Die Sonate des Winds
Jeder stirbt an einer Krankheit, an der Unzählige vor ihm gestorben sind und Unzählige nach ihm sterben werden. In der Krankheit schmilzt am Ende die Maske der Persönlichkeit dahin. Werden wir dann frei zur Wahrheit, zur Unbefangenheit der Geste, zur Lauterkeit eines Sagens, das wie der von den Lippen des Blattes hüpfende Samen unseren Schmerz freigibt?
Der Lüge zu leben ist deshalb verführerisch und beinahe unwiderstehlich, weil die unscheinbare Wahrheitsprimel von so viel gleisnerischen Rosen überstrahlt wird.
Eine Kultur besiegelt ihr Ende, wenn sie unfruchtbaren Götzen Tempel errichtet und einem sterilen Schönheitsideal hermaphroditische Kulte stiftet, in deren berauschenden Zeremonien die Sinne abstumpfen und die Körper zu Gespenstern ihrer eigenen Begierden auszehren.
Demut hat ein Zeichen ihrer Echtheit: das Lächeln und die kindliche Freude des Schenkens.
Sich in die Sonate des Windes knien, sich peitschen lassen von den Sturmgeißeln der Birke, sich verirren im Geflüster der Regenkristalle, erblinden an den Palimpsesten des Schnees, betaut werden von grüner Stille, das letzte Klopfen des Herzens der blauen Klage des einsamen Vogels weihen.
Was sich im Zittern der Hand erspürt, im Beben der Lippen, die nicht wissen, was sie murmeln, im Frösteln der Haut, die sich an töricht verschwendete Küsse erinnert, im Blick, der sich, eine sterbende Biene, im samtenen Schatten des Vorhangs verirrt.
Der Wein, so vollkommen er sich der Bauchung und Ründe des Glases fügt, weiß nichts von Form und Gestalt. So, wie du gehst, fügt sich dein Leib vollkommen in die Bahnen des Lichts, die Figuren des Winds, du aber siehst sie nicht, du hörst sie nicht.
Die Zwillingsinseln lagen wie aus dem Nest gefallene Eier vor dem großen Kontinent, goldgrün die eine, mit zarten gelblichen Einsprengseln, ebenholzdunkel die andere, mit Einsprengseln von Feuerzungen. Auf dem einen Eiland hauste der Hirt, den Schwermut oder eine Untat hierhin verschlagen hatte, mit seiner wolligen Herde, und er lauschte dem Feuer des Abends und sang leise die wehsinnigen Lieder. Er nährte sich von Honig und Milch und den Früchten des Walds. Auf dem anderen Eiland, so raunten die Alten des Kontinents den Enkeln ins Ohr, wenn sie von der Fabrik heimgekehrt waren, Männer wie Frauen in grauen Uniformen, auf jener Insel lebe keine Seele, dort hause ein Dämon, der nachts unterm Mond mit kauzigen Pfiffen und entsetzlichen Schreien über die roten Dünen fliege, als ob er seinen eigenen Schatten jage. – Eines Tages entdeckt der Hirte die Kindfrau am Strand, wie von den Wellen angespült, von perlenkühler Schönheit, die Haut der Lenden aber war zerrissen wie von Dornen oder Krallen. Nun, da er sie gesund gepflegt und wohl genährt hatte, teilt sie Tisch und Lager mit ihm und hängt ihm an wie der Findling eines Fohlens. Mag der frühe Schrecken ihr die Sprache verschlagen haben, so vernimmt er ja ihr jauchzendes Wiehern, kehrt er abends in die Hütte zurück, oder ihr dunkles Glucksen, wenn sie sich in seinen Fellumhang krallt und nach Zärtlichkeiten leckt. – Dann kommt der Tag, da sie ihn wie ein vorauseilendes Hündchen immer tiefer in das Dickicht führt, bis zu einer Lichtung, umstanden von der hohen Stille der Eichen. Da zeigt sie ihm den kleinen Quell, der von blauen Kristallen sprudelt. Und sie schöpft ihm in ihren Händen davon, und er schlürft das kitzelnde Nass aus ihren Händen. Kaum hat er sie geküsst, umhüllt sie ihn in ihrer Nacktheit mit wonnedunklem Weh und schmerzerhellter Lust. So fällt er in Schlaf. – Da er erwacht, findet er sich in ödem Geröll und neben ihm ein zitterndes Lamm, das ihn dumpfsinnig anblökt. Er hat unter dem Kreisen des Mondes und der Gestirne nach der Verschollenen gesucht, er fand nicht eine Spur, nicht ein Zeichen. Auch der Hain und die Quelle waren entrückt. Da ging er hin, das Lämmchen zu schlachten und tauchte das abgezogene Fell ins Blut. Den Fetzen band er an einen Mast und hisste ihn hoch auf dem Berg der Insel. – Die Bootsleute, die das befremdliche Zeichen erblickt hatten, verbrachten den ausgezehrten Mann auf das Festland. Da nahm er von der Speise der Leute des Lands und kleidete sich in das Grau ihres Tags. Er ging mit ihnen in die Fabrik und abends saß er mit ihnen an den fleckigen Tischen und trank. Doch nie kam ein Wort über seine Lippen. Manchmal schloss er die Augen und ein dunkles Glucksen wie eines Tiers entfuhr ihm, dass sie sich entsetzten oder ihm einer den Bierkrug übers Gesicht schüttete.
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