als Abbruch oder Pausieren von Geräuschen und Stimmen, gleichsam intermedial, nicht hypo- oder hypermedial.

Wir hören alle möglichen Arten und Typen von Geräuschen, die von natürlichen oder künstlich-technischen Schallquellen ausgehen. Wir sind oft auch in der Lage, rein durch den Hörtest, die Art der Quelle, ob natürlich wie den Donner oder künstlich wie das Autohupen, zu bestimmen.

Hört unser Schoßhündchen den Donner? Gewiss hört es ein dumpfes Grollen und Grummeln in der Ferne. Aber versteht es dieses akustische Signal als Anzeichen des nahenden Gewitters? So wie wir den aufsteigenden Rauch als Zeichen eines offenen Feuers interpretieren, deuten wir das vor uns gehörte schrille Quietschen von Reifen und den unmittelbar folgenden blechernen Krach als Anzeichen für einen Verkehrsunfall.

Gewiss wird unsere Interpretation der akustischen Wahrnehmung erst verifiziert und ins Reich der banalen Gewissheiten aufgenommen, wenn wir unsere Ohrenzeugenschaft durch unsere Augenzeugenschaft ergänzt haben.

Unter allen akustischen Signalen sind die sprachlich artikulierten Laute oder Phonemsequenzen, die an unser Ohr dringen, für uns außerordentlich wichtig, aus der umgebenden Geräuschkulisse herausgehoben und emotional und epistemisch prägnant.

Wir nennen das, was wir durch das Hören eines Zurufs oder Satzes verstehen, den durch den Ruf oder Satz ausgedrückten und repräsentierten Gedanken. Den ausgesprochenen Satz hören wir, nicht den Gedanken. Freilich ist der Gedanke nur insofern und insoweit vorhanden, als er durch die geeignete Kette von Phonemen (oder Schriftzeichen, die wiederum Phoneme darstellen) repräsentiert wird.

Wir ahnen, zwischen der Abfolge von physikalischen Frequenzen und der Abfolge von bedeutungstragenden Phonemen liegt der Schnitt zwischen Materie und Semantik. Die kausale Quelle des Schalls, der auf unser Trommelfell einwirkt, können wir nicht hören, hören können wir nur das Ergebnis des komplexen physikalischen und neurophysiologischen Vorgangs, der die Schwingungen der Gehörknöchelchen und die Stimulation der Haarzellen des Mittelohrs in neurale Inputs transduziert, die im Thalamus und den auditorischen Zentren des Cortex verarbeitet werden.

Die Musik lief schon eine ganze Weile im Hintergrund, aber erst jetzt vernimmst du die leise Melodie, wirst dich ihrer bewusst – und unwillkürlich verbinden sich Erinnerungen an Kindheitstage oder süße Empfindungen in einem südlichen Land an das Gehörte. Wie ein Vexierbild schwebst du mit deinem Bewusstsein hinter dem Hör- und Klangbild. Ebenso wenig, wie wir verstehen, wie das Bewusstsein aus der Materie auftaucht, verstehen wir, wie wir mit dem Gehörten sinnvolle Gedanken verbinden.

Wenn du in geselliger Runde das Weinglas hebst und der Gastgeber, der gerade an eurem Tisch vorbeigeht, ruft „Prosit!“, verstehst du diese Klangfolge richtig, wenn du annimmst, der Gastgeber äußere den Wunsch, dass dir der Wein munde.

Der Wunsch ist der intentionale Gehalt, der Gedanke, den der Gastgeber äußert. Du kannst diesen Gedanken verstehen und dein Verständnis zum Beispiel zeigen, wenn du dem Gastgeber freundlich zulächelst, du kann den Gedanken nicht verstehen, weil er dir mangels Kenntnis der deutschen Sprache verborgen bleibt oder du kannst den Gedanken missverstehen, wenn du entgegen der wirklichen Sprecherintention annimmst, der Sprecher habe seine Äußerung ironisch gemeint und der unausgesprochene Gedanke laute: „Mein Freundchen, jetzt reicht es aber, du hast doch schon genug getrunken!“

Der Gedanke ist nicht identisch mit der Instanz seiner aktuellen akustischen Realisierung: „Prosit!“ heißt, was es heißt, überall und immer, wenn es zum gegebenen Anlass vom richtigen Sprecher zum erfreuten Gegenüber hin ausgerufen wird. Aber auch, wenn es undeutlich und gerade noch verständlich oder mit wer weiß welchen dialektalen Einsprengseln und Klangfarben hervorgebracht wird, es überträgt dieselbe Mitteilung.

In der Symptomatologie und Diagnostik der Psychose gilt das Auftreten von visuellen und akustischen Wahnwahrnehmungen als eindeutiger Indikator für das Vorhandensein der Erkrankung. Der Patient deutet das Lächeln seines Gegenübers als Zeichen dafür, dass er zur Erlösung der Menschheit berufen ist. Der Patient deutet den freundlich gemeinten Zuruf des Gastgebers „Prosit!“ als Hinweis darauf, dass er sterben muss, wenn er das Glas austrinkt. In letzterem Falle ist die Kompetenz des Patienten, den semantischen Gehalt des Zurufs zu interpretieren, nicht eingeschränkt, er weiß, was der Ausdruck unter gewöhnlichen Umständen besagt. Aber das pragmatische und kommunikative Netz, das die Verwendung der Verlautbarung normalerweise trägt, ist zerrissen, das Verstehen des intentionalen Gehalts der Äußerung ist nicht durch die Bezugnahme auf die reale Situation eingeschränkt und definiert, sondern durch Bezugnahme auf eine wahnhaft imaginierte Situation abgelöst.

Wenn man annehmen darf, dass im verständigen Hören das Ich-Bewusstsein gleichsam mitschwingt und sich ausfaltet, deutet die akustische Wahnwahrnehmung darauf hin, dass das Ich-Bewusstsein des Erkrankten in der aktuellen Situation nicht mehr mitschwingt und unausgefaltet bleibt.

Wenn wir die Leistung der Identifikation und Diskriminierung von sinnvollen Gedanken mittels des verständigen Hörens als Leistung der Vernunft betrachten, müssen wir das Auftreten von Wahnwahrnehmungen der genannten Art als Symptom einer zumindest vorübergehenden Ohnmacht der Vernunft auffassen.

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