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Apr 20 23

Die Metamorphose der Blüten

Den Geistern des No-Spiels zugeeignet

Weiße Blüten, die ins Leere fallen.
Weiße Blüten, Schnee auf Schnee.
Zwitscher, die im Frühlingsdunst verhallen.
Weiße Blüten, Schnee auf Schnee.

Rote Blüten, die sich flammend ründen.
Rote Blüten, Glut um Glut.
Schreie, die im Schilf des Sommers münden.
Rote Blüten, Glut um Glut.

Blaue Blüten, die Entrückte pflücken.
Blaue Blüten, Halm für Halm.
Seufzer, die im Rauch des Herbsts ersticken.
Blaue Blüten, Halm für Halm.

Weiße Blüten, die im Abgrund strahlen.
Weiße Blüten, Schnee auf Schnee.
Verse, die in Wintermonden fahlen.
Weiße Blüten, Schnee auf Schnee.

 

Apr 19 23

Der gerettete Dichter

Wie Rehe, die im Zwielicht grasen,
zieht fort von grellem Tand dich Scheu.
Welkt es auch in den irdnen Vasen,
du bleibst dem Ephemeren treu.

 

Wer war’s, der dich dem Sog entwand,
in dem wir uns im Kreise drehen,
die Worte uns vom Munde wehen
wie Wüstenwindes feiner Sand?

Hat dich der Gott mit Flügelschuhn
in blauer Nächte Lied gehoben,
Euterpes Lächeln dich umwoben,
im Moosgeschluchz mit ihr zu ruhn?

Magst schauen du, von Kuß zu Kuß,
wie ungeküßt wir blöde hampeln,
des Sturmes Puppen geistlos strampeln,
am Totentanz würz den Genuß.

Wenn uns der Malstrom gurgelnd schluckt,
ist, Dichter, dir im Azur schweifen,
dein Lorbeer darf am Tauglanz reifen,
der rinnt, wenn Samtnacht-Wimper zuckt.

 

Apr 18 23

Das weggeätzte Inkarnat

Ätzt man vom Wort das Inkarnat,
starrt noch im Nebel ein Gerippe,
ein Antlitz ohne Aug und Lippe,
des Sinnes aufgerissne Naht.

Es ist, was stumm umwogt den Traum,
Gezweig, der Furche Schmerz entsprossen,
sie kühlen, die herabgeflossen,
die Tropfen dir die Wunde kaum.

Die Hörner brach man von der Stirn,
hieb ab den Huf dem Ungeheuer,
es seufzt die Flöte aus im Feuer,
die Hirten zog an blauem Zwirn.

Die Sense hat im Schilf geblitzt,
der Spiegel brach, das Lied fiel trocken,
es bleiben, Dichter, dir nur Brocken,
woran bisweilen Bluttau schwitzt.

 

Apr 17 23

Verblassende Vignetten

Die Alte zerrt der Hund noch ins Revier,
und wo er tollt, weilt sie wohl unter Ranken
in wolkig knospend traurigen Gedanken,
bis ihr aufs Knie die Pfote legt das Tier.

Die Junge sitzt auf dem bemoosten Stein,
trinkt Veilchenduft aus unversandten Briefen,
ihr ist, als ob sie ferne Glocken riefen,
sie geht, bis sie verstummen, geht allein.

Der Knabe schleudert Kiesel auf den Fluß,
und wie sie weiterspringend Schaum aufsprühen,
will er zu Inseln, schilfumgrünten, fliehen,
doch sinken sie, wie er, der heimgehn muß.

Der Dichter aber öffnet, grau und müd,
das Fenster, und er streckt die tauben Hände,
ob er an Tropfen weiche Rhythmen fände,
ihm Regen sänge noch das trunkne Lied.

 

Apr 16 23

Der entflohene Gott

Du haust in Städten nicht, o Faun,
und die betäubt vom Markttumulte,
zieht leis kein Strom zu deinem Kulte,
daß sie am Wehhauch sich erbaun.

Der Öde des Asphalts entflohn,
wo Ziegenhufe widrig dröhnen,
folgst du den braunen Sonnensöhnen,
den Hirten in der Erde Fron.

Gen Ost zog ins Nomadenland
der Gott, aus Birken, weichen Weiden
der Flöte Zauberrohr zu schneiden,
wo Glanz er noch in Augen fand.

Den Geist der Andacht will er gleich
dem Blütenschaum auf dunklen Wellen,
die Myrte legt er auf die Schwellen,
vom Liebestau des Abends bleich.

In leerer Hinterhöfe Nacht
scheint geisterhaft herabzuquillen
ein Ton, das wunde Herz zu stillen –
fern hat ein Waldkauz nur gelacht.

 

Apr 15 23

Jahreszeiten der Seele

Verwobene Schatten, Büschel, blaß bestäubt
vom Schneegestöber fernwehkranker Pollen,
geblasen aus geplatzten Liebesknollen,
du irrst umher, schneeblind, du duftbetäubt.

Und zittert, blasse Sichel Schmerz, der Mond,
durch Rosenranken, wo du ihr’s gestanden,
hörst fern die dunklen Wogen du noch branden,
die weher Seufzer Abdruck nicht verschont.

Bang tasten Wimpern, Fühler, nachtbehaart,
durchs Knistern roten Blatts, Schlaf, Harz der Kiefer,
und Wärme strömt der Maus am Weinbergschiefer,
Herbst hat noch sanfte Glut dir aufgespart.

Schließ ab, an die vereiste Scheibe pocht
verzagend nur die bleiche Hand der Trauer,
aus blauem Krug trink milden Abschieds Schauer,
es flackert schon der abgebrannte Docht.

 

Apr 14 23

Die jähe Wendung

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Kann man das noch sagen: „Schwarze Romantik“, „Schwarze Madonna“, „Schwarze Anthropologie“, oder muß sich auch hier der alte weiße Mann die fahle Asche des Sünders aufs Haupt schütten?

Soweit er Tier ist, ist der Mensch mehr als Tier: Über-Tier, ein Monstrum.

Die Gewalttat, die Übeltat, der Mord – Kehrseiten der Fähigkeit zur Güte.

Und umgekehrt, nicht die gelähmte, die zurückgehaltene Hand rechnen wir dem Jähzornigen als Verdienst zu.

Tiere morden nicht, kennen kein Gesetz, bedürfen keiner mosaischen Tafeln.

Vom Guten, Wahren, Rechten wissen wir nur im Licht unserer Disposition und Fähigkeit zur Übeltat, zur Lüge und Gesetzesübertretung.

Vom Sinn reden wir wie Bewohner einer Insel, die rings von der Meeresbrandung des Unsinns umtost wird.

Das Tier gehorcht dem Instinkt, der Mensch dem Befehl; aber Instinkte sind anders als Befehle kein Teil eines Sprachspiels. – Die Redeweise vom Instinkt, dem das Tier gehorcht, zählt zu den unausrottbaren Anthropomorphismen in der Beschreibung tierischen Verhaltens.

Wer nicht hätte lügen können, hat nicht die Wahrheit gesagt.

Wer nichts hätte zerstören können, hat nichts erschaffen.

Insekten wie Bienen und Termiten errichten ihre erstaunlichen Bauwerke nach raffinierten genetischen Programmen; nicht anders Vögel ihre Nester. Der griechische Tempel und die römische Villa aber sind nicht nur Behausungen für Götter und Menschen, sondern anders als die Bauten der Insekten und die Nester der Vögel Teil einer symbolischen Ordnung.

Die Illusion des Traumwandlers, auf sicherem Boden zu gehen, läßt ihn nicht abstürzen.

Der Vers lichtet den Wald der Sprache, ein fremder Odem fällt aus den dunklen Wipfeln, die Halme der Zeichen erzittern.

Der Klebstoff der unwillkürlichen Assoziationen, mehr noch der konditionierten Bildverknüpfungen, läßt das Denken, wie die träge auf den Schiffsplanken schleifenden Riesenfittiche des Baudelaireschen Albatros, am Boden der Trivialität haften.

„Sie war schön und unglücklich.“ – Die Konjunktion „und“ kann eine Brücke sein, aber auch eine gefährliche Abzweigung.

„Sie war unglücklich, aber lächelte.“ – Die Konjunktion „aber“ kann wie eine unübersteigliche Hürde auftauchen, aber auch wie ein Wegweiser in unbetretenes Gelände.

„Aber. Ein Wegzeichen Hölderlins“ – diese sprachphilosophische Abhandlung ist noch ungeschrieben.

Pseudo-Dichter, die durch ungewöhnliche Wendungen, bizarre Metaphern-Tattoos, semantisch unauflösbare Knoten oder syntaktische Holzwege auffallen, Aufmerksamkeit erregen, provozieren wollen.

Die jähe Wendung hat ihren Ernst nur, wenn sie keine Willkür, kein eitler Exhibitionismus zur Schau stellt.

Die jähe Wendung, der schneegetränkte Föhnwind, der das semantische Rankenwerk erschauern läßt oder zerreißt, ein dumpfes Gurren, das den Frühnebel noch trüber scheinen läßt, der Schlag an die Pforte, wenn kein Gast, kein Bote mehr erwartet wird.

Erst wenn das Ticken der Uhr in der Dämmerung, das leise Tröpfeln des Wasserhahns jäh verstummt, nehmen wir es allererst wahr.

Erreichte er auch endlich die Schwelle, klopfte er an und beträte der Bote das dämmerige Zimmer mit der stickigen Luft, er beugte sich wohl nieder, wüßte aber dem Sterbenden nur eine Banalität ins Ohr zu flüstern, zu der sich die erhabene Botschaft im öden Brausen des Winds auf seinen langen Wanderungen entleert hat.

Der Dichter, der sich zum heilig-nüchternen Wasser der Bandusischen Quelle gebeugt, sich in einen Schwan verwandelt hat, um über die Grenzen der Länder und Völker zu fliegen, der glaubte, sich ein Denkmal, dauernder als Erz, errichtet zu haben, wird nicht einmal mehr, wie er befürchtete, von knöchernen Pädagogen müde feixenden Pennälern zur Schullektüre aufgenötigt.

Er sagte irgendetwas Beiläufiges, Marginales, aber mit einem vipernhaften Züngeln, das sie bewog, mit ihm das Bett nicht mehr zu teilen.

Das graue Haar, du magst es tönen, aber das ergraute Herz …

Das wieder und wieder aufgeblüht, das Bild der Rose ist alt, aber ihre Flamme scheint heute wie für einmal und immer entzündet.

Wenn die Kette der Verse reißt, rollen die Perlen hierhin und dorthin. – Ein Fremder findet noch eine, die im dämmernden Grase schimmert, im nächtlichen Moos, im Dung.

Unglücklich im Paradies.

Kurz nach der Geburt werden dem Säugling Aufzeichnungschips und Impulsgeber ins Gehirn implantiert, die jede Regung festhalten, erwünschte Motive und Handlungen durch Serotoninzufuhr belohnen und alle unerwünschten mittels Stressverstärkern und Depressiva bestrafen.

Ins Sprachzentrum werden semantische und syntaktische Katalysatoren eingepflanzt, die ungewöhnliche oder vom Normgebrauch abweichende Wendungen blockieren, erlaubte metaphorische und metonymische Verbindungen verstärken und zur Bildung von Klischees anregen.

Die digitale Weltherrschaft der Phrase.

Glücklich, wer redet, wie alle reden, denkt, wie alle denken.

Wer in entscheidenden Momenten und an gefahrvollen Wegscheiden, statt in den Singsang der Medien einzustimmen, schweigt, gilt als verdächtig und wird einer verschärfter Beobachtung unterzogen.

Das Gesetz gilt für überflüssig, der Abweichler bestraft sich selbst.

Die Polizeiwache ist ins Rückenmark gesunken.

Wie soll man, um mit Max Weber zu sprechen, die Verwaltung der allzu Vielen rationalisieren, ohne ihre Nervensysteme zu vernetzen?

Wer das Netz verläßt, begeht Suizid.

Schachfiguren, die spontan und willentlich zu handeln glauben, wenn die Spieler ihre Züge machen.

Zunächst werden noch Nachkommen aufgrund eugenischer Selektion der Gameten im Labor gezüchtet; dann ersetzt man auch die darwinistisch zufällige Mutation bei der Befruchtung der Eizelle durch eine algorithmisch zweckgerichtete.

Zunächst fördert man noch mittels weltanschaulicher Propaganda und pädagogischer Indoktrination die physiognomische und psychologische Verflachung und Einebnung der Geschlechterdifferenz; schließlich kann auf die Weitergabe der DNS in geschlechtlich definierten Körpern ganz verzichtet werden: Das nachgeschichtliche Zeitalter der miteinander vernetzten Neuromaschinen hat begonnen, in dem die biologische Zeugung durch eine Art algorithmisch gesteuerter Nervensprossung ersetzt wird.

Genetische Auslese und Säuberung durch konkurrierende Auswahlsysteme, Kriege und Genozide erweisen sich als Anachronismus, wenn sie durch die gezielte, aber automatisierte Abschaltung von Nervenzentren abgelöst werden.

Gott nennt man, was in den Nervenbahnen über alle Grenzen hinweg von Netz zu Netz als nervöser Strom fließt. – Wer mit sich selber spricht, gilt als blasphemischer Netzverräter.

Es ist sinnlos, von Entfremdung zu reden, wenn mit der Eigenheit des je eigenen Denkens, Fühlens und Sprechens der Begriff des Eigenen aus der Sprache verschwunden ist.

Das Eigene, was wir einmal Seele nannten, ist die Beimischung der spezifischen Empfindung des Atmenden in den Atemstrom, den er, unwissend, wohin er entweicht, redend, schweigend, träumend der Welt wie einen urtümlichen Tribut entrichtet.

Der Widerstand gegen die Enteignung kann sich in jähen Wendungen kundtun, etwa sich der peinlichen Frage zu entziehen und zu schweigen oder wie der Dichter Preislieder anzustimmen, wo rings die Flüche und Verwünschungen, die Klagen und Selbstanklagen wie Nesseln und Melde ins Kraut schießen und das Rankenwerk der Phrase den edlen Knospen das Licht nimmt.

Die jähe Wendung ist kein dialektisches Umschlagen, vom Begriff zum Gegen-Begriff, vom Wort zum Widerwort. Die Welle zieht sich zurück, das Watt dehnt sich vor uns aus und gibt den Blick auf die zurückgelassenen Bewohner der Tiefe frei, ferner und ferner verebbt das Rauschen. Doch hier ist kein Mond, dessen Wanderung uns die Rückkehr der Welle in Aussicht stellte.

 

Apr 13 23

Zerschnitten von der Sonnenklinge

Und seufzt das Gras, vom Hauch gerührt,
will auch das Wasser heller brausen,
die Blüte streift vom Saum das Grausen
und schauert, wenn den Strahl sie spürt.

Wie tief war unterm Schnee der Schlaf,
Kristall, Dianas stummer Spiegel,
es schmilzt, ein überflammtes Siegel,
das Lied, das Sonnenodem traf.

Tropft dumpf der Tau vom Blatt der Nacht,
will auch das Wasser dunkler schäumen,
der Knospe graust vor kahlen Räumen
und birgt im Schrein der Düfte Fracht.

Wie Lerchenflug zum blauen Grund,
Gesang, er ward, der Anmut Schwinge,
zerschnitten von der Sonnenklinge,
ein Flaum klebt noch am Schattenmund.

 

Apr 12 23

Sich leise öffnende Stanzen

Wär noch ein Pfad, auf weichem Gras zu gleiten,
der uns durch Rebenlauben höher führt,
daß wir ins Dämmerspiel von Ranken schreiten,
schon hat der Trauben Tau dich angerührt,
ich aber will den blauen Samt hinbreiten,
der dem azurnen deines Augs gebührt.
Wär noch ein Pfad, der uns, vom Graun umfangen,
zur Heiterkeit des Lichtes ließ gelangen.

Wär noch ein Licht, von stiller Hand getragen,
zu leiten uns aus einem Labyrinth,
wo Schatten nicht, nicht Worte Wurzeln schlagen,
sie wehen, Traumgespinste wirr im Wind,
wie könnte Blüten treiben, was wir sagen,
wie könnte sehen, wer von Tränen blind.
Wär noch ein Licht, das uns, die irrgegangen,
zum süßen Lied der Quelle ließ gelangen.

Wär noch ein Quell wie im Sabinertale,
wo tief die Eiche spaltet auf den Stein,
daß ihm der Nymphe Flimmercharme nicht fahle,
geopfert hat Horaz das Blut, den Wein,
und sprudelnder die moosumgrünte Schale
den Glanz ihm gönnte, Vates uns zu sein.
Wär noch ein Quell, wo sanfte Musen sangen,
wir knieten hin, den Heiltrunk zu empfangen.

 

Apr 11 23

Verwitterte Farben

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Weniger Drüse, mehr Analyse.

Wie tief der mystische Sinn der offiziellen Kirche gesunken ist, gewahrt man an der ubiquitären verächtlichen Entfernung des Lettners, der die heilige Handlung der Transsubstantiation vor den neugierigen Blicken der Gaffer geschützt hat.

Je mehr Östrogen, desto weniger Esprit. – Freilich das Umgekehrte gilt für Testosteron nicht.

„Deutsche Physik“ – ein Schlagwort der nationalen Sozialisten, das die Dummheit dieser Leute schamlos ausplaudert. – „Feministische Studien“ – ein Schlagwort der internationalen Sozialisten und Weltverbesserungschickeria, das sowohl von der Dummheit als auch der Realitätsverkennung kleingeistig-aufgeputschter Ideologen zeugt; beides dient dazu, den wissenschaftlichen Unwert solcher Pseudo-Forschungen zu bemänteln.

Das Gesicht, das sie nicht haben, können sie auch nicht verlieren. – Daher ihr Draufgängertum, ihr Zynismus, die Clownerie noch bei allen scheinbar ernsten Weltuntergangsrettungsunternehmen.

Idioten der Sprache, die man zu ihren Hütern auserkor, bezeugen ihre sprachgeschichtliche Unbildung, wenn sie „Greuel“ und „Quentchen“ mit -ä zu schreiben dekretieren.

Der Dichter sieht in der Narzisse den schönen Jüngling Narzissus, der sich selbstgefällig im Wasser spiegelt; er feiert die Eitelkeit einer Zerstreuung, die sich zum Höchstmaß der Selbstvergessenheit steigert, um im tragisch-schönen Untergang zu gipfeln.

Was Zahlen sind, wissen wir nicht, aber wir rechnen mit ihnen; und wenn wir uns verrechnen, stürzt die Brücke ein.

Die Religion der Natur, die Anbetung der Mutter Erde, ist der letzte sentimentale Firnis auf dem Bild, doch es zeigt schon fragwürdige Risse, Zeichen apokalyptischer Verwitterung.

Ein verwittertes Bild von Leonardo, wie sein letztes Abendmahl, läßt sich intuitiv und technisch leichter rekonstruieren als ein Tintoretto oder Raffael.

Wenn wir die Zeit nach dem Muster des Raums zergliedern, sie nach unten brechen oder nach oben erweitern, erreichen wir nie die Abszisse der Gegenwart oder die Ordinate der Ewigkeit.

Wenn wir die Zeit nach dem Muster der euklidischen Geometrie beschreiben, verschwindet der Augenblick in einem ausdehnungslosen Punkt.

Die Wildrose der natürlichen Sprache haben Generation um Generation geschickte und geniale Gärtner zur wundersamen Rosenpracht der hohen Dichtung in der sublimen Mannigfaltigkeit von Formen, Farben und Düften emporgezüchtet.

Manchmal, wenn wir die Geste einer bescheidenen Huldigung wagen, ziehen wir das schüchterne Veilchen der stolzen Rose vor.

Der Garten ist verwildert, die Rosenblätter von Raupen zerfressen; der Gärtner liegt, von Rotgardisten als Verkörperung der alten hierarchischen Ordnung erschlagen, im Gras, eine Maus nistet in seiner Jackentasche.

Daß sich die schwarze Seele in den französisch-afrikanischen Dichtungen der Négritude, der Stimme einer Ella Fitzgerald und der Trompete eines Luis Armstrong offenbart – das verstehen sie vielleicht noch. Aber daß sich in den Dichtungen eines Pindar, Dante oder George, in der Musik eines Josquin Desprez, Wagner oder Bruckner die weiße offenbart, das ist ihnen geradezu unaussprechlich, ein Anathema und ein Greuel des Denkens.

Das Gute ist das Edle; die hohe Dichtung entspringt dem Geist des Adels, so die Hymnen Pindars, die Oden Sapphos und die Lieder der Troubadours.

Goethe hatte immerhin noch die Gebildeten des Hofs zu Weimar als mehr oder weniger andächtige Zelebranten und Ministranten oder Statisten; George mußte sich in der schwülen Atmosphäre des Fin de Siècle eine künstliche Hofgesellschaft erschaffen und erdichten.

Der Ackergaul und das Zirkuspferd, das Arbeitslied und das Ritornell; der Löwenzahn und die Lilie, der Gassenhauer und die Ode. – Die Genealogie der dichterischen Formen aus dem Geist der ästhetischen Zuchtwahl und der kulturellen Pfropfung ist noch ungeschrieben.

Freilich, ohne die Wildform keine hochgezüchtete. Und die Gefahr der Degeneration steigt mit dem Grad der Verachtung der Züchter und Gärtner.

Was ist römisch an den griechischen Odenstrophen des Horaz? – Das Baumeisterliche in der Fügung und Stufung, der Mörtel der Ironie, die Ringkomposition.

Die Schreckbilder der Chimäre und der Medusa, das unterirdische Beben und Grollen der Titanen und Giganten, das Schattenreich des Acheron sind die spiegelbildliche Kehrseite der schönen plastischen Gestalten von Heroen und Göttern, des Gesangs der Quellen, Nymphen und Musen, des rosigen Schimmers im Gipfelschnee des Olymps. – Das eine bricht regelmäßig ins andere ein, im trunkenen Tanz und Johlen der Mänaden, ja, es strömt wie Blut und Milch ineinander, vermischt und überlappt sich wie das Röcheln der Sterbenden und der Gesang der Nachtigall in den Chorliedern der Tragödie.

Dreht man den Teppich der Dichtung um, gewahrt man anstelle der filigranen Muster und von ihnen umrankten Traumgestalten ein Gewirr scheinbar blind laufender Fäden und ein Chaos löchriger Netze.

Nur ein dummer Zeitgeistgelehrter tut irritiert ob des Anfangs der Ars poetica des Horaz, als könnte die hingetuschte Zeichnung einer paradoxen Mißgestalt als Einspruch gegen die klassischen Maße und Gewichte der Lehre des Meisters gelten; sie ist kein Einspruch, sondern ihr artistisch mit leichter Hand entworfenes symmetrisches Kehr- und Kippbild.

Die Chimäre gehört zur klassischen Ordnung wie der hinkende, rußige Hephaistos zur glänzenden Anmut seiner Gattin, wie der Pestpfeil des Apollon und der Liebespfeil des Eros, wie Achill, der einsam in seinem Zelt zarte Lieder singt und löwenhaft im Feld die Gegner zerreißt, wie der Adler zu Prometheus und die Sphinx zu Ödipus.

Es war die gipsern-frigide Tünche eines anämischen Schulmeister-Humanismus über der Wahrheit des Mythos, die Nietzsches Hammer abgeschlagen hat; den zarten Rissen und verräterisch pulsierenden Härchen auf der Haut der Dichtung einer Sappho, eines Vergil oder Horaz nachzutasten und dem rätselhaften Delta der Venen, das ihr weiches Inkarnat durchschimmern läßt, nachzuspähen, fehlte dem atemlosen Empörer die Geduld.

Das Haus der Sprache schwebt kopfüber in der Luft.

Einer nennt einen Grund, ein anderer einen Gegengrund, beide stehen hart, entschlossen, mit offenem Visier gegenüber; erst ist es ein Spiel, dann geht es in Streit und Gewalttaten über, die man nur zu befrieden vermöchte, nicht indem man einen Grund als alleinseligmachende Wahrheit deklariert, sondern indem man beide Gründe ausblendet.

Daß wir unsere Sache auf nichts gestellt haben ist eine schwindelerregende Einsicht.

Der Grund, auf dem wir stehen, ist nicht sicherer und fester als im indischen Mythos die Schildkröte, auf der die Erde ruht, und der Elefant, auf der die Schildkröte ruht. – Die Hoffnung, einen sicheren Grund zu finden, ein fundamentum inconcussum, kann keine Mythologie, keine Theologie und kein rationales Denken einlösen. – In dieser seltsamen Lage eines Ganges auf dem Hochseil, das selbst aus nichts als Träumen gesponnen ist, nicht zu verzagen und in den Abgrund zu stürzen, sondern uns in Heiterkeit und Gelassenheit zu üben, kann man als Quintessenz so unterschiedlicher Denkwege wie derjenigen Heideggers und Wittgensteins betrachten.

Je höher wir steigen, umso weiter geht der Blick ins Land, doch umso undeutlicher wird, was wir aus der Nähe betrachtet haben. – Im gleichen Maß, wie sich unser Wissen in einem Bereich erweitert, gewahren wir unbetretene, ja unbetretbare Bereiche des Nichtwissens.

Wir haben die Erde umsegelt; aber der Horizont unseres Wissens wandert stetig mit uns weiter.

Wir haben keinen Begriff von der Zahl, dennoch rechnen wir; wir haben keinen Begriff vom Augenblick und sprechen gleichwohl sinnigerweise vom Kairos oder vom Wunsch, zum Augenblick zu sagen: „Verweile doch, du bist so schön!“

Mozart konnte nicht darüber befinden, Mozart zu sein.

Als müßte der Gedanke in einem Sprung das Unendliche durchmessen, um wie Achill die Schildkröte das Endliche einzuholen.

Als wäre im System der Sprache jeder Satz die Auswahl aus einer unendlichen Reihe ähnlicher Sätze.

Wir bedenken nicht, daß die Antwort, die wir von der Natur oder der Geschichte oder dem Leben erhalten, nicht wie das Echo eines Rufes ist, das unsere Frage nur nachäfft und reflektiert, sondern wie die Spur des Wanderers im Schnee, die uns verrät, aus welcher Richtung er kam und in welche Richtung er ging.

Wir bedenken nicht, daß unser Gesprächspartner von unserer Frage oder Darlegung geleitet, manchmal einen von uns nicht einmal geahnten Aussichtspunkt erreicht, von dem er weiter sehen kann als wir selbst.

Freilich, wenn wir unser Gegenüber nur lange genug pressen, gibt es uns die Antwort, nach der unsere Angst und unsere Eitelkeit verlangen.

Scheinfragen sind entweder redundant wie die Frage des Prüfers an den Prüfling, deren Antwort er kennt, oder blind, wie die hartnäckigen Warum-Fragen des Kindes; die echte Frage muß hier eine Mitte finden, darf weder überflüssig noch orientierungslos sein.

Pascal ohne Gott.

Was stünde im Mémorial eines Pascal, dem sich die Transzendenz in einer Welt ohne die Kenntnis der jüdischen Bibel oder einer Welt ohne Paulus und Jansenius geoffenbart hätte? – Was ließe sie in diesem Falle abgrenzen gegen den Gott der Philosophen und Gelehrten?

Das Unendliche offenbarte sich Blaise Pascal in einer endlichen Zeit (von 22.30 Uhr bis 0.30 Uhr am 23./24. November 1654) unter dem Zeichen des Feuers. Wer wüßte die Natur dieses Feuers zu benennen?

Das Feuer-Zeichen Pascals ist von der ontologisch außerordentlichen und epistemisch eigentümlichen Art, daß ohne das Zeichen das, was es zum Ausdruck bringt, nicht zum Ausdruck gebracht werden könnte.

Wir können den Ausruf „Aua!“ durch die Aussage „Das tut mir weh“ nicht ersetzen, sondern nur übersetzen.

Wir können das Mémorial Pascals in alle möglichen Sprachen übersetzen, nicht aber das mit „Feuer“ Gemeinte mittels beliebiger anderer Symbole wiedergeben.

Das Feuer Pascals ist wie die Rose Dantes, die Blume des dichterischen Worts, die keinen Duft verströmt, ein Feuer, das weder verzehrt noch erlischt; wie der Schatten des Denkers, der all seine Gedanken begleitet.

Das Empfundene enthält, wie die Falte des Blatts den Tautropfen, den Empfindenden, den Tropfen des Ich.

Den Tropfen weht der Wind im Nu vom Blatt, den Tropfen des Ich der Sturm des Schicksals; doch im Unterschied zum natürlichen Tropfen, könnte man mit Pascal sagen, spiegelt sich, wenn auch nur für einen Augenblick, im endlichen Tropfen des Ich die Unendlichkeit des Alls.

Die Grundfiguren des Daseins in Raum und Zeit erschließt uns die Intuition, nicht die Vernunft: die Vernunft zergliedert sie, indem sie ihre analytischen und synthetischen Methoden gleichsam wie ein Netz in den Fluß eintaucht; doch die lebendigen Gestalten, die es an Land zieht, hat sie weder konstruieren noch auch nur vorausahnen können.

Lektüre als drogenartige Form der Zerstreuung; moralische Dauerempörung, krakeelend-fuchtelndes soziales Engagement und rhetorisch-heiser belehrender politischer Aktionismus als medial verstärkte und kommunikativ gratifizierte Formen der Zerstreuung; Geschlechter-Blinde-Kuh-Spiele, erotische Akrobatik und sexuelles Athletentum als besonders degoutante, aber voyeuristisch vor dem Spiegel der faszinierten Öffentlichkeit vollzogene und sich als umstürzend-wagemutig aufspielende circensische Formen von Zerstreuung; ja noch devote und servile Unterwerfung unter anerkannte kirchliche oder häretisch-geheime Kulte als im Gewand der Frömmigkeit verkleidete eitle Formen der Zerstreuung.

Was finden wir in der unersättlichen Gier nach Zerstreuung? Die Unfähigkeit zur Einsamkeit und der allzu verständliche Widerwille des aufgeblähten, aber hohlen Ego, sich selbst zu genügen; die Angst vor dem Tod und der wahren Gewißheit der Bedeutungslosigkeit des ephemeren Daseins; den Schrecken vor den Abgründen der Banalität und des Irrsinns, die als plaudernde Nachbarn in unserer warmen Küche sitzen. – Keine Gnade gewährt uns das Feuer, das die Trugbilder verzehrt; und jene Musik, die das helltönende Narrenglöckchen in unseren Köpfen zu übertäuben vermag, die Musik Bachs, Mozarts, Schuberts oder Bruckners, kann nur für Augenblicke der Selbstvergessenheit die Unruhe aufgrund der Gewißheit der endgültigen Auslöschung mildern.

Der trübe Firnis über den Bildern der Erinnerung läßt nur verwitterte Farben durchscheinen; wir wagen es nicht, ihn mit dem scharfen Griffel der Analyse abzukratzen, aus der begründeten Furcht, mit dem kümmerlichen Rest der Farbschicht das ganze Bild auszutilgen.

 

Apr 10 23

Laß liegen mich, o Herr, im Grab

Und gründest du dein Friedensreich,
wo Löwen grasen mit den Lämmern,
um Liebende die Lauben dämmern,
steh ich am Tor, das Antlitz bleich.

Mich blendet goldenen Kelches Schrein,
die Hymnen singend um ihn kreisen,
sie müssen ihres Chors verweisen,
der trunken lallt von herbem Wein.

Schwebt weiß die Taube im Azur,
hör flattern ich noch Habichts Schwingen,
die Schreie der Verdammten dringen
aus Gluten öder Aschenflur.

Weht blau der Holden samten Vlies,
wölbt es Gesalbten sich, die knien,
will ich zu meinen Hirten fliehen,
die Pan nicht ließ ins Paradies.

Glüht auch die Rose in der Nacht,
von der ein hoher Geist gesungen,
das Auge wend ich, schmerzdurchdrungen,
hat man kein Totenlicht entfacht.

In Dämmerung sink ich zurück,
wie zarte Knospe auf die Welle,
ein Veilchen auf der Liebsten Schwelle,
ein Duft sagt, Träumen nur ist Glück.

Tauch endlich ich zum dunklen Grund,
hat stumm die Knospe sich geschlossen,
die schön zu lieben aufgesprossen,
doch keiner flocht mit ihr den Bund.

Hat sich dem Wurm der Geist vermählt,
mag er, betäubt, nicht auferstehen,
wenn Fittiche auch wunders wehen,
genug hat Phöbus’ Flug gequält.

Und stürzt dein Engel auch herab,
zu heben mich aus Finsternissen,
das Herz des Dichters ist zerrissen,
laß liegen mich, o Herr, im Grab.

 

Apr 9 23

Verwilderter Garten

Von Schattenlaub umwuchert dicht,
hofft es vergebens, daß es glühe,
ein Nebel blakt, der Dunst der Frühe,
das Rosenwort, es fleht um Licht.

Der Gärtner liegt in Schlaf gebannt.
Wie lange schon, wie lang? Kein Schwingen
von Halm und Fittich kann ihn zwingen,
er ward sich selber unbekannt.

Rost frißt die Harke, das Gras ist naß.
Wer wird sie reinigen, die Zeilen,
wer kann von Bitternis sie heilen,
vom schwarzen Mohn, von Nesseln blaß?

Der Gärtner schläft, sein Traum ist dumpf,
die zarte Ordnung scheint verloren,
die sich das stille Licht erkoren,
Gequake schlüpft, kreißt nachts der Sumpf.

Die Rhythmen wogen monoton,
die Tage reihen Rätselranken,
an denen nächtlich Blüten schwanken,
ihr Duft ist beißend wie Ozon.

Ein schwarzer Engel kommt und pflückt
die gleisnerischen, sie zu streuen
auf samtene Säume der Getreuen,
die nie sich in den Staub gebückt.

Der Gärtner, der im Grase liegt,
hat ihn der grelle Blitz erschlagen,
geknebelt dunklen Grollens Fragen,
ob Chaos nicht den Geist besiegt?

Kein Stern sagt noch der Quelle „Quill!“,
den Schläfer deckt ein weißes Leinen,
der Schnee erstickt der Erde Weinen,
im Garten ist es still, so still.

 

Apr 8 23

Volieren öffnet uns die Nacht

Kein Fels, nichts, was die Strömung hemmt,
kein Grashalm schwirrt, uns festzuhalten,
die Ufer bilden Traumgestalten,
von weißen Blüten überschwemmt.

Auf Höhen ist ein Schnee getaut,
die Wasser sind noch grün von Moosen,
und Knospen Schaums wie Alpenrosen
dem weichen Schwanken anvertraut.

Der Sommerwind ist lau, laß nackt
von goldenen Flossen uns hintragen,
und gleiten wir, wo Ranken ragen,
hat Schatten wild die Haut gezackt.

Volieren öffnet uns die Nacht,
und um uns flattern süße Sänge,
vertan der Tag, die öden Gänge,
wir sind des Großen Wagens Fracht.

Und finden wir die Lerche tot,
vom Habichtschnabel aufgerissen,
magst eine Feder du noch küssen,
ihr Lied steigt schon im Morgenrot.

 

Apr 7 23

Wort der Dichtung, Wiederkehr

Dem Andenken an Georg Friedrich Jünger

Wort der Dichtung, Wiederkehr,
von einer Welle fortgetragen.
Um keine Blüte mußt du klagen,
die Schwester bringt sie wieder her.

Und ist verwandelt die Gestalt,
der holden Augen blauer Schimmer
wird dunkel unterm Tau noch immer.
Der Blick ist jung, das Bildnis alt.

Kristall schenkt wohl den reinen Klang,
fern ist sein Funkeln, kalt-erhaben.
Und öffnest du die weichen Waben,
bricht ab der summende Gesang.

Hell aus dem Abgrund springt hervor
der Muschel magisches Gewinde.
Es schmilzt des Daseins dunkle Rinde,
braust dir der blaue Ton im Ohr.

Der Sinn ist einfach und geheim,
wie Chiffren eines Liebesbundes,
wie Seufzer eines scheuen Mundes,
der sie verhüllt im Ranken-Reim.

Schließt du das Buch, zerreißt den Taft,
den Wandschirm vor den hohen Strahlen,
magst du auf losen Blättern malen
mit Umbra, Ocker, Mohnes Saft.

Und kommt der Mond, die Farbe blaßt,
ins Blütenlose mußt du schreiten,
sie kehren auch, dich heimzuleiten,
die Schatten, die geliebt du hast.

Die Welle steigt, die Welle sinkt,
dein Wort sei nur der Schaum der Blume,
der Tau, dem Rätsel Licht zum Ruhme,
den sich zu fühlen Erde trinkt.

 

Apr 6 23

Die Knospe Reim

Schab wie von einem Palimpsest
den Grindbelag aus Fett und Phrasen,
was wir im Feuilleton schon lasen.
Vielleicht bleibt noch ein Odenrest.

Preß heiß ans Ohr den Muschelmund,
hat dich Sirenensang umflossen,
doch ist aus Plastik er gegossen,
zertritt den eitlen Jahrmarktsschund.

Wie Scheite schichte Wort auf Wort,
laß in der Dämmerung sie glühen,
selbst dumpfe seufzen, dürre sprühen,
die Hülse stiebt in Funken fort.

Des süßen Namens Blüte laß
auf dunklen Wassern heimlich treiben,
und kann am Ufer sie nicht bleiben,
fern sieh den Schimmer, lilienblaß.

Vertrau der Erde nur den Keim,
und siehst du selbst ihn nicht mehr grünen,
du schlummerst ein und träumst, wie Bienen
sanft summen um die Knospe Reim.

 

Apr 5 23

Im Gipfelschnee

Schweratmend steigen wir hinan.
Es schwand mit Laubes Liebesschauern
auch bleiches Klagen vor den Mauern,
wo er uns leuchtet, Enzian.

Noch quillt im Nebel fahles Licht
wie Rätselschaum aus schroffen Zeilen,
ein Strahl weiß gnädig ihn zu teilen,
und lächelnd klärt sich das Gedicht.

Kristalle röten sich im Schein
des Abendhimmels und die Stille
blaut tiefer als Vergils Idylle,
schmeckt herber als Horazens Wein.

Und blicken wir vom schmalen Grat,
ein Kiesel stürzt hinab das Sehnen,
an warme Schatten uns zu lehnen,
umspult von Amors Silberdraht.

Schon blüht der Schnee im kalten Mond,
und wenn wir heiter abwärts gehen,
die blaue Blume bleibet stehen,
vom schwülen Dunst des Tals verschont.

 

Apr 4 23

Als käme eins noch zu Besuch

Dem Andenken an eine Kriegerwitwe

Als käme eins noch zu Besuch,
hast du die Fliesen blankgescheuert,
mit roten Knospen sanft befeuert
den Schnee auf dem gestärkten Tuch.

Es seufzt im Herde auf ein Scheit,
und Schatten sind, die träumend wandern,
laß Mondes Blicke still mäandern
auf deinem zart geblümten Kleid.

Zwei Gläser hast du hingestellt,
zwei Rosen ragen in der Vase,
ein Bausch aus transparenter Gaze
hat sich vor seinem Bild gewellt.

Selene, die Traumbilder liebt,
hat Glas um deinen Schmerz gegossen,
wie ein Insekt, von Harz umflossen,
hat er das feuchte Gold getrübt.

O schrick nicht auf, als hätte wer
gepocht an der vereisten Scheibe,
es war nur eine Hand der Eibe,
die müde sank, von Rätseln schwer.

Die Tür laß zu, kein Lied ist sacht
auf öder Schwelle dir erklungen,
ein Eiskristall nur ist zersprungen
in deines Herzens Brunnenschacht.

Es funkelt kalt der Venus Blick
auf die verscharrt, fern, ohne Amen,
aufs kahle Kreuz mit seinem Namen.
Er kommt nicht mehr, nicht mehr zurück.

 

Apr 3 23

Auf dunklen Wassern

Auf dunklen Wassern laß uns schwanken,
wenn ruderlos das trunkne Boot
seufzt in die hohe Sommernacht,
und weiße Blüten fallen sacht,
geflammt vom tiefen Abendrot,
die auf den dunklen Wassern schwanken.

Und Wange schmiegen wir an Wange,
die sanften Augen wurden blind,
der Fenster heimatlicher Schein,
wenn uns der Liebe Glanz allein,
die schwesterliche Träne rinnt,
glüht zwischen Wange sie und Wange.

Wir fühlen zarte Schatten ranken,
wenn unser Boot ins Schilfrohr bricht
der Insel, fremd und namenlos,
und wandeln wir auf weichem Moos,
schäumt heimlich uns ein Blütenlicht
aus Lauben zarter Schattenranken.

 

Apr 2 23

De gustibus examinandis

Die heikle Zunge prüft den Wein,
ob er zu Hymnen inspiriere,
ob er den edlen Geist vertiere,
sublim schmeckt ihr, was ungemein.

Die feine Nase widert Rauch
und der Plebejer Zotendünste.
Doch blühen wieder Sapphos Künste,
blaut unserm Vers ein Veilchen auch.

Der helle Spiegel macht uns blind,
taub Speien blecherner Tritonen.
Wo Schwäne still bei Blüten wohnen,
weht um uns Duft von Versen lind.

Der Schnee des Auges wurde rot,
ein Wortgelall hat Spreu geblasen.
Ophelia versank in Phrasen,
grell schrie das Fleisch, der Geist war tot.

Die Ars poetica wirft Licht
ins Schattenlaub verholzter Sinne,
sie lehrt, wie Tau und Anmut rinne,
rankt himmelan sich das Gedicht.

Der Vers entsteht nicht im Labor,
ist kein Gespenst aus Algorithmen,
er zieht hinaus auf Wellen-Rhythmen,
er kehrt zurück in fremdem Flor.

Erst wenn die Furche, die versehrt,
umschattet ist von Bitterkräutern,
erst wenn die Sinne Sonnen läutern,
keimt auf das Wort, das uns ernährt.

 

Apr 1 23

Dunkler See und wilder Garten

Das Dichterherz, ein dunkler See,
da blühen Wolken auf und fahlen,
da kreisen Knospen, leise Schalen,
wie Monde rund, gefüllt mit Schnee.

Und fragst du, ob kein Lied erklingt,
hör, wenn den Schaum von Wogen fegen
und Tropfen klatschen Wind und Regen,
hör, wie Diana Wäsche wringt.

Das Dichterherz, ein Garten wild,
wo schwermutblaue Schatten ranken
und Schnäbel um das Fallobst zanken,
wo goldner Duft um Totholz quillt.

Und fragst du, ob ein Vers noch glückt,
hör nur der Mäuse Angstgequieke,
die herben Rhythmen der Antike,
wenn Pan die zarten Gräser knickt.

 

Mrz 31 23

Voglio vedere le mie montagne

Dem Andenken an Giovanni Segantini

Die Striche sprühen feinen Staub und Sand,
ein Sturzbach schäumt durch Inkarnat und Falten.
Bevor die frommen Strahlen uns erkalten,
birgt deine Demut sie mit bloßer Hand.

Die Farben haben Poren, atmen Licht,
daß sie sich fühlen, sinkt ein Flockenschneien
auf Schläfen und auf Wangen. Nackt im Freien
blüht jedem Ding und Wesen ein Gesicht.

Vor hohen Gipfeln steht die Kreatur,
wenn auf den schneebedeckten Matten singen
die lichten Wasser, und die Blicke springen,
den Augen, die sie spiegeln, auf der Spur.

Und tropft vom Himmel Stille auf das Bild,
sinnt tief der Hirt, das Ave spricht der Bauer.
Die Wolke schläft auf weißer Felsenmauer,
den Toten trägt man übers Schneegefild.

 

Siehe:
https://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Segantini

 

Mrz 30 23

Dem Dichter bleibt der dürre Halm

Die Distel blüht in Staub und Ruß,
der Fahrtwind schüttelt sie, vorm Sprühen
der Schienen muß sie niederknien,
sich neigen hin in stummem Gruß.

Dem Dichter glimmt das Wort im Staub,
wie Kindern Katzengold auf Pfaden,
doch willst du, Vers, im Blauen baden.
Die Schatten teile, Hauch, das Laub.

Des Armen Tisch kennt nicht den Flaum
von Goldbrokat, nicht Silberschimmer,
doch hellt ihm auf das dunkle Zimmer
im irdenen Krug der Lilie Schaum.

Dem Dichter bleibt der dürre Halm,
ihm dämpft vergilbter Gräser Dämmern
die Gluten nicht, das heiße Hämmern.
O tropfe, Sternenlicht, den Psalm.

 

Mrz 29 23

Das verschollene Grab des Dichters

Hat sich die Rose auch geneigt,
als wär das Rauschen dunkler Bronnen
in fernem Verse sanft zerronnen,
ein Duft ist noch, der ahnend steigt.

Noch wollen wir den süßen Schein
der Flamme vor dem Grabmal hüten,
noch glänzt der Tau an Veilchenblüten,
die Träne auf dem grauen Stein.

Und kommt die stumme Zeit und hüllt
die Erde unter weiße Linnen,
erstarren wir an Geist und Minnen,
geborstene Krüge schneegefüllt.

Und schien verschollen schon das Grab,
weckt uns Gesang von Nachtigallen,
als würden goldne Tropfen fallen
aus trunkenem Laub zum Grab herab.

 

Mrz 28 23

Im Labyrinth des Denkens

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Gehen ist ein Kampf mit der Schwerkraft.

Denken ist ein Kampf mit einer Schwerkraft anderer Art.

Gehen wird nicht anders als Fahrradfahren zu einer Art von Automatismus, und diese physische und mentale Mechanik ist streckenweise ja durchaus nützlich.

Dichten ist ein beschwingtes, heiter und gelöst wirkendes Balancieren auf einem dünnen Seil der Sprache, wobei die ihm zugrundeliegende Spannung von der Anmut der Bewegungen, dem Schwung der Pirouetten und dem Übermut des Salto mortale des Seiltänzers verhüllt wird; doch das Gefühl des Schwindels und die Furcht vor dem Sturz in die dunkle Tiefe sind stets gegenwärtig.

Wir plaudern unbefangen drauflos und scheuen dabei auch vor dem Gebrauch trivialer Wendungen und sprachlicher Stereotypen nicht zurück.

Anders die Stereotypen, Automatismen und Mechanismen, die ins Denken Einzug halten, beispielsweise kraft des trügerischen, aber auch faszinierenden Spiels von bildhaften Assoziationen oder logischen Fehlschlüssen; sie bezeugen, wie gern und leicht wir dem Zug der mentalen Schwerkraft nachgeben.

Die sprachlichen Gewohnheiten. die abgegriffenen Wendungen und verblaßten Metaphern, die unsere Plaudereien so gewandt und redselig machen, sind das Faulbett, auf dem sich das Denken liebend gerne ausstreckt.

Wir reden gedankenlos von Denkmaschinen oder dem Archiv des Gedächtnisses, obwohl wir wissen könnten, daß Gedanken kein Output von maschinellen oder algorithmischen Verfahren und Erinnerungen keine Bilder in der privaten Galerie unseres Geistes sein können. – Wir sagen gedankenlos von einem, er sei guter Dinge, weil er lächelt, obwohl wir wissen könnten, daß jemand trotz innerer Qual oder auch aus bloßer Verlegenheit lächeln kann.

Was wir Intuition nennen, ist eine Form des nichtanalytischen Denkens, die frei von den Automatismen der Gewohnheit ist, ja diese geradezu durchbricht. – Ähnlich dem Dichter, der nicht von der Überschwemmung redet, sondern davon, daß der braune Gott des Stromes sein schlammiges Haupt aus dem Uferschilf hebt.

Wie der Flügel eine Form der Projektion der Luftströmung darstellt, so das Auge nach Goethe eine Art Projektion der Lichtstrahlen.

Das Fundament des Denkens schwebt in der Luft. Das Haus des Denkens steht, wie es Wittgenstein sah, auf dem Kopf.

Das Gedachte ist wohl der sinnvolle Satz. Doch dieser Satz ist kein Satz einer idealen Sprache, sondern ein Satz, der einen Knoten oder eine Verbindung im Netz eines bestimmten Sprachspiels darstellt. „Ja“ oder „Das stimmt“ ist ein Knoten, „Daraus folgt“ eine Verbindung, das eine beispielsweise in einem Gespräch, das andere in einem logischen Kalkül.

Jeder Satz ist Teil eines Zusammenhangs von Sätzen; kein Satz ist, wie der Autor des Tractatus logico-philosophicus glaubte, atomar, als ob er einen atomaren Sachverhalt darstellen würde. Der Satz „Dieser Fleck ist rot“ ist nicht atomar, weil er, wie Wittgenstein konzedierte, den Satz „Dieser Fleck ist nicht grün“ impliziert.

Wir können kategorial unterschiedliche Satzzusammenhänge bilden; Legenden und historische Berichte; Traumerzählungen, Sagen und Mythen und Analysen von Träumen, Sagen und Mythen oder Axiome und logische Folgerungen sind solche Zusammenhänge.

Bildet die Tatsache, daß ein jeder Satz etwas über etwas sagt, die allgemeinste semantische Form?

Aber sprachliche Ausdrücke wie „Guten Morgen!“, „Warte hier eine Weile!“, „Gehet hin in Frieden!“ oder auch „4 x 2 = 8“ haben nicht diese Form.

Das Sehfeld wird durch etwas begrenzt, was wir nicht sehen; lenken wir den Blick auf das bisher Unsichtbare, tritt das bislang Sichtbare aus dem Blick.

Wir können die Weltausschnitte, die wir sehen oder sichten, nicht zu einem einheitlichen Weltbild addieren; wir können die Sätze, die sie beschreiben, nicht logisch zu einem einheitlichen System summieren.

Der Handschlag zweier Freunde, die sich verabschieden, unterscheidet sich kategorial vom Handschlag zweier Vertragspartner. – Es könnten dieselben Individuen sein, die heute dies, morgen jenes tun; oder sogar dieselben Individuen, die jetzt beides in einer Geste vollziehen. – Wir könnten den Unterschied nicht durch einfache phänomenologische Beschreibung erfassen.

Der Ausruf „Da hast du dich selbst übertroffen“ kann je nach Sprecher und Situation ein höchstes Lob und ein scharfer Tadel sein (wenn er ironisch gemeint ist).

In einer nicht zumindest relativ starren Umwelt könnten wir keinen starren Maßstab anlegen.

Relativ starre oder stereotype sprachliche Formen identifizieren wir leicht als beispielsweise Fragen, Aufforderungen oder Bitten.

Wir können keine höhere philosophische oder moralische Warte einnehmen, die uns erlaubte, bestimmte stereotype Formen oder begriffliche Schemata zu diskreditieren oder auszusondern. – Wir können nur ihre kategorial fehlerhaften Verwendungen verurteilen; beispielsweise die Anwendung des begrifflichen Schemas der Wahrnehmung auf den Vorgang der Erinnerung (als nähmen wir ein Bild im Archiv des Gedächtnisses wahr).

Wir verfügen über keinen Ariadnefaden, anhand dessen wir das Labyrinth des Denkens genau an der Stelle verlassen könnten, an der wir in es eingetreten sind.

Wir können das Labyrinth nicht in der Absicht verlassen, seinen Umfang und seine Verzweigungen aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Die Idee des göttlichen Blicks, der sich eine allumfassende Übersicht verschaffen könnte, beruht auf einem kategorial verfehlten Begriff des Wissens. – Denn jede Form des Wissens impliziert ein Nicht-Wissen. – Ich kann im System der ganzen Zahlen die Kreiszahl pi nicht darstellen. – Wir können nicht mit Gewißheit angeben, ob einer, dem wir die Folge der natürlichen Zahlen mittels + 1 beigebracht haben, die Reihe von 0 bis 100 richtig aufzählt, dann aber mit 99, 98, 97 usw. fortsetzt.

Das Geheimnis, könnte man sagen, hat einen Doppelgänger, der sich ohne Scheu der Öffentlichkeit präsentiert, dem alle Schranzen, Snobs und Gesellschaftsmenschen nachlaufen, ihn photographieren und interviewen, wobei er nur die allseits bekannten Geschichten und Sottisen vom Luxusleben des erwählten Menschen der Elite zum besten gibt, während das Original, die vergoldete Mumie des Pharaos, hinter den labyrinthischen Gängen der Pyramide in einer unzugänglichen Kammer verborgen ist.

Wir können die unerwarteten Abzweigungen und Weggabelungen des Denkens nicht voraussehen. Gehen wir an der Kreuzung nach rechts, gelangen wir in ein anderes kategoriales Feld, als wenn wir die andere Richtung eingeschlagen hätten.

Nach dem mühsamen Anstieg genießen wir den Fernblick; der Enzian, den wir eben noch nahe vor Augen hatten, ist nun in einem verschwommenen Flecken aus Schnee, Moos und Granit untergegangen.

Wir können nicht beides haben, vollständige Transparenz und begriffliche Übersicht.

Nicht unsere Unfähigkeiten, sondern unsere sprachlichen Fähigkeiten halten uns im Labyrinth des Denkens gefangen.

Der Jahreszyklus mit seinen Jahreszeiten ist die Chiffre des Lebens. – Die Metamorphosen von Licht und Schatten des Tages sind die Chiffre des Jahres- und Lebenszyklus. – Chiffren solch elementarer Natur stehen am Beginn und im Zentrum der Dichtung.

Horaz, Baumeister von Zyklen und Maler von Miniaturen.

Durch die Maschen der Zäune, die unsre sorgfältig gejäteten Gartenwege und die Beete mit den Rosen und Orchideen einschließen, treibt der Flugsamen wilder Kräuter.

Der Ableger der Sukkulente treibt eine Sukkulente hervor, aber der Ableger unserer Gedanken treibt eine Chimäre hervor.

Der komplexe Sachverhalt, den wir beispielsweise in einer zweistelligen Relation ausdrücken, ist bisweilen leichter zu verstehen als der in einer einstelligen Relation ausgedrückte einfache Sachverhalt: „Karl lief schneller als Peter“ – der Satz ist wahr, wenn er durch unsere Beobachtung bestätigt wird, daß Peter von Karl überholt wurde. „Karl lief schnell“ – der Satz kann nicht durch einfache Beobachtung bestätigt werden, es sei denn, wir ziehen andere Sätze hinzu, die von Maßstäben und der Messung von Geschwindigkeiten handeln.

Karl mußte im Falle, daß er Peter überholt hat, nicht schnell im Sinne des Satzes „Karl lief schnell“ gelaufen sein; er konnte bloß weniger langsam als Peter gelaufen sein.

pi = 3.14159265359 … Drei Punkte stürzen uns in geistige Verwirrung.

Die Idee des Unendlichen – das Labyrinth des philosophischen Denkens tut sich auf.

Auch wenn wir wissen, daß die Reihe der Dezimalstellen der Kreiszahl pi nicht abbricht, können wir nicht ohne geistige Verwirrung annehmen, daß die unendliche Reihe der Dezimalzahlen in welcher imaginären Welt auch immer vollständig gegeben sei.

Auch wenn wir wissen, daß die Reihe der Dezimalstellen der Kreiszahl pi nicht abbricht, können wir der Versuchung nicht widerstehen, sie in den Horizont dessen einzuschließen, was man verräterischerweise das aktual Unendliche genannt hat.

Das aktual Unendliche ist eine Chimäre des mentaler Schwerkraft nachgebenden Denkens.

Die Beifügung des Prädikats „unendlich“ zu den göttlichen Eigenschaften der Macht, des Wissens und der Güte hat die christliche Theologie und die von ihr inspirierte Philosophie in die Höhen transzendenter Spekulation gehoben und in die Tiefen geistiger Verwirrung gestürzt. – Die windigen und bodenlosen Systeme des deutschen Idealismus zeugen davon.

Wir können die semantische Struktur der Sprache gleichsam als unendlichen Bruch angeben oder als unerschöpfliche Möglichkeit, Sätze in neue Sätze zu teilen.

Doch wir stürzen in geistige Verwirrung, wenn wir hoffen, diese sprachliche Erweiterung durch Reflexion oder metasprachliche Beschreibung zu finden, indem wir beispielsweise sagen: „Der Satz ‚Karl läuft schneller als Peter‘ ist eine zweistellige Relation“, um dann zu konstatieren, daß dieser Satz keine zweistellige Relation, sondern ein Pseudo-Satz ist, der die einfache relationale Struktur verdeckt, die sichtbar wird, wenn wir schreiben: a R b.

Glücklich (oder zumindest nicht unglücklich), wer die Obsession, glücklich zu sein, überwunden hat.

Unglücklich, wer der Welt vorwirft, nicht seinen Maßstäben zu entsprechen.

Aberglaube und weltanschaulicher Wahn, Neurose und Psychose sind untaugliche Methoden, den Weltlauf den eigenen Phantasmen gemäß verändern zu wollen oder den eigenen Wünschen gemäß eingerichtet zu sehen.

Der Wahn, von höherer Warte gesehen, gewürdigt, erwählt zu sein.

Besser, sagt die Psychose, von feindlichen Mächten verfolgt, beäugt, verspottet zu werden, als gänzlich verlassen zu sein.

Nicht esse est percipi, sondern: Die Welt, in der wir leben, enthüllt sich nicht ohne die Wahrheiten, die uns die Sprache darzustellen erlaubt.

Freilich, die Rückseite des Mondes existiert, ob wir oder Gott sie in Augenschein nehmen. Aber der wahre Satz, daß alle von uns wahrgenommenen und nicht wahrgenommenen Dinge ein Rückseite haben, ist eine Implikation unseres Begriffs von materiellen Gegenständen.

Den Faden, anhand dessen Theseus nach seiner Erlegung des Untiers wieder aus dem Labyrinth gefunden hat, hatte Liebe gesponnen.

Den Faden, der uns aus dem Irrgarten kindlicher Wünsche und überspannter Erwartungen ans Licht der reinen Gegenwart führt, hat Weisheit gesponnen.

Die Blume des Worts, der reinen Gegenwart der Sonne aufgeschlossen, genügt; was sollen uns die kümmerlichen Triebe der Kartoffeln, die im Dunkel des Kellerlochs sprießen.

„Kosmologische Feinabstimmung?“ – Ach nein, Gott hat Anselm nicht damit beauftragt, seine Existenz zu beweisen.

Esse est percipi – also wäre Gott ein Wesen, das sich in Ewigkeit selbst bespiegelt.

Tötungswunsch und Zeugungstrieb – unser animalischer Keim bringt im dunklen Verlies des Schuldgefühls bizarre Sprossen hervor, die nur zu einer blassen Scheinblüte taugen, jener Moral, die keine fruchtbaren Pollen auszustreuen bestimmt ist.

Wir haben das Labyrinth verlassen, sobald wir mit Heidegger Denken mit Danken übersetzen.

Wir danken für das erhaltene Geschenk; das Mißliche am Geschenk aber ist, daß es uns zum Dank verpflichtet.

Reines, gleichsam unschuldiges Danken widmen wir dem, was sich selber gibt, und indem es sich gibt, in der Gabe zugleich sich entzieht. Heidegger nennt dies das Ereignis.

Das gleichsam anonyme Gedicht, das wie von einem Namenlosen für die Namenlosen geschriebene, nicht ein solches, das mit dem Namen oder der Unterschrift des Autors prunkt, können wir als ein solches Ereignis betrachten, ihm können wir als eine Gabe danken; das einzige, zu dem es uns verpflichtet: seinem Gruß die Antwort nicht zu verweigern.

Wir sagen, er hatte gute Gründe, ihr ein kostbares Geschenk zu machen, beispielsweise die Tatsache zu vertuschen, daß er ihr untreu gewesen ist; was da kostbar scheint an dem Geschenk, wird solcherart verdunkelt und geschmälert.

Wir sagen, sie hatte gute Gründe, seinen Gruß nicht zu erwidern, beispielsweise, weil ihr zu Ohren gekommen ist, daß er sie vor anderen herabgesetzt hat. – Der Umstand, daß sie seinen Gruß nicht mehr erwidert, gibt ihm wiederum den guten Grund, sie weiterhin und noch ärger zu verlästern.

All diese guten Gründe und Gegengründe sind wie Abzweigungen im Labyrinth unseres Tuns und Redens, die uns immer tiefer in Zweideutigkeiten verstricken und ins Dunkel locken.

Geben wir die Gründe auf, wie Wittgenstein, der sagt, man muß zu einem Ende kommen, oder werden sie uns von einem schicksalhaften Ereignis entrissen, wie bei Heideggers Epiphanie des Seinsgeschicks, scheinen wir den Halt am Gelände des gewohnten Sagens zu verlieren und in einen Abgrund zu fallen; doch könnte sich dieses Fallen – zumindest für Augenblicke – in ein Schweben verwandeln.

Die Taube fliegt durch den Abgrund des Himmels, doch hält sie das Gelände der Luft. – Der freie Denker und Dichter tänzeln ohne Halt auf dem Hochseil der Sprache, doch balancieren sie mit der Balancierstange der Grammatik und Rhetorik das Gleichgewicht immer wieder aus.

Der lange Irrweg des Denkens im Labyrinth der abendländischen Theologie, aus dessen Dunkel das Feuer Pascals den Ausweg zeigte.

Sisyphos wälzt den Stein aufs neue, auch wenn er weiß, daß er von dem Hügel wieder herabrollen wird. – Wir haben die Kerze zum Angedenken auf dem Grabe angezündet, auch wenn wir wissen, daß sie nur kurze Zeit in der Dämmerung scheinen wird.

 

Mrz 27 23

Die stille Kerze

Wie sanft ihr Honigduft verraucht,
laß nur die stille Kerze brennen,
an feuchten Blicken mich erkennen,
wie tief die Liebe eingetaucht.

Und reißt der mürbe Nerv, der kaum
den schwachen Blumengeist kann halten,
schaut nach er dämmernden Gestalten,
zerfließen wir zu mondnem Schaum.

Wenn flackernd auch der Schein vergeht,
das holde Antlitz laß nicht sinken,
von seinem Schimmer mich ihn trinken,
den Tau, der in der Blüte steht.

Löst uns die Zunge goldner Wein
wie in durchwehten Dämmergängen
zu traubenhellen Dankgesängen,
ist uns, als rausche fern der Rhein.

 

Mrz 26 23

Der Schatten wächst

Der Halm, die Ähre sieht es nicht,
wenn fernhin blitzend Sensen schwirren.
Herz, bleibe fest in allen Wirren,
der Schatten wächst im Abendlicht.

Und stehen wir im Wendekreis,
und müssen alle Farben fahlen,
noch schwanken in bemalten Schalen
die Blüten rot, die Blüten weiß.

Ist auch kein Flügel, der uns streift,
und kann die Wunde nicht genesen,
zu schauen waren wir erlesen
die Purpurfrucht, im Herbst gereift.

Durchbricht das Schilf der Nacht kein Strahl,
mag bitten uns, noch Licht zu saugen,
ein Zwillingsstern von sanften Augen.
Mit seinem Schein erlisch, o Qual.

 

Mrz 25 23

Die Knospe Liebe

Hände, gegerbt vom Strahl, von Wettern rauh,
sie banden Reben, sie schnitten Gerten,
sie sind’s, zu salben dich mit Zärten,
zu streuen dir der Nachtviole Blau.

Locken, gewundene Qual, geringelter Scherz,
Labyrinthe voller Licht und Schatten,
voll Düften morgenfeuchter Matten,
wo Veilchen Tränen weinen deinem Schmerz.

Lippen, vom Schweigen spröd, vom Sprachsalz wund,
sie öffnen sich wie Purpurrosen,
die Eos Strahlenfinger kosen,
küßt sie dein Hauch, träuft Honiglicht dein Mund.

Augen, blauschwarze Maare, Schwermutwein,
worin noch mondne Tropfen funkeln,
bis rings des Traumes Schilfe dunkeln,
sie glühen, taucht dein Sonnenauge ein.

Herz aber, verborgen in der Grotte Nacht,
du singst der lichten Ströme Sänge.
O daß in ihnen untergänge
die Knospe Liebe, die du ihm gebracht.

 

Mrz 24 23

Der Dämon lacht

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wehe, wenn Vegetarier Blut lecken.

Der Dämon lacht, wenn Pazifisten Tauben zu den Krähen scheuchen.

Wehe den Heuchlern, die verkünden, der Wolf werde friedlich mit dem Lamme grasen und der Teufel auf seine Blutsuppe verzichten.

Ein Trost für Hiob: Die kleine Erbse der Wahrheit zuunterst unter den Federbetten und Daunen der Lüge und Eitelkeit läßt auch die Prinzessin mit dem besten hypermoralischen Gewissen nicht schlafen.

Der Dämon grinst, wenn das Familienministerium mittels Hetzpropaganda und Rechtsbeugung die systematische Auslöschung der klassischen Ehe von Mann und Frau, die öffentliche Verlästerung der Autorität des fürsorgenden Vaters und der erzieherischen Rolle der Mutter, die sexuelle Desorientierung von Kleinkindern in kommunalen Kinderverwahranstalten und die staatliche Propaganda und Förderung perverser, zur Unfruchtbarkeit verdammter Lebensstile betreibt.

Was sie Wohlfahrt nennen, ist wie das genüßlich-versonnene Lecken des Löwen an der blutigen Hüfte der geschlagenen Antilope.

Wer kein Instrument beherrscht, wird nicht ins Orchester aufgenommen; anders in der Politik, wo Frau Wurstfinger auf den Saiten einer überspannten Humanitätsrhetorik quietscht und Herr Grobian mit antirassistischen Donnerschlägen auf die Pauke haut.

Der Dämon kugelt sich, weil kulturfremde Barbaren, die Leitfunktionen in den kulturellen Einrichtungen okkupiert haben, unter dem Applaus der Medien an den Denkmälern der Nation urinieren.

Der feste Schritt ins Neuland bedarf der männlichen Tugenden des Muts und der Entschlossenheit; wer zögernd vorantastet, versinkt schon im Morast. – So finden sich Verschworene, den erregten Strömungen der Reformationszeit nicht unähnlich, die sich eskapistisch in Klüften, Nischen und Wäldern zurückziehen, um ihre eigene Schwurgemeinschaft zu stiften.

Man kann daran zweifeln, ob ein Zweifel (wie der des Descartes) berechtigt ist.

Man kann nicht vortäuschen, Schach spielen (oder Italienisch sprechen) zu können, ohne es zu können.

Der Dämon des Descartes, der ihm vorgaukelt, alles sei nur ein Traum, muß er nicht wissen, was das ist, ein Traum, und also auch, was das ist, wach sein?

Man macht einen unauflösbaren semantischen Knoten, wenn man davon redet, etwas sei mit sich selbst identisch; aber betrachtet man irgendeine mathematische Gleichung als formalen Ausdruck einer logischen Tautologie, ahnt man, was gemeint ist.

Die primären Sprechakte des Sprach- oder des Mathematikunterrichts sind Befehle. „Das ist eine Rose“ heißt: „Nenne, was du da siehst, eine Rose!“ – „2n = 8“ heißt: „Dividiere 8 durch 2!“

Moral nennen wir die informellen Verhaltensregeln einer Gruppe; das kodifizierte Recht schreibt ihr die formellen Verhaltensregeln vor. Politiker, die das Recht mit einer vorgeblich höheren Moral vermischen, zersetzen es.

Wer Politik moralisiert, mag immerhin ein Heuchler sein; wenn er aber nicht einmal das Zeug zum Heuchler hat, ein Dummkopf.

Dieselben trüben Geister, die den Deutschen das Recht auf eigene nationale Identität absprechen, führen Krieg für den Erhalt einer fremden.

Esse est percipi, sagt Berkeley; und die Rückseite des Mondes existiert nur, weil Gott, der alles sieht, auch diese seiht. – Aber der Begriff eines Wesens, das alles sieht, ist ein Unbegriff.

Alles sehen heißt nichts sehen. – Ich sehe die Figur vor dem undeutlichen Hintergrund, fokussiere ich den Blick auf den Hintergrund, verschwimmt die Figur.

Unser Begriff raumzeitlicher Gegenstände impliziert, daß sie eine Rückseite haben; wir müssen sie nicht sehen, um es anzunehmen.

Unser Begriff des Sehens impliziert eine interne Begrenzung durch das visuelle Feld.

Unser Begriff von Sprache impliziert, daß wir nicht über alles reden können; er impliziert eine interne Begrenzung durch logisch-grammatische Strukturen.

Der Satz „‚Reich mir die Karaffe!‘ ist eine Aufforderung“, ist keine Aufforderung.

Wir können nicht gleichzeitig einen Satz verwenden und über seine Verwendung reden.

Wir können nicht über die Art der Verwendung eines Satzes reden und ihn gleichzeitig verwenden.

Der Satz „2n = 8 ist eine Gleichung“ ist ein Pseudo-Satz. – Wir sehen ja, daß 2n = 8 eine Gleichung ist.

Der Satz „‚Diese Rose ist rot‘ schreibt einem Ding eine Eigenschaft zu“ ist ein Pseudo-Satz. Wir sehen ja, daß der Satz „Diese Rose ist rot“ der Rose die Eigenschaft zuschreibt, rot zu sein.

Der Satz „‚Der Mond ist der einzige Erdtrabant‘ ist wahr“ ist ein Pseudo-Satz; denn der Satz „Der Mond ist der einzige Erdtrabant“ sagt ja, was wir als astronomische Tatsache annehmen.

Der Satz „‚Die Rose Schönheit soll nicht sterben‘ ist eine Übersetzung eines Verses eines Sonetts von Shakespeare“ ist ein echter Satz; denn er zitiert den Vers in deutscher Übersetzung und weist seinen Autor aus.

Der Satz „Diese Rose ist rot“ ist äquivalent mit dem Satz „Der Satz ‚Diese Rose ist rot‘ ist wahr, wenn die Rose rot ist“ – und umgekehrt.

Das Wahrheitsprädikat „ist wahr“ hat, wie Tarski nachwies, die Funktion, die Äquivalenz zweier Sätze aufzuweisen, wovon der eine Satz eine Erwähnung oder eine Zitation des anderen Satzes darstellt; der erste Satz steht in Anführungszeichen, der zweite nicht.

Die Sätze „This rose is red“ und „Diese Rose ist rot“ haben dieselbe Bedeutung, aber nicht deshalb, weil beide sich auf ein unabhängig von ihnen bestehendes Faktum beziehen, das wir auch ohne Verwendung von Sätzen dieser Art feststellen und beschreiben könnten, sondern weil sie das Faktum mittels derselben Form der Benennung („rose“ und „Rose“) und derselben Art von Prädikation („is red“ und „ist rot“) semantisch konstituieren; diese Form der semantischen Konstitution läßt sich nach Frege als Funktion beschreiben: a (Fa), es gibt ein a derart, daß es die Eigenschaft F hat.

Wir können nur auf etwas zeigen und über etwas reden, was sich, wie Heidegger es ausdrückt, von sich aus zeigt. – Wir können es nur von der Stelle aus betrachten, an die wir schicksalhaft geraten sind, es nur mit den sprachlichen Mitteln beschreiben, die uns schicksalhaft zugewachsen sind. – Der Rest liegt im Dunkeln, der Rest ist Schweigen.

Wir haben keinen einheitlichen oder univoken Begriff von Welt, Tatsache, Ding und Sprache, sodaß wir sagen könnten, die Welt sei das kohärente Netz der Tatsachen und dieses sei adäquat und konsistent mittels einer einheitlichen Sprache oder philosophischen Meta-Sprache beschreibbar.

Die physikalischen Sätze, mit denen wir die Eruptionen der Sonne beschreiben, gehorchen anderen Kriterien von Evidenz, Wahrscheinlichkeit und Erklärungstiefe als die moralischen Sätze über den unangemessenen Wutausbruch unseres Freundes.

Die intrikaten Regeln unserer Verhaltenscodizes sind nicht vergleichbar mit den transparenten Regeln mathematischer Beweise; der Bekannte grüßt uns nicht mehr – haben wir uns, ohne es zu bemerken, eines Fehlverhaltens schuldig gemacht, ist er dünkelhaft geworden; das liegt nicht auf der Hand.

Der Satz „2 + 2 = 4“ ist richtig, weil 2 + 2 = 4; aber auch kraft der Rechenregeln, die wir mittels unseres Dezimalsystems entwickelt haben.

Der Satz „Der Preis einer Ware ist der Quotient aus Angebot und Nachfrage“ ist wahr, unter der Bedingung des freien Warenaustausches.

Aber der Satz „Ich weiß, daß ich zwei Hände habe“ ist, wie Wittgenstein betont, sinnlos, es sei denn, wir lebten in einer Welt, in der unsere Hände plötzlich schrumpften und ebenso plötzlich wieder nachwüchsen.

„Ich weiß, daß ich zwei Hände habe“ ist ein Pseudo-Satz, der semantische Affe einer empirischen Wahrheit.

Allerdings sind, wie Wittgenstein herausfand, etliche scheinbar rein empirische Sätze für uns gleichsam in transzendentalem Auftrag unterwegs, da sie das Terrain der Lebensform abstecken, das wir bewohnen; das zeigt sich an unserer Weigerung, sie skeptischem Zweifel auszusetzen, oder dies nur in extremen Ausnahmesituationen zulassen. „Ich habe lange in Paris gelebt“ – würde nur bezweifelt, wenn ein Verdacht auf Hochstapelei oder eine schizophrene Psychose besteht. „Ich bin ein Mann (eine Frau)“ – würde nur von einem Arzt in Zweifel gezogen, der den relevanten Gendefekt identifiziert hat. Freilich „Ich bin ein Mann“ von einer Frau mit intaktem Uterus, „Ich bin eine Frau“ von einem Mann mit intakten Testikeln geäußert, wird von einem Psychiater als Symptom einer gravierenden Persönlichkeitsstörung angesehen werden können.

Wir sagen, um der Zweideutigkeit und Ambivalenz menschlichen Gebarens und Redens Ausdruck zu verleihen: „Hinter seinem Lächeln verbirgt sich Verlegenheit.“ – „Das überschwengliche Lob war nur die Hülle eines vernichtenden Tadels.“ – „Der da laut und aufdringlich mit obszönen Witzen auftrumpft, ist eigentlich eine zartbesaitete, aber verwundete Seele.“

Der globale Siegeszug der technischen Zivilisation scheint den Untergang der alten Kulturen, ihrer Künste, ihrer Musik, ihrer Dichtung, und die Auflösung der Völker, deren geniale Begabungen sie hervorgebracht haben, nach sich zu ziehen. – Ist dies ihre verborgene Wahrheit, von der Heidegger mutmaßte, sie habe sich schon in einer Art technischer Verengung des Logos-Begriffs bei Platon angebahnt?

Wittgenstein blieb, auch nach seinen Amerikareisen, unschlüssig, ob er dem Pessimismus Spenglers recht geben oder einige Hoffnung darauf setzen sollte, daß seine Schriften in hundert Jahren verständnisvolle Leser finden werden.

Der Schüler lernt, wenn er denn lernt, aufgrund von Lob und Tadel, Anleitung und Maßregelung immer besser Gleichungen zu lösen. – Der Hörer aber, er weiß nicht wie, verfällt mit einemmal dem Zauber des Adagios aus Beethovens Violinkonzert, das er schon so oft gehört hat, wohl angeregt und erfreut, aber nicht in diesem Maße erschüttert.

Schönheit, Anmut, Erhabenheit, wie sie in großer Kunst, Musik und Dichtung sich kundtun – sie heben uns, wir wissen nicht zu sagen, wie und von wannen, aus den Niederungen und Erniedrigungen unseres dumpfen oder alltäglichen Daseins.

Jenes Licht, das uns, wie flüchtig immer und flackernd, im Dunkel wie die geweihte Kerze noch im Karfreitagsdämmer scheint, wir wissen nicht zu sagen, wie und von wannen.

Freilich, wir können auch hier gleichsam das Walten des Dämons gewahren; je inniger, je süßer das Licht im Dunkel aufscheint, um so dichter und finsterer wirkt rings die Nacht.

Sangen nicht ergreifend schön jene Jünglinge, die als Opfer des Dämons in den Feuerofen geworfen wurden?

Singt nicht auf den schwarzen Wassern des Schlafs lilienhafte Anmut, die unterzugehen bestimmt ist, Ophelia?

 

Mrz 23 23

Müßige Fragen

Mir ist die Stirn vom Tage heiß.
Wann, Schwester, windest du die Ranken,
wann kühlst mit Seufzern du den Kranken,
daß er vom Trost des Abends weiß?

Mich hat das Graun der Nacht verheert.
Wann, Bruder, schichtest du die Scheite,
daß sich das Herz am Prasseln weite,
wenn Feuer mürbes Holz verzehrt?

Mir ist die Lippe krud und wund.
Wann, Schwester, wirst den Krug du füllen,
den Durst nach Küssen mir zu stillen,
daß wieder süßer lallt mein Mund?

Mich hat der Schwermut Zwirn umsäumt.
Wann, Bruder, kappst du bange Taue,
daß ozeanisch um uns blaue
Gesang, der von Korallen träumt?

 

Mrz 22 23

Letzte Ausfahrt

Wasser, es glitzert, Schatten versank,
und die vom frühen Odem erquickten
Blüten, sie sind die lichtvoll Beglückten.
Tau ist geronnen, Knospe, sie trank.

Die in den Wipfeln von Winden gewiegt,
Adler, sie breiten der Sonne die Schwingen,
aber in Tälern weckt uns ein Singen,
Welle hat sich an Welle geschmiegt.

Wasser, es trägt uns, Woge, sie blaut,
Segel, die Wappen von Lilien schmücken,
schwellen wie Lieder, die Seeleuten glücken,
denen vor Sturm und Sirenen nicht graut.

Was da ächzt unterm männlichen Gang,
was da stöhnt, sind nicht eichene Planken,
und in den Rahen das Schwirren und Schwanken
straffen die Rhythmen, bläht heißer Sang.

Und mit den Flügeln der Engel am Bug
ist die Schöne, das Ungeheuer,
Augen, Türkise, geläutert im Feuer,
Wahrheit der Dichtung, mythischer Trug.

Dunkelt wie Onyx voll Schwermut das Meer,
Salz, es zerfrißt die gesanglosen Zungen,
kommen aufgischtend Delphine gesprungen,
Wasser, es sprüht unterm glühenden Speer.

Flüstern von Heimat Gestirne uns sacht,
sollst du, Matrose, das Banjo hart zupfen,
ich aber singe von Lippen, die tupfen
Kuß an Kuß auf die Wange der Nacht.

Ferneres Lesbos glüht an uns der Mond,
Haine schlaftrunkener Nachtigallen,
Buchten anmutig schwebender Quallen,
wo Euterpe im Muschelschaum wohnt.

Trübsinn hat uns das Bild nicht verstellt,
sahen wir doch die Blicke, die feuchten
auf den seligen Inseln uns leuchten.
Schäume, o Lied, noch, am Riff schon zerschellt.

 

Mrz 21 23

Das Messer singt

Messer, es tanzt, Messer, es kreist.
Schneidet die Strahlen der Sonne und blinkt.

Messer, es wirbelt, Messer wird heiß.
Adern locken den Durst, daß er trinkt.

Schön ist das Messer, kunstreich verziert
prunkt der Griff ihm von Elfenbein.

Duftendes Salböl hat es poliert,
Nachtglanz verlieh ihm ein Onyxstein.

Messer, es tanzt, Messer, es singt.
Auf und nieder flügelt der Ton.

Goldlack, er lacht. Mähne, sie schwingt,
warmer Lippen leuchtender Mohn.

Mädchen, lauf durch den Auenwald,
schneller, als Mond hinter Wolken enteilt.

Winde flüstern es, Welt, sie ist kalt,
Wunden sind, die niemand mehr heilt.

Messer, es singt, Lied, es ist süß,
höher schluchzend als silbern der Quell

im grüngoldenen Paradies.
Laufe, Mädchen, Mädchen, lauf schnell.

Doch hat der Klang das Herz schon betäubt,
zwischen den Schattenhalmen erbebt

Schoß einer Lilie unbestäubt,
Unschuld, die nur von Nachttau gelebt.

Träume, sie legen die Schulter ihr bloß,
schimmernde Düne, Hügel im Schnee.

Tropfen versickern, röten das Moos,
Aug, wie es bricht, als stürbe ein Reh.

 

Mrz 20 23

Als hätten alles wir geträumt

Was uns das süße Licht geschäumt,
der Kelch des Worts ist ausgeflossen,
ins Dunkel hat er sich ergossen,
als hätten alles wir geträumt.

Uns quoll ein reiner Silberton,
da einst wir bei den Moosen schliefen,
aus dunklen mütterlichen Tiefen.
Der Schmerz, er trank den Tau vom Mohn.

Was uns geperlt den Schmelz zum Fest,
die Liebesmuschel ist zerfallen.
Uns tönt kein Trost von Nachtigallen,
im Grase liegt das dürre Nest.

Wir gingen hin zum Gnadenbild
zu schauen, ob noch sanfte Strahlen
ein Lächeln auf das Antlitz malen.
Ein Kartagstuch hat es verhüllt.

Weißt, Liebe, du noch einen Grund,
im blütenlosen Karst zu weilen?
Laß uns zum Boote Charons eilen,
der bittre Glanz fault schon im Mund.

 

Mrz 19 23

Pfütze und Fontäne

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz.“ Max Weber

Sie leugnen den Unterschied von Gesetz und Übertretung, also wollen sie die Gefängnisse niederreißen; den Unterschied von Vernunft und Wahn, also die Psychiatrie auflösen; den Unterschied von Sinn und Unsinn, also reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

Der Name des Vaters ist das Gesetz des Abendlands. Verfällt seine Ehre, sinkt das Erbe dahin.

Nach Maßgabe der Gefahr des Pater semper incertus ist das Patriarchat oder die Obhut des Mannes über die weibliche Fruchtbarkeit die vernünftigste Ehe- und Familienform.

Die Knappe Ressource Aufmerksamkeit inspiriert die Fesselung und Faszination des Blicks.

Die Regeln der Höflichkeit dienen der Verschleierung von Rangunterschieden.

Schoß die Blüte, Tränen ihr Tau.

Das Geschnatter auf den stillen Pfaden der Betrachtung wird man nur los, wenn man die Gänse in den Stall zurücktreibt.

Wenn man die Fahne mit den Heilszeichen (oder den westlichen Werten) schwingt, fließt schon Blut.

Intelligenz das Rinnsal, Dummheit der Ozean.

Wer die Grenze nicht hütet und die Türen nicht verschließt, hat nichts zu verlieren.

Je weniger an Substanz, umso lauter das Geschrei.

Die letzte Norm ist die paradox-perverse, alle zu verwerfen.

Der letzte Tanz um den letzten Götzen, den unfruchtbaren Hermaphroditen.

Die Primordialität der Zweigeschlechtlichkeit zu leugnen, zeugt von der Schwächung des Lebenswillens.

Schlaffe Hände ohne die Striemen und Risse, die vom Überlebenskampf künden; ein wächserner Geist, der an der Sonne der Erfahrung dahinschmilzt.

Den Melkbottich unter den Ziegenbock gerückt versprechen sie uns die duftende Molke neuer Erkenntnis.

Die monogame Ehe ist die Schule der Züchtigung männlicher Ausschweifung und Eitelkeit.

Wenn der Schwarze den kleinen Eckladen des weißen Siedlers überfällt, ist es eine Tat der Befreiung, wenn der Weiße in Notwehr auf den Schwarzen schießt, ist es eine rassistische Greueltat.

Erstaunlich (oder auch nicht), daß Dummheit als wärmende Schutzhülle vor dem Frosthauch des scharfen Verstandes geschätzt wird.

Wer heute mittels amtlich bereitgestellter App den mißliebigen Nachbarn und den Querulanten aus dem Büro denunziert, hätte damals als Blockwart dasselbe getan.

Wetterfrösche, Plastikattrappen im apokalyptischen Puppenspiel.

Wittgenstein antwortete dem marxistischen Geschichtsphilosophen, der den unaufhaltsamen Fortschritt durch die Wissenschaft und ihre segensreichen technischen Anwendungen dialektisch gegen ihre unausbleiblichen Folgen an landschaftlicher und seelischer Verwüstung verteidigte, auf die Frage, ob er denn auf all die lebenserleichternden Güter verzichten und wieder in einer Höhle hausen wolle: „Ja, in einer Höhle!“

Die gefeierten neuen Infantilen schmähen den Vater, der sie gezeugt und unter Entbehrungen aufgezogen hat, vor dem Vater des Vaters, dem stotternden Greis auf dem Sofa, spucken sie aus.

Wenn es wahr ist, daß sich die Schuld forterbt bis ins vierte und fünfte Glied, dann büßen manche durch innere Leere, manche durch den Verlust wahren Empfindens.

Die Untalentierten schmähen das Genie. – Hunde, die an Denkmälern das Bein heben.

Homer, die Tragiker, Sappho, Alkaios und Pindar – Fülle, gebannt in Form, steigt aus dem Anfang: ähnlich: die genuine Komplexität und Differenziertheit der alten Sprachen.

Deutschland, Land der Mitte seit den Karolingern und Ottonen, den Habsburgern und Preußen, Mitte zwischen Moskau und Paris, aber als Vasall überseeischer Mächte verliert es sein Gleichgewicht, und seine kulturellen Wurzeln verkümmern.

Die Wurzeln der deutschen Kultur sind germanisch und abendländisch: das Nibelungenlied und die Merseburger Zaubersprüche, Heliand und Parzival, Troubadours und Minnesänger, Madrigal und Tagelied, deutsche Rechtsbücher, Corpus iuris civilis, römische Baukunst und romanische Kathedrale, von der Gregorianik bis zur Wiener Klassik, von der Akropolis bis Spree-Athen, von Aristophanes und Sophokles bis Hölderlin, Kleist und Hofmannsthal …

Von den Priesterkollegien der frühen Republik bis zum Pontifex Maximus der Kaiserzeit, von den Quellheiligtümern bis zu den Tempeln des Forum Romanum, vom Walten der Auguren bis zum Festkalender heiliger Zeiten, von der bunten Opferschale für Proserpina bis zur hohen Kunst der Ara Pacis verlaufen die Linien und Muster des Sakralen im alten Rom.

Die Physiognomik, Typologie und Archäologie des Priesters ist noch ungeschrieben.

Die heidnischen Quellheiligtümer wurden zu Wallfahrtsorten des Marienkultes.

Freilich, der „synodale Weg“, ein Pleonasmus, der von der Unbildung derer, die ihn gehen, zeugt, weiß das fromme Gemüt zu keiner Wallfahrt mehr einzuladen.

Klopstock ist eine Fontäne, gespeist aus der Quelle des Helikon.

Aus trüben Pfützen lecken die streunenden Hunde der Gassenpoesie.

Das einmal zerrissene Spinnennetz, an dem die Tropfen der Ode und der Elegie funkelten, kann keine noch so empfindsame sehende Hand wieder zusammenflicken.

Der Wurzellose, ohne den Erdgeruch und das eigentümliche Licht einer Landschaft, der über alles redet, ohne daß eine Spur der Erinnerung zurückbleibt.

Der Junge vom Land in der Seminarbibliothek, dem noch Dung am Schuh klebte und am Gaumen das Bitterkraut der Erinnerung brannte.

Sie bemerken nicht, daß die Denkmäler, die sie niederreißen, auf sie selber einstürzen.

Der Termitenstaat wird mittels Absonderung chemischer Duftstoffe gelenkt; die Maschinerie des modernen Massenstaats mittels medialer Dauerberieselung von lügnerischen Phrasen und gleisnerischen Bildern.

Was sie überragt, müssen sie verkleinern, vom Schnee des Gipfels sagen sie: „Dort ist es kalt“, vom Öl, das die stille Flamme verzehrt: „Es stinkt.“

Wessen Wort nicht wie die Münze klingt, die auf den Ladentisch rollt das leise Plätschern dichterischen Quells findet keinen Widerhall in ihrem nüchternen Kontor.

Die Unfähigkeit zu bewundern geht mit der Verachtung des eigenen Daseins einher.

Ihre Bedeutungslosigkeit hat keine Zukunft, also soll vergangene Größe keine Gegenwart haben.

Sie haben sich bis zur Bewußtlosigkeit amüsiert und sinken in einen dumpfen Schlaf, aus dem sie, erschöpft von der atemlosen Flucht vor dem Minotaurus ihrer Traumlabyrinthe, ohne Hoffnung erwachen.

Auch den Trottel läßt man nicht durchfallen, auf daß sich die Schule nicht blamiert, auch dem Kretin verwehrt man nicht den Hochschulzugang, auf daß man nicht des Rassismus bezichtigt wird.

Die illiterate Großsprecherin macht man zur kulturpolitischen Instanz, auch wenn sie das christliche Kreuz als ein anstößiges Zeichen deklariert und ihr Musikgeschmack über den des kleinen Revuegirls nicht hinausragt.

Die sich am üblen Mundgeruch des Ressentiments erkennen.

Fräulein Müller erhält den Doktortitel, weil sie das Binnen-I jeweils eine Terz höher intonieren kann.

Der Gärtner, der Töpfer, der Goldschmied, sie wissen es noch, was der Hochschulabsolvent dank zehn Jahren, die er bei Vorlesungen und Seminaren in den Geisteswissenschaften verbummelte, vergessen hat.

Expertenräte: Stiefellecker der Politik.

Glücklich, wenn sie nur sagen, was alle sagen, fühlen, was alle fühlen.

Die das Unglück als Ehrenzeichen auf sich nehmen, aufgrund der Äußerung unverständlicher und befremdlicher Gedanken geschnitten zu werden.

Aufgrund von Muskelatrophie schleppen sich ihre Sätze an den zusammengeleimten Krücken einer perversen Moral voran.

Der athletisch federnde Gang der Epinikien des Pindar.

Die warmen Adern, die unter der zart schimmernden Haut von Goethes Versen pulsen.

 

Mrz 18 23

Sie knien hin

Von Striemen blieb verschont ihr schlaffer Geist,
die Stirnen zart wie muschelmatte Schalen,
ihr Herz erschrak nie unter Mondes Strahlen,
nie hat in ihm der Wüste Sand gegleißt.

Sie trinken Wein und rufen: „Welch ein Sturm!“,
wenn Ahnengeister an die Scheibe hämmern.
Die Seele will bei Serenaden dämmern,
schon schmatzt in ihrem Ohr ein geiler Wurm.

Wie einer an der Jahrmarktbude schießt
für seine Schöne eine Plastikrose,
sitzt ihnen jedes Wort am Gaumen lose,
das dünnen Fühlens Speichel lau umfließt.

Wie eine unbetaute Blüte graut,
verwaist in leergeräumten Zimmern,
ist ihnen lang entrückt das süße Schimmern,
da jugendlich der Liebe Blick geblaut.

Doch manchmal fühlen sie, wie alles schwankt,
wenn Wolken ihre hellen Spiegel trüben,
das Bild, das sie getragen, muß zerstieben,
von Schatten wilden Laubs das Herz umrankt.

Ein Wehen kommt, es seufzen Gras und Halm,
und Flammenflügel heben Lichtgestalten,
die Engel nur für frommen Kitsch gehalten,
sie knien hin und murmeln Davids Psalm.

 

Mrz 17 23

Knospe und Kristall

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Sagt man, am Anfang war das Wort, müßte man einschränkend präzisieren: die Aufforderung, der Befehl. Das bezeugt der Schöpfungsbericht der Genesis: Es werde Licht!

Etwas versichern oder behaupten und etwas abstreiten oder leugnen sind sprachliche Formen der Willensbekundung.

Zu berichten, daß man gestern Abend bei einer Gesellschaft zu Gast war, ist etwas anderes, als vor Gericht zu versichern, daß man an dem fraglichen Abend da und dort zu Gast (und nicht am Tatort) gewesen ist.

Die Aussage des vereidigten Zeugen, er könne sich nicht erinnern, ob der Tatverdächtige unter den Bankräubern gewesen sei, ist etwas anderes als die Leugnung des bestochenen oder erpreßten Zeugen, den Tatverdächtigen gesehen zu haben. – Die erste Aussage ist nicht inkriminabel, die zweite ein Meineid.

Mittels Umdeutung leugnen, was geschrieben steht – die dekonstruktive Hermeneutik eleganter akademischee Schwätzer.

Der zeitgeistig geschniegelte Herr Professor verkündet: „Es ist wohl wahr, Horaz apostrophiert im ersten Wort des ersten Gedichts des ersten Buches der Oden zum Zeichen, daß er ihm die Sammlung seiner Gedichte widmet, seinen Freund und Förderer Maecenas als altem königlichen Geschlecht (der Etrusker) entsprungen und die Ode gipfelt in der Aufforderung, ihn in den kleinen Kreis der großen lyrischen Dichter (neben Sappho, Alkaios und Pindar) einzureihen, als einen, der mit der Stirn das Sternengewölbe berührt, aber ihn wegen seines innigen Bezugs zum kaiserlichen Hof, seiner Zustimmung zur rückwärtsgewandten Politik des Augustus und seiner Schmähung des gemeinen Volkes (odi profanum volgus) als elitär oder gar reaktionär bezeichnen zu wollen, davor bewahre uns …“ Ja, was? Das über den glänzenden Professorenscheiteln bedenklich schwebende Damoklesschwert des politisch korrekten Hosenscheißertums.

„Der Täter hat die Geisel aus freien Stücken gehen lassen.“ – „Weil der Täter die Frau vorsätzlich über die Böschung gestoßen hat, ist die Tat als versuchter Totschlag einzustufen.“ – „Er schlug die Tür absichtlich vor ihrer Nase zu.“

„Weil die Bremsen versagten, passierte der Unfall gegen den Willen des Fahrers.“ – „Beim Reinigen des Gewehrs hat sich der tödliche Schuß versehentlich gelöst.“ – „Da er sich ernsthaft bedroht fühlte, hat er reflexhaft um sich geschlagen.“

Was wir Willen nennen, erfassen wir nicht durch Identifikation eines mentalen Gegenstands oder mittels neurologischer Untersuchung einer Hirnregion, sondern durch die sprachliche Analyse der Verwendung adverbieller Attribute von Prädikaten, mit denen wir Handlungen als freiwillig, vorsätzlich oder absichtsvoll charakterisieren; wir grenzen sie von Handlungen ab, die wir mittels adverbieller Attribute wie unfreiwillig, versehentlich oder reflexhaft charakterisieren.

Analoges gilt für die Charakterisierung sprachlicher Handlungen: Die Beleidigung der Amtsperson durch den in Gewahrsam genommenen Tatverdächtigen gilt für strafbar, die Verwünschungen desjenigen, der unter dem Tourette-Syndrom leidet, nicht.

Die sprachliche Willensbekundung, dem Freund die geliehene Summe in zwei Wochen wieder auszuhändigen, ist eine Sprachhandlung nach den Regeln dessen, was wir ein Versprechen nennen, wenn sie aus freien Stücken und mit dem Vorsatz erfolgt, das Zugesagte zu erfüllen, falls keine dem Willen des Sprechers entzogenen Hinderungsgründe auftreten; widrigenfalls drohen Sanktionen, die bis zum Bruch der Freundschaft führen können.

Eine Liste oder ein Verzeichnis materieller Gegenstände wie Möbel, Gemälde, Schmuckstücke und Bücher ist mehr als eine Übersicht über den Besitz- und Eigentumsstand einer Person, sie ist Teil der Bekundung dessen, was wir den letzten Willen nennen, wenn er als solcher deklariert und beurkundet wird.

Wir unterscheiden den Kern der Intention von der semantischen Hülle einer sprachlichen Willensbekundung.

Der Codex des Hammurabi, die Tafeln des mosaischen Gesetzes, die Edikte der römischen Kaiser und das Corpus iuris civilis des Justinian – die semantische Hülle changiert, der Kern der Intention bleibt: die Befehle und Anordnungen der Elite zur Weisung und Führung des Volkes mittels Stiftung sittlicher Institutionen.

Der versehentliche Patzer des Schülers wird korrigiert; die absichtliche Übertretung des Gesetzes aber sanktioniert.

Zeichen, wie die im Straßen-, Zug- und Flugverkehr benutzten, dienen dem, was man die Deklination des Willens nennen könnte.

Zeichen, die befehlen, dirigieren und anweisen, müssen von dem Betroffenen leicht, ohne großen Zeitverlust, ökonomisch gelesen und verstanden werden können. Die Ampel springt auf Gelb, das heißt „Achtung, abbremsen!“, dann auf Rot, das heißt „Stoppen!“

Der Interpret muß das direktive Zeichen in sein raumzeitliches oder grammatisches Koordinatensystem übertragen: Der Pfeil zeigt nach rechts, also biegt er rechts ab. Die Stimme hebt sich am Satzende; also soll er die Aussage als Frage verstehen.

Der Chemielehrer hält nach dem Experiment den beschlagenen Glaskolben in die Höhe und fordert den Schüler auf, hinzusehen und zu beschreiben, was er sieht. – Die visuelle Aufmerksamkeit und der Fokus des Blicks werden durch die Aufforderung gelenkt.

Die Werbung, sowohl in der Form gefälliger oder aufdringlicher Präsentation von Waren als auch im erotischen Sinne, ist eine Schule der Willenslenkung; wobei sich die Werbung gern und schamlos der visuellen und sprachlichen Mittel erotischer Verführung bedient.

Das werbliche Bild preist die Ware mittels ikonischer Stilisierung an, die werbliche Sprache mittels suggestiver Formeln unter Häufung von Komparativen und Superlativen.

Auch das Gedicht ist eine sprachliche Form der Willensbekundung. Der Kern seiner Intention ist nicht der bloßen Willkür des Dichters anheimgestellt, sondern eine Funktion der Gattung, die ihm die semantische Hülle in Form des rhythmisch-metrischen Stammes und des metaphorischen Laubwerks bereitstellt: Die Ode will rühmen, die Elegie klagen, die Satire spotten und das Sonett einen gedanklichen Knoten in das Seidentuch der Erinnerung (oder das Schnupftuch der Empfindsamkeit) binden.

Auch das Gedicht bedarf der Einbettung in das lebensweltliche Koordinatensystem des Lesers, um verstanden zu werden; nur entspringen die Koordinaten dieses Systems nicht dem Nullpunkt der realen Lebenssituation des Handelnden, sondern dem Nullpunkt der Imagination des Träumenden.

Auf dem Warnschild der Dichtung sieht man nicht wie auf dem realen eine Flamme oder einen Totenschädel, sondern eine feuerspeiende Chimäre oder das Schlangenhaupt der Medusa.

Die dichterische Sprache erotischer Werbung entfernt sich mehr und mehr vom Zweck der Verführung, bis sie sich bei Sappho, Horaz oder Goethe in die sprachliche Maske eines Lächelns oder Weinens, eines Triumphs oder einer Niederlage verwandelt, die aufziehen mag, wer will und wer kann.

Rhetorik ist ein Mittel, den Willen der Hörer durch geschickte Verwendung von Klängen und Rhythmen, Bildern und Metaphern, Argumenten und Scheinargumenten zu beugen.

Ausrufe wie „Hallo!“, „Schau mal!“ oder „Warte hier!“ sind Willensbeeinflussungsmittel.

Aufforderungen wollen den fremden Willen dirigieren und lenken, Fragen binden die Aufmerksamkeit des Gefragten und kanalisieren seinen Gedankenstrom.

Propaganda ist sowohl rhetorische Gemütererregungskunst als auch eine Form der Willensbemächtigung.

Dichtung haftet noch immer die magische Wirkung des Zauberspruchs (des Carmen) an.

Doch will das lyrische Gedicht nicht bloß das Gemüt rhetorisch erregen und magisch bannen, nicht nur zu erotischer Hingabe verführen, sondern in eine sprachliche Welt zweckfreien Spiels und mythischen Zaubers entführen.

Der amusische Barbar macht einen atonalen Höllenlärm, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Sein Bruder im Geiste, der neurotische Enkel der Avantgarde, und seine Schwester, die hysterische Mänade des Lyrikforums, zertrümmern die Syntax und durchlöchern das Sinnbild oder tätowieren die dünne semantische Haut des Gedichts mit grellen, abstrusen, obszönen oder grotesken Monstrositäten.

Die Eitelkeit will sich Gehör verschaffen; daher das Bellen und Schluchzen, das Grunzen und Säuseln, das Gellen und Winseln von den Podien der Akademien.

Torheit, Verstiegenheit und moralischer Dünkel dekretieren als neue Ars poetica die Verachtung der Meister, die Leugnung schöpferischer Genialität und das Credo eines ins Leere rasenden Experimentierens.

Sie behaupten, was sie da zackernd und flackernd, kauzend und mauzend, sudelnd und hudelnd betreiben, sei experimentelle Kunst; doch auf das Ergebnis solcher Experimente wartet man seit Jahren vergebens.

Wer nicht willens und in der Lage ist, eine lyrische Aussage zu gestalten, ersetzt die gelungene Gestalt durch ein mittels vager Ideen und mystischer Tinkturen zusammengeleimtes sprachliches Portentum, von dem die Dümmsten immer noch wähnen, es stehe im hohen moralischen Dienst des épater le bourgeois.

Der eine will mit reißerischen Gebärden oder possenhaften Wortspielen blenden, der andere mit dem monotonen Trampeln gichtig-plumper Versfüße ein somnambules Wanken und Schwanken evozieren.

Der Bottich für die duftende Molke des Sinns bleibt leer, denn sie haben ihn unter den stinkenden Ziegenbock des Zeitgeistes gestellt.

Sappho und Horaz, Goethe und Mallarmé; Knospe und Kristall, irisierender Tropfen und beschwingte Luft, Sternbild und Muschelschaum – aus nichts beschworen, geformt, geballt als aus Worten.

Aus dem murmelnden Brackwasser des Geredes steigt die Fontäne des Gedichts, und ihr Schaum irisiert im Mittag des Pan, ihre wehende Gischt fahlt unter den einsamen Blicken Dianas.

Das lyrische Gedicht ist die Schale, in der sich das Wasser geklärter Empfindungen sammelt, und bisweilen wiegt es köstliche Blüten der Erinnerung.

Wir sehen wirre, verschlungene Linien und Schraffuren auf der Fläche des zugefrorenen Teichs; Spuren tänzerisch-anmutiger Figurinen des Eislaufartisten.

Der Dichter wandelt einem Schlafwandler gleich auf dem von der Manege aus nicht sichtbaren dünnen Hochseil der Sprache; plötzlich wirft er die Balancierstange der Grammatik von sich und wagt den Salto.

Die dabei abstürzen, werden nicht bedauert, sondern verlacht.

Zuerst kommt das Gefäß zur Aufbewahrung von Öl und Getreide; dann gewahren wir, wie seine Form sich veredelt, ihm die Taille und die schlanken Arme des Mädchens zuwachsen; schon beginnt seine Haut zu schimmern und seine Oberfläche mit farbigen Figuren von Mythen und Märchen zu erzählen; zuletzt steht die kunstvolle Vase vor den Augen der Gäste, überhöht von den duftenden Blumen reiner Poesie.

Das Gefäß des Gedichts schwebt in der Luft, und es erfüllt sie mit zauberischen Düften jener geheimnisvollen Essenzen, mit denen es angefüllt ist.

Die Frühe schon zeigt das Vollkommene und Vortreffliche; die Psalmen, das Hohelied, die Epen; Torheit, von Evolution zu faseln, Torheit, den Glanz der Urbilder mit dem Eigendünkel des Epigonen zu verdunkeln.

Der selbstvergessen singt, heiter durch den dämmernden Wald der Sprache streifend.

 

Mrz 16 23

Was übrig blieb

Und hebst du aus der Nacht dein Angesicht,
das knospeninnig Träume in sich schlossen,
im Katarakt des Lichts ist es zerflossen,
nach Mondes stiller Frucht verlangt dich nicht.

Und trottest du den ausgetretenen Pfad,
des Tages starren Grenzzaun zu beschauen,
ist Sand in dir das weiche Niedertauen,
der Sterne Tropfen aus Dianas Bad.

Du mußt es klauben, eine Münze matt,
das Wort im Kot des Markts, im Staub der Gassen,
beschwingte Luft, die keine Siegel fassen,
trug fort das fleckenlose Blütenblatt.

Im Wingert hast dem heißen Gott der Zeit
die Reben du mit grünem Bast gewunden,
der Duft der Veilchen ist, er ist entschwunden,
den deinem Atem zarte Hand geweiht.

Und hat ans Fenster dich die Herbstesnacht
gelockt, das Herz, das dumpfe Herz zu kühlen,
kannst du das Wehen, kannst von Liebe fühlen,
was übrig blieb an hoher Blütenpracht.

 

Mrz 15 23

Der Rauch aus den Furchen

Und was wir gesagt und was wir gedacht,
sind Pollen, die keine Blüten mehr finden.
Gesänge, um die sich noch Sternbilder winden,
ersticken schon Nebel, begräbt schon die Nacht.

Die schimmernde Quelle, sie sprach uns zu matt,
und haben aus Worten wir Funken geschlagen,
der Wind hat hinweg uns die Funken getragen,
wir baten den Quell um ein Blütenblatt.

Die Blume entsproß, ihr Duft war gering,
und haben gepreßt wir uns Wein aus den Reimen,
der Geist des Weines blieb im Geheimen,
wir neigten zur Blume uns, Duft, er verging.

Wir hatten nur Erde noch, trockenen Staub,
und haben nach Wasser in Versen gegraben,
an Wassern die heiße Stirn uns zu laben,
aus Furchen quoll Rauch, die Zunge war taub.

 

Mrz 14 23

Als rauschte noch der Strom

Es war ein Schimmern zart in dunklem Quell,
als wir in Abendlaubes Schatten gingen.
Es war, als hörten wir von ferne singen,
wie eines Kinderliedes Ritornell.

Du hast mir wie ein weiches Blütenblatt
auf meine blasse Wange Hauch gebreitet,
hat sich an deinem auch mein Blick geweitet,
vor deinen Sternen blieb mein Auge matt.

Es war ein Wehen dunkler Wipfel süß,
als wir im Moos bei Uferweiden lagen.
Es war kein Menschenwort, vom Weh zu sagen,
als rauschte noch der Strom im Paradies.

Ich hab wie eine Knospe traumesschwer
das dumpfe Haupt in deinen Schoß gebettet,
und träumte ich, wie mich dein Lichtkuß rettet,
die Knospe hat geöffnet sich nicht mehr.

 

Mrz 13 23

Bejahende und verneinende Gesten

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir können nicht alles offen und in der Schwebe halten; irgendwann müssen wir uns entscheiden, ja oder nein sagen.

Wir mögen das Zugesagte zurücknehmen, doch dann bleibt ein Hautgout der Zweideutigkeit an uns haften.

Im Vagen und im Zweifel können wir auf Dauer keine Bleibe finden.

Auch wenn wir zugestehen, daß viele sprachliche Ausdrücke, wie Wittgenstein sah, keinen festen Bedeutungskern haben, wird kein zwischen den Grenzen des Sinns nomadisierender Philosoph der Postmoderne uns darin wankend machen, daß Ja das Gegenteil von Nein und Nein das Gegenteil von Ja, die ausgestreckte Hand des Freundes das Gegenteil der gezückten Waffe des Feindes bedeutet.

Wir müssen denjenigen, der uns verspricht, das geliehene Buch zum ausgemachten Termin wieder auszuhändigen, beim Wort nehmen können.

Der Treulose und Wortbrüchige kann sich nicht darauf hinausreden, wir lebten in einer Art
Traumwirklichkeit, in der jeder Sinn seinen Gegensinn impliziere. – Denn wenn Ja Nein impliziert, müssen wir für immer schweigen.

Aussagen, die wir nicht begründen können, müssen wir nicht notwendig in Zweifel ziehen oder skeptisch in der Schwebe halten. – Aussagen über sinnliche Empfindungen und Wahrnehmungen, Erinnerungen, Befürchtungen, Hoffnungen und Erwartungen bedürfen keiner Begründung oder rationalen Rechtfertigung: „Mir ist kalt.“ – „Ich habe Zahnweh.“ – „Ich habe von dir geträumt.“ – „Ich habe mich an unseren letzten Spaziergang erinnert.“ – „Ich fürchte mich vor der Dunkelheit.“ – „Ich befürchte, die Aufgabe wird mich überfordern.“ – „Ich hoffe, die Aufgabe wird mich nicht überfordern.“ – „Ich erwarte nicht, daß er diesmal pünktlich kommen wird.“

Dagegen begründen wir Aussagen über physikalische Zustände und Ereignisse, mathematische Strukturen sowie (historische) Handlungen durch die Angabe von Gesetzen, Regeln und Motiven. – „Schnee und Nebel bestehen aus Wasser, denn beides ist H2O“ –
„2 x 4 = 4 x 2“, denn 2 x (2 x 2) = (2 x2) x 2. – „Im Jahre 49 v. Chr. überschritt Cäsar den Rubikon, um die Macht des römischen Senats in die Schranken zu weisen.“

Die Gesetze, Regeln und psychologischen Annahmen, mittels derer wir Aussagen begründen, können wir ihrerseits begründen; doch nur bis zu einer internen Grenze des Denk- und Sagbaren.

Wir können nicht tiefer begründen, weshalb unter der Voraussetzung der Atomtheorie die chemische Analyse von Wasser die Formel H2O ergibt; wir können nicht tiefer begründen, weshalb unter der Voraussetzung der Zahlentheorie 2 x 4 = 4 x 2; wir können nicht tiefer begründen, weshalb Cäsar unter den gegebenen historischen Konstellationen wollte, was er wollte.

In einer mythischen Welt erklären wir physikalische Ereignisse und physiologische Veränderungen als Folgen absichtsvoller Handlungen göttlicher Wesen. – „Zeus schleudert Blitze auf die aufständischen Titanen.“ – „Apollon schießt vergiftete Pfeile auf die Achaier, um sie durch die Ausbreitung der Pest für ihren Ungehorsam zu bestrafen.“

Im Unterschied zu rationalen Erklärungen lassen mythische Annahmen keine weiteren Begründungen zu.

Das gegebene Ja-Wort, mag es dem Bräutigam auch zögernd über die Lippen kommen, bindet. Das Ja-Wort vertritt eine Aussage, nämlich die Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen des Ehekontrakts. – Die Scheidung verneint das gegebene Wort, aber macht aus dem Geschiedenen nicht wieder einen Junggesellen, sondern einen ehemals verheirateten Mann.

Wir können die Unterschrift unter einem Dokument als Ja-Wort betrachten.

Wir können die Gewißheit einer der Begründung nicht bedürftigen Aussage wie „Ich habe Schmerzen“ und die Authentizität eines gegebenen Ja-Worts wie einer Unterschrift nur in Zweifel ziehen, wenn wir dem Sprecher oder Schreiber unlautere Absichten unterstellen oder geistige Unzurechnungsfähigkeit attestieren.

Die verneinende, abweisende, verwerfende Geste bildet gleisnerisch und verräterisch das Verneinte, Abgewiesene, Verworfene ab, ähnlich dem Schatten, der den Umriß der Gestalt verrät.

Das Nein des Verzichts bildet eine Narbe, eine Kruste über dem Begehrten.

Horaz ist ein Meister der verneinenden Gebärde, in der das Verneinte in seiner durchaus verführerischen Pracht anwesend ist, aber auch der bejahenden, die durch Schlichtheit oder Nonchalance besticht:

Persicos odi, puer, apparatus,
displicent nexae philyra coronae,
mitte sectari, rosa quo locorum
sera moretur.

Simplici myrto nihil adlabores
sedulus, curo: neque te ministrum
dedecet myrtus neque me sub arta
vite bibentem.

Mich stößt ab Perserprotz und zuwider, Sklave,
sind die Kränze mir, die mit Bast verzwirnten.
Such nicht mehr, wo unter Schatten späte
Rosen noch glühen.

Lass die Myrte schlicht, das Gekünstel trübt den
Eindruck. So du dann mir die Schale spendest
und ich leere sie unter Weinlaubs Dämmer,
schmückt uns die Myrte.

Carmen 1, 28

Der allzu selbstherrliche Prunk und die überschwengliche Rhetorik des Zierrats und der Ranken an Bauten, Kleidern und Gedichten mögen der Bejahung des Daseins dienen, doch wirken sie hohl, wenn seine Quellen getrübt oder schon erloschen sind. – Die von Wittgenstein mitentworfene Villa für seine Schwester Margarete, die durch ihre allen ornamentalen Schmucks beraubte Ästhetik und die kahle Mystik ihrer Verschwiegenheit für sich einnimmt.

Der Asket, der sich in die Dämmerung einsamer Höhlen oder hinter die Mauern des Schweigens zurückzieht, scheint des Buhlens um menschliche Aufmerksamkeit entsagt zu haben, hofft aber auf gütige, und wenn nicht gütige, zumindest strenge Blicke aus höheren Sphären.

Die den funkelnden Spiegel zerschlagen, hoffen noch auf ein fernes Licht aus dem Dunkel.

Biegen wir ab, können wir die andere Seite nur nach einem langen Umweg erreichen.

Der asketische Bilderstürmer reißt die Wand mit den üppigen Fresken der Wollust nieder; das Gebäude stürzt ein, die Trümmer begraben ihn unter sich; es war eine tragende Wand.

Des rhetorischen Zierrats überdrüssig neigte er zu lapidaren Sätzen. – Doch auch Gnomen sind eine rhetorische Figur.

Man muß ausgeatmet haben, um wieder einzuatmen.

Man muß die Tafel reinigen, um neue Zeichen darauf zu schreiben; man muß die Ruine beseitigen, um neu zu bauen.

Man muß die Quelle der Selbsttäuschung trockenlegen, um die nährende zu finden.

Der asketische Atemkünstler ist eine radikalisierte Abwandlung des Kafkaschen Hungerkünstlers.

Man muß das Erlebte verdaut und das Verdaute ausgeschieden haben, um wieder frische Lebenskost zu sich nehmen zu können.

Seufzer, Flüche, Träume oder Witze sind unsere Weisen, das verdaute Erleben auszuscheiden.

Die Polarität von Licht und Dunkel, Leben und Tod, Mann und Frau ist, wie Goethe sah, die Weisheit der Natur, tiefer zu sehen, inniger zu fühlen, Dauer im Wandel zu haben.

Die Größe und Ruhe des weiblichen Eis werden von der Kleinheit und Beweglichkeit des männlichen Spermas supplementiert. – Die Winzigkeit und nervöse Unruhe des männlichen Spermas werden von der stoischen Ruhe und Gelassenheit des weiblichen Eis ironisiert.

Keine Gestalt ohne das Amorphe, dem sie entspringt, den Schatten, den sie wirft, das Gestaltlose, in das sie zurückkehrt.

Den Fortschritt der Beschleunigung bezahlen wir mit der zunehmenden Trägheit der Empfindung. – Den Halm gewahrt der Wanderer, die Wiese der Radfahrer, den Schatten der Landschaft der Autofahrer.

Achill bezahlt den Ruhm mit einem frühen Tod.

Wir bezahlen Wohlleben und Lebensverlängerung mit Abstumpfung und Langeweile.

Den weltanschaulichen Phantasten, die hysterische Mänade oder einen, der unter Panikattacken und Weltuntergangsängsten leidet, wollen wir nicht im Cockpit, nicht am Steuerruder des Staates dulden.

Der leptosome Schlacks wird kein Weltmeister im Kugelstoßen. – Doch der schüchterne Stotterer entpuppt sich als genialer Epiker.

Nur selten taugen Dichter zu Ministern. – Unter amtlichen Verlautbarungen knickt jeder Versfuß ein.

Gedichte, die am Phantomschmerz amputierter Versfüße leiden.

Das dialektische Gespräch zwischen Sympathikus und Parasympathikus, Lunge und Herz, Gehirn und Geschlechtsteil amüsiert, wenn wir schlafen, die Engel und die Dämonen des Traums.

Ein Lächeln zu sehen ist nicht die (richtige oder falsche) Deutung von Gesichtszügen. – Waren die Gesichtszüge, bevor du sie als Lächeln deutetest, ein nichtssagendes Kräuseln der Hautoberfläche?

Eine Frage zu verstehen ist nicht die (richtige oder falsche) Deutung einer Reihe von Lauten. – Waren die Laute, bevor du sie als Frage deutetest, nichtssagende Schwingungen der Luft?

„Warte hier eine Weile!“ – Wir bedürfen weder eines präzisen räumlichen noch zeitlichen Maßstabs, um das Gemeinte mitzuteilen oder zu verstehen. – Doch die geschuldete Summe wollen wir auf Heller und Pfennig auf die Hand gezählt bekommen.

Je tiefer die Sonne, umso länger die Schatten. – Erst Livius, dann Tacitus; erst Lukrez, dann Seneca.

Die Erinnerung ist nicht das Bild des Erinnerten. Wie könnten wir ihre Ähnlichkeit ermessen?

Der Name ist nicht der Schatten des Benannten. – Der Schatten sank ins Grab, der Name leuchtet im Gedächtnis.

Nur wer des Mißtrauens fähig ist, kann vertrauen. – Wer im Mißtrauen verharrt, bleibt allein, auch wenn er vorgibt oder wähnt, dieser und jener sei sein Freund. – Wer allzu vertrauensselig ist, wird von Schmeichlern und falschen Freunden übers Ohr gehauen.

„Die Sonne sinkt, die Schatten wachsen.“ – Die glitzernden Wogen unter der Sonne Homers, die Schattenspiele des reifen Horaz.

„Seine Seele hat sich verfinstert.“ – Umso bezaubernder der Glanz seines Lächelns.

Wir nehmen die Metaphern und Bilder zur Beschreibung seelischer Zustände aus der physischen Welt. Wir fühlen uns bedrückt oder gehoben, nehmen etwas schwer oder leicht. „Ein Stein fiel ihm vom Herzen.“

Es wäre töricht, jemanden zu fragen, wie schwer denn der Stein war, der ihm vom Herzen fiel.

„Er sah keinen Ausweg mehr.“ – „Die Landschaft hat sich wieder offen vor ihm ausgebreitet.“ – Die sind keine topographischen Beschreibungen.

Psychologie oder unser Verstehen seelischer Zustände und Vorgänge ist keine exakte Wissenschaft, die aus klaren Prämissen eindeutige Schlüsse zieht.

Wenn einer lächelt, folgt daraus nicht, daß er fröhlich, heiter oder glücklich ist. Wir sehen genauer hin und bemerken: Es gibt ein kaltes und ironisches Lächeln, die Maske eines konventionellen Lächelns oder ein Lächeln als Ausdruck von Unbehagen und Verlegenheit.

Wir bedürfen mehr als der Wahrnehmung eines Gesichtsausdrucks, einer Geste, einer Verlautbarung, um psychologisch ins Reine zu kommen; beispielsweise der Beschreibung der sozialen Situation.

Er lächelt, obwohl er sich unbehaglich und verlegen fühlt; er schweigt, obwohl er gefragt wurde und es auf sein Wort ankommt; er sieht keinen Ausweg, obwohl die Tür nur angelehnt ist.

Das Klagelied ist ein Supplement und Sublimat der Wehrufe und Seufzer der Totenklage.

Die Liebeselegie ist ein Supplement und Sublimat der Wehrufe und Seufzer über den Verlust der Geliebten.

Wehrufe sind keine Beschreibung dessen, was sie hervorruft; Klagelieder und Elegien keine Beschreibung des Totenschattens oder des Schattens der Geliebten, sondern die Beschwörung des Lebens des Verstorbenen und der Nähe der Geliebten.

Die Hügel werden von den Wassern des Himmels allmählich abgetragen, die Städte und Kulturen, die er nährte, reißt der Strom ins Vergessen, die Großsprecher werden kleinlaut am End.

Wir können das Mißbehagen, die Verluste, die Monstrositäten des Lebens nicht, wie Schopenhauer meinte, eindeutig unter das Saldo der Lebensbilanz eintragen. Die Enttäuschungen der erotischen Liebe wiesen Proust den Weg zur Erkenntnis des bleibenden Wertes der Kunst; den Frauen, die das Grab leer fanden, verkündete der Engel die Auferstehung; das Ungeheuer der Sphinx zerfiel vor dem Wort des Ödipus zu Staub.

 

Mrz 12 23

Wir Erben früher Zeit

Erst pflückten sie von Zweigen süße Frucht,
dann rieben sie den Stein, und Funken flogen,
die Pfeile schnellten schwirrend los vom Bogen,
vergiftete, dem Wild half keine Flucht.

Das Feuer war die Heimat in der Nacht,
unheimlich aber warf es auf die Bäume
die Schatten ihrer geisterhaften Träume,
und droben sprühte es, kristallene Pracht.

In Höhlen klatschten sie die feuchte Hand,
wie zu bezeugen, daß sie da gewesen,
zu hoher Bildkunst hat sie auserlesen
ein Blick, der magisch Form der Fülle fand.

Ihr ernster Mund, wie er den Mond beschwor,
geheimen Hain der Göttin zu erhellen,
trank heiße Sänge sich aus kühlen Quellen,
hell ward der Hain, wo sich die Spur verlor.

Die Erben sind wir noch der frühen Zeit,
wenn Träume wir wie Flammenschatten malen,
mit Liedes Blüten höhen irdene Schalen,
am Totenmale Licht der Ewigkeit.

Was dunklem Dichter in seinem Auge blinkt,
ein Stern ist es, aus ihrem Blut geboren,
die Mythe sank, das Bild blieb unverloren,
ihr Durst ist es, wenn unser Glutmund trinkt.

 

Mrz 11 23

Das Veilchen kehrt zurück

Daß wir den Mund, der uns geküßt, belehrt,
die trockne, sterbensbleiche Blume tränken.
Daß wir des Toten schweigend zu gedenken,
am Fenster lehnen, still in uns gekehrt.

Und manchmal gehn wir zum basaltenen Mal,
dem dunklen Namen Lichter zu entzünden,
und manchmal sind es Blüten, die wir winden,
und Blüten leuchten grüner Nacht Opal.

Daß wir des Wortes irden-schlichten Krug
mit Rosen höhen, schmücken mit Narzissen,
wenn wir des Liedes Blütenlicht vermissen,
und oft flammt Phlox und Ginster hell genug.

Und sommers liegen wir im Ufergras,
zu lauschen, ob uns Wellen noch bejahen,
des Fernen denken wir, des immer Nahen,
der unsrer Narben Rätselrunen las.

Daß wir es fühlen spät, das süße Licht,
erzittern in der Bitterkräuter Ranken
und wir mit Tränen es der Erde danken,
ist ihrer Qual erblüht das Lobgedicht.

Und muß das Veilchen, muß der lichte Blick
der Liebe blassen, muß im Schnee erblinden,
das Veilchen soll für immer nicht entschwinden,
im Frühling kehrt, im Lied kehrt es zurück.

 

Mrz 10 23

Der faunische Traum des Hirten

Die Bläue zittert noch von Faunes Lied,
der Wohllaut ist dem schiefen Mund gelungen,
der Hirt schläft ein, von Zauberduft bezwungen,
ein Plätschern hört, ein Seufzen er im Ried.

Ihm träumt, die Nymphe schwimmt, das Haar gelöst,
und weiße Blüten überschäumen Lenden,
Gestirne sind, die hohen Glanz verschwenden,
daß zartumfranst sich blauer Samt entblößt.

Da beugt das Ufergras sich blankem Huf,
es schmiegt ans Fell das Schilf sich dem Kentauer,
der Mann, er sieht, das Tier faßt wilder Schauer,
doch folgen weiche Wellen heißem Ruf.

Die Schöne lockt empor das Wunderbild,
der Pferdemann geht vor ihr in die Kniee,
ob sie sich aufschwang, daß sie mit ihm fliehe,
dem Träumer hat es jäher Dunst verhüllt.

 

Mrz 9 23

Das Lied von der Linde

Die Wolken mähte Wind wie Dämmergras.
Das Licht der Linde, wo sie abends lehnten,
die laue Luft mit Plaudereien dehnten,
ist still getröpfelt in ein grünes Glas.

Kam mit der Mundharmonika der Gnom,
die Federn am verbeulten Filzhut schwankten,
wenn seine Lieder Seufzer wild umrankten,
bis sie verstummt, erstickt im Tränenstrom.

Hat sich das Blatt dem Kuß des Monds geneigt,
gehörte Liebenden das dunkle Rauschen,
geheime Blicke feuchten Glanzes tauschen,
daß aus dem Abgrund Schaum der Wehlust steigt.

Du, armer Träumer, aber bliebst allein,
wenn in der Winternacht der Baum die Äste
emporgereckt zur öden Himmelsveste.
O Licht der Venus trink im goldnen Wein.

 

Mrz 8 23

Verlies der Kindheit

Verlies der Kindheit, Grünspan, Kohlenstaub,
die braunen Flaschen auf den Holzregalen,
Kartoffeln, dran vergebens Sprossen fahlen,
im Dämmerlichte zitternd Schattenlaub.

Ein Klotz, wo seufzend sich das Beil erschöpft,
wie ein Altar archaisch dunkler Weihen,
kein Flattern kann den Hahn vorm Tode feien,
wenn fluchend ihn der Opferpriester köpft.

Auf krummen Stufen tappst du in die Nacht,
den Wein zu holen, wie man dich geheißen,
da ist ein Flüstern, ist ein knöchern Gleißen,
die Alte strickt am Ofen, grinst und lacht.

Hier saßen sie, der Himmel hat gedröhnt,
und Fackeln warf der Gott, das Ungeheuer,
auf Gut und Böse, Dächer, Stall und Scheuer,
kein Heiland war, kein Kreuz, das ihn versöhnt.

Hier saß der Knabe auch, der Jüngling bleich,
gequält von Bildern dumpfer Phantasien,
Dämonen, die im Ohr des Herzens schrien,
bis Sapphos Hand ihn hob ins Blütenreich.

 

Mrz 7 23

Wo das Fragen mündet

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Sie können mit immer effizienteren Motoren sich immer schneller fortbewegen – doch wohin die Reise geht, wissen sie nicht.

Was für ein erbärmliches Volk, das jene Frauen kürt und feiert, die sich öffentlich brüsten, die Leibesfrucht getötet zu haben (die anderen verdienen keine Erwähnung).

Alle sagen, was alle sagen, alle denken, was alle denken. – Wer etwas anderes sagt und denkt, fühlt sich gleich unbehaglich.

Wer etwas verlautbart, ohne Partei zu ergreifen, gilt für verdächtig.

Sine ira et studio, die Devise der abendländischen Historiographie: Schall und Rauch.

Ähnlich wie die Kontinentalplatten zu Rissen und Brüchen, Verwerfungen und Erschütterungen zwischen Landmassen und Regionen führen, ist es mit der von den Unterweltsströmen der Geschichte hin- und hergetriebenen Tektonik der Kulturen.

Das Bemühen um historische Gerechtigkeit bei der Beschreibung vergangener Ereignisse beginnt mit der Aufzeichnung des Konfliktes zwischen Okzident und Orient in den Perserkriegen.

Die polemische Spannung zwischen hellenischer Freiheit und persischer Tyrannei, selbstherrlicher Gesinnung und hündischer Proskynese in der ersten uns erhaltenen Tragödie, den „Persern“ des Aischylos.

Die Schlacht bei Actium markiert die einschneidende Zäsur zwischen dem Imperium Romanum und dem Orient (aus den Persern werden die Parther, später die von asiatischen Nomaden vor sich hergetriebenen Goten).

Kleopatra als Femme fatale, Kokotte, Megäre und Mänade im Zerrspiegel der römischen Kriegspropaganda, von den Platitüden der Gasse bis zu den Gipfeln eines Horaz; die Ausschweifungen am ägyptischen Hof als Orgien unter bacchantischer Begleitung eines Chors von Kastraten.

Unter Perikles wurden die größten Künstler gefördert, unter Augustus die größten Dichter; unter Hitler und Stalin fast nur Ausschußware. – Unter dem Meinungsregime von Habermas und Konsorten sah sich einer der größten Gelehrten der Historikerzunft zur Emigration gezwungen.

Wie grandios die Rasse dichtet, sieht man an der Poesie der Négritude.

Will man den Stier zum friedlichen Kommunarden der Kuhherde machen, muß man ihn kastrieren.

Der Faszinierte kann recht dämlich dreinschauen.

Sagen wir, Testosteron sei das chemische Gemisch, das in Gewalttaten und Kriegen explodiert, wäre die Kastration des Mannes der Königsweg zu einer effeminierten und pazifizierten Weltkultur.

Von den üppigen Brüsten der Frau Welt ist einer nur so lange fasziniert, bis er das wurmzerfressene Hinterteil erblickt hat.

Wem aus den unendlichen Abgründen des Universums kein gütiger Blick mehr den seinen spiegelt, wäre erleichtert, träfe ihn wenigstens der böse eines Ungeheuers, wie es sich die Manichäer erträumten.

Wer den liebenden Blick der Frau sich verdunkeln sieht, was gewahrt er anderes als jene leeren kosmischen Tiefen?

Eine Art surreale Bombe explodiert, und am Ende bilden sich Sterne und Galaxien aus dem stofflosen Abgrund.

An die eigene Existenz kann man sich nicht gewöhnen wie an einen neuen Wohnort, andere Sitten oder sich in einer fremden Sprache auszudrücken, ja in ihr zu träumen.

Die Idee der Heiligkeit und Reinheit und die Idee der genozidalen Vernichtung alles Unreinen koinzidieren im Gott des Alten Testaments.

Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, wie die schöpferische Potenz des männlichen Geschlechts nicht ohne seine destruktive.

Mit der Möglichkeit der Wahrheit, Luzidität und Redlichkeit kommt die Möglichkeit der Unwahrheit, Verwirrung und Verlogenheit zur Welt der Sprache.

Der treue Hund – doch weil er nicht lügen kann, vermag er auch nicht aufrichtig zu sein.

Im letzten trügt der Anschein nicht. – Jener scheue Schweiger und schamhafte Stotterer war der Verfasser des größten Epos der Römer.

Den Namenlosen krönt der Ruhm der Selbstüberwindung.

Nach dem genialischen Anfall, der ihn rätselhafte Ranken und panische Striche kritzeln und überkritzeln ließ, überkommt den Künstler der frostiger Schauer der Ernüchterung und er tilgt sie wieder aus.

Die Stille einzig ist wahr; waren alle nervösen Versuche, die Tür ihres Hauses zu öffnen, vergeblich, dem ohnmächtig auf die Schwelle Herabgesunkenen, dem Hoffnungslosen, tut sie sich mit einemmale von selbst auf. – Doch es ist zu spät, er hat die Kraft nicht mehr, sich zu erheben und die Schwelle zu übertreten.

Er hatte all sein Kraft bei den vergeblichen Versuchen, die Tür des Hauses der Stille durch Anwendung immer ausgefeilterer Techniken, am Ende mittels roher Gewalt zu öffnen, verbraucht; ohnmächtig auf die Schwelle herabgesunken vermochte er sich nicht mehr zu erheben, als sich die Tür mit einemmale von selbst auftat.

Besser der Horror des Kreuzes als der Kitsch des Lamms.

Er hatte so tief gegraben, bis der Spaten am nackten Felsen zersprang.

Wo das Fragen mündet: der stille Ozean.

Der Felsen, an dem der fliegende Holländer zerschellt, ragt vor den Inseln der Seligen.

Ein Gespenst, das über das Geröllfeld und Brachland der Sprache schleicht.

Die Sätze – schattige Zweige voller Stacheln, und die sie vor dem raschen Zugriff bewahren, die schwarzen Beeren des Sinns.

Die nach Seife riecht, Deodorant oder Chlor, die aseptische Sprache der Medien.

Im fruchtbaren Humus wimmeln die Würmer.

Der kastrierte Mann und die sterile Frau, das ideale Paar des Modern Life.

Im Nebel zu stochern vertieft nicht die Sicht; man muß geduldig warten, bis er sich im Strahl der Morgensonne auflöst.

Das Haus des Dichters: Jedes Zimmer, jeder Raum hatte seinen Duft, der Keller roch nach Wein, Holz. Kohlenstaub und Kartoffeln, der düstere Korridor nach der immer brennenden Honigkerze vor dem Marienbild, in der guten Stube mischten sich Gewürze, Rosenduft und herber Rauch des Ofens, durch die Mansarde wehte der Duft frischer Wäsche.

Die Seele ist kein Geist in der Flasche, den der Traum oder das Gedicht herausschlüpfen ließe, und seine gasförmige Essenz nähme schattenhaft und ephemer Gestalt an; sie ist plötzlich präsent in einem Lächeln, einer Geste, einem Wort, und sie ist noch da, wenn das Lächeln erstirbt, die Hand herabsinkt, das Wort verhallt.

Sie wollen alle bewundert werden, der Krieger im blinkenden Helm, der Priester mit den hohlen Wangen, der Malerfürst mit dem rubinroten Ring, der Mann für sein Bescheidwissen, die Frau für die wohlgeformte Taille, der Gourmet für sein rosiges Lächeln, der Asket für seine schrumpelige Haut.

Der Dichter will bewundert werden für seine Kühnheit, auf dem dünnen Hochseil sprachlicher Akrobatik das Gleichgewicht zu halten; er giert nach dem Applaus, der ihm aus dem schwarzen Orkus der Manege entgegenschwillt, wenn er, die Balancierstange der Grammatik von sich werfend, den Salto mortale einer grotesken Metapher vollführt.

Vor aller Augen von der räudigen Meute gehetzt oder zerfleischt zu werden gilt ihnen immer noch für erstrebenswerter als unbeachtet am Rand des Marktplatzes zu stehen, verborgen hinter der Maske des Herrn Jedermann.

Ich bin da, sagt der erste Vers, ich sterbe nicht ganz, der letzte.

Der Angstkitsch des Glaubens, der dem Schatten der Seele ein Bleiberecht im Jenseits abzwingen will.

Was sich vor aller Augen vollzieht, Fäulnis und Untergang der Kirche, lehrt den Verzicht auf den amtlich garantierten sakramentalen Trost.

Die feste Nahrung wird chemisch zersetzt und verdaut, nur so kann sie assimiliert werden. – Das Gesehene, Gehörte, Erlebte wird gedanklich zersetzt und verdaut, nur so kann es assimiliert werden.

Lohnschreiber und Journalisten oder Journalisten-Schriftsteller, die Unverdautes wieder erbrechen, und denen man es dankbar abnimmt, so gestaltlos und ungestalt es immer sein mag.

Nur feste Nahrung, nur wohlgeformte Sätze und Dichtungen können wir verdauen.

Die Kränkung verwinden ist das Ziel. – Die erste Kränkung: die Geburt und die kalte Dusche eines fremden, grellen Lichts.

Die Verwindung oder das Einrollen imaginärer Möglichkeiten. – Das kleine Kind sagt: „Hol mir den Mond vom Himmel“, denn er scheint ihm nahe wie ein Lampion.

Die Illusionen erotischer Allmacht oder die Kränkungen der Liebe.

Der in eine Sackgasse gefahren ist, kann nicht mehr wenden; er muß aussteigen und den Weg zu Fuß zurücklegen.

Die Kränkung des Erstgeborenen durch das Geschwister. – Vom Thron der Alleinherrschaft magischen Denkens steigen wir hinab in die Ebene alltäglicher Flickschusterei.

Die Kränkung verwinden, daß sich die Sonne des Daseins nicht um den kleinen Spielball der eigenen Existenz dreht.

Die Kränkung verwinden, daß es auf die immer wieder aufbrandende Welle der Fragen keine Antwort gibt; zu erkennen, daß sie das Gravitationsfeld eines fremden Körpers, des Mondes der Einbildungskraft, aufrührt und wieder versinken läßt.

Die Kränkung durch den Tod der Geliebten läßt sich nicht durch Geisterbeschwörungen verwinden.

Aus dem Nebel bilden sich Tropfen, sie fallen zur Erde, versinken; wir hoffen, daß sie Wurzeln nähren, Blumen knospen lassen oder Quellen speisen für den Durst der Kreatur und nicht augenblicks unter einem gnadenlosen Strahl verdunsten. – Wir können es hoffen, aber nicht wissen, auch nicht von den Tropfen, die sich aus dem Nebel unserer eigenen Existenz bilden.

 

Mrz 6 23

Die Alte und der Knabe

Dem Andenken an Katharina Hilten aus Alt-Metternich

Ja, dich umschwebte Duft verharzter Rinden.
Wie stiller Blüten mondbehauchte Leuchte,
wenn Dämmerungen sie sich hold entwinden,
war deiner gütigen Augen Veilchenfeuchte.

Kartoffeln konntest du und Äpfel schälen,
und Schlange hat geringelt sich an Schlange.
Der Knabe durfte dir die Haare strählen,
die Fülle raffen in die Silberspange.

Im steinernen Herd hast Scheite du geschichtet,
die zögernde, die blaue Flamme angeblasen,
das Dunkel hat sich milden Sinns gelichtet,
und Rosen glühten auf in irdenen Vasen.

Wenn aber Glocken durch die Weihnacht riefen,
ging unser Weg im Schnee zur lichten Krippe,
und Bilder, die im Schrein des Herzens schliefen,
erwachten, und es bebte deine Lippe.

Nun ist dein Grab, dein Herz, du bist verschollen,
könnt weinen deiner Asche, weich ein Knabe,
der graue Enkel, dir letzte Ehre zollen
und streuen auf den Stein die Blütengabe.

 

Mrz 5 23

Was seltsam ist

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Seltsam, aufzuwachen und dir zu sagen, daß alles noch da ist, alles an seinem Platz, der Stuhl, die Lampe, das Bild – und du selbst – nein, nicht ganz, etwas geschah in dieser Nacht, doch du kannst dich daran nicht erinnern, als sei es im Traum geschehen, der Traum aber bleibe für immer unzugänglich.

Sehen ist seltsam, nicht dies und das, worauf man starrt oder was man überfliegt, sondern irgendwas; und immer hat es eine beleuchtete, offensichtliche Seite und eine dunkle, verborgene; immer ist es etwas, was ruht oder sich bewegt, unbelebt ist oder belebt, stumm ist oder spricht, immer etwas, was mit anderen Dingen in Verbindung steht, die wiederum mit anderen Dingen in Verbindung stehen.

Ist Sehen (Theorie) eher eine Erfindung der Philosophen, während wir nicht anders können als schauen oder starren, spähen oder lugen, betrachten oder gaffen, Ausschau halten oder vor uns hin stieren, neugierig, gelangweilt, erschrocken, herablassend, beschämt, hochnäsig und auf hundert andere Arten sehen?

Seltsam zu sehen, daß man gesehen wird; ungesehen, versteckt, heimlich anders zu sehen als im Blickfeld der anderen, auf der belebten Straße anders als beim einsamen Gang durch das hohe Schilf des Uferpfads.

Unter dem prüfenden, registrierenden Blick des Arztes das Licht der Welt zu erblicken oder dem liebenden, bejahenden der Mutter. – Ärger als unter dem gleichgültigen Blick des Arztes unter dem verneinenden der Mutter.

Das Urteil im Blick der anderen, das uns ein Leben lang verfolgt. Das wir erst abschütteln, wenn wir Abschied nehmen für immer.

Sich so zu geben, zu bewegen, zu reden, wie man ins Blickfeld der anderen paßt. – Sich eng machen oder bücken, wie beim Eintritt in eine Höhle, einen Unterstand, einen Bunker.

Der schwierige Grat zwischen Höflichkeit, Galanterie und Selbsttäuschung.

Sich unkenntlich machen, maskieren, larvieren, um dem Blick des anderen zu entrinnen. – Bis man sich selber undeutlich, unkenntlich, verabscheuungswürdig vorkommt.

Mehr und mehr übte er sich darin, so zu reden, so zu schreiben, daß er unerkannt blieb, nicht mehr verstanden, mißverstanden wurde.

Sich ins Gestrüpp von Rätseln flüchten und an seinen Stacheln melodramatisch vor sich hin bluten.

Der Handel mit der Sichtbarkeit: ein Kostüm, eine Maske, eine Gestalt anziehen, die zum Image wird, das jeder auf Anhieb erkennt und wiedererkennt.

Die Meinung der anderen anziehen wie die Kleidung, die gerade Mode ist. Und wieder abstreifen müssen, wenn sie aus der Mode kommt; aber sie scheint zur zweiten Haut geworden, und bei allem Zerren und Reißen geht die erste, die echte mit ab.

Die Verlegenheit eines, der in guter Gesellschaft mit einer ärmlichen, zerschlissenen oder fleckigen Jacke auftaucht.

Der mit dem Stigma auf der Stirn bleibt zu Hause.

Der mit dem Stigma des Unglaubens hinsichtlich der fundamentalen Überzeugungen der anderen (Fortschritt, Gerechtigkeit, Demokratie, Diversität, Identitätsauslöschung, Gendersprache).

Sähen wir alles verzerrt, wüßten wir es nicht.

Als wäre erlöst, wer sich im Spiegel nicht mehr erkennt.

Der Überdruß ist die Schwelle, die in das Haus der Stille, der Stille der Resignation oder der Entsagung, führt, der Überdruß an den wieder und wieder gesehenen Bildern, den wieder und wieder gehörten Phrasen, den wieder und wieder erregten und enttäuschten Erwartungen.

Schreiend das Licht der Welt erblicken: sehen ohne zu begreifen.

Wenn Herr Jedermann es nachplappert, muß was dran sein, wenn Herr Niemand es bestreitet, muß es existieren.

Wer zur bösen Tat unfähig ist, kann keine gute tun; wer nicht töten kann, kann nicht zeugen.

Die Macht der Vernichtung und also die Erhabenheit des jüdischen Gottes wurde vom sentimentalen Geschwätz von Mannweibern in Talaren verdrängt; die Höllenfeuer Dantes vom warmen Urin kichernder Chorknaben gelöscht.

Alles, was beginnend mit den Gemetzeln der französischen Revolutionsbataillone und den Schlachten Napoleons an infernalischem Feuer und dämonischer Macht die Kabinettskriege der Preußen oder Habsburger übersteigt, entfesselt titanische Riesen und heilige Monster, die blasse Jünglinge im Futteral des Wohlstands und den Eierlikör der Ode an die Freude süffelnde Feuilletonmädchen nicht zu sehen vermögen, wenn sie vom Völkerrecht oder vom Verhandlungsfrieden schwadronieren.

Uns bleibt nur der Geruch der Erde, der uns einst mit Blumendüften zum Lächeln gebracht und nun im Anhauch fauliger Früchte und trüber Pfützen verläßt. – Das Licht aber, das uns zu Tänzen und Liedern gereizt, ist schon im namenlosen Abgrund erloschen.

Ein höherer Geist als der in den großen Dichtungen des Abendlandes, den liturgischen Gesängen und den Werken eines Mozart, Beethoven, Schubert und Bruckner hat sich uns nicht offenbart. – Von der Offenbarung am Jordan blieb uns einer Taube sanftes Geflatter.

Der Gassenhauer des männlichen und der Sirenengesang des weiblichen Geschlechts.

Erotisch Amusische geben vor, beides singen zu können.

Kastraten schwärmen von Orgien, Umnachtete vom Licht der Aufklärung.

Voltaire sah im Alten Testament den Gott der Vernichtung und des Genozids am Werk; Hamann das schöpferische Licht, von dem die farbigen Schatten der Schriftzeichen zeugen.

Wirkt etwas seltsam auf uns, weil es aus dem Strom des Lebens heraussticht wie etwa die Sieben Jungfrauen genannten Felsen bei Oberwesel, die bei Niedrigwasser nackt aus dem Rheinwasser ragen?

Das Gewohnte kümmert uns nicht, wie der Hammer und das Zeug Heideggers, das glatt in der Hand des Alltags liegt.

Sicher, der mit dem karierten Jackett, die mit dem Tattoo am Hals, der mit den Lacklederschuhen will auffallen; aber seltsam wirkt auf uns der Mann im härenen Gewand, der am Rand der belebten Straße sitzt, ein Lamm auf dem Arm hält und sich für einen Propheten ausgibt.

Seltsam ist der Gedanke des Kindes, daß die Großmutter nicht tot sein kann, weil sie ihm im Traum erschienen ist.

Seltsam ist der philosophische Gedanke, daß an etwas Nichtexistierendes wie Pegasus oder die Menge aller Primzahlen zu denken etwas Paradoxes impliziere.

Seltsam ist das Gefühl, durch den Gedanken an sie werde die Person gleichsam berührt, noch seltsamer, im Gedanken an sie habe uns die Person gleichsam berührt.

Das Paar plant, ein Haus zu bauen; sie sprechen bei jeder Gelegenheit über dieses Haus. Das Haus selbst aber ist weder das Thema ihrer Gespräche, Erwartungen und Träume noch was der Architekt an Skizzen und Plänen auf den Tisch breitet; es ist allererst das Haus, das fertiggebaut vor ihnen steht und über dessen Schwelle sie treten.

Gegenüber dem realen Objekt scheint das irreale oder imaginäre Objekt einer Erwartung, einer Absicht, einer Befürchtung oder Hoffnung ein seltsames Ding.

Doch richtig wäre zu sagen, daß nicht das irreale oder imaginäre Objekt seltsam ist, sondern die Annahme, es handele sich dabei um eine mentale Entität, die dem realen Objekt in jeder Hinsicht außer der Existenz ähnelt. – Doch es ist befremdlich zu sagen, ich beabsichtige morgen meinen Freund zu treffen, der dem imaginären Objekt meiner Absicht ähnlichsieht; denn sähe er ihm nur ähnlich, wäre er es nicht.

Die Gegenstände unserer Erinnerung können keine Bilder oder Vorstellungen dessen sein, woran wir uns erinnern; denn ich erinnere mich nicht an das Bild meiner Großmutter, das mir etwa zeigt, wie sie Klavier spielt, sondern an meine Klavier spielende Großmutter. – Was sollte die Vorstellung der Melodie sein, die meine Großmutter auf dem Klavier klimperte?

Wäre der Freund, den ich morgen zu treffen erwarte, mir als imaginäres Bild in meiner Erwartung gegenwärtig, könnte er anders aussehen, als das Erwartungsbild ihn zeigt, und ich ihn verfehlen.

Seltsam ist aber die Erwartung, daß ich morgen meinen Freund an der verabredeten Stelle NICHT antreffen werde, nicht nur wegen seiner bekannten Unzuverlässigkeit. – Doch seltsam nur, wenn wir meinen, das Wort Freund bedeute die Gegenwart dessen, den ich Freund nenne.

Es gibt nichts, was dem Wort Pegasus korrespondiert; aber deshalb wird das Wort Pegasus nicht bedeutungslos. Also ist die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, ob Worte oder Sätze, nichts, was ihnen korrespondiert.

Die Aussage „Es regnet“ verliert angesichts der Tatsache, daß es nicht regnet, nicht ihre Bedeutung, sondern nur den Status einer wahren Aussage, den sie hätte, würde es regnen.

Die wahre Aussage „Es regnet nicht“ kann kein Bild des nicht vorhandenen Regens sein oder enthalten.

Die Bedeutung der Aussage „Die Kerze ist erloschen“ ist nicht der Schatten der Bedeutung der Aussage „Die Kerze brennt.“

Die Verse Hölderlins von den längst erloschenen Opferfeuern der griechischen Tempel sind nicht ihre Schattenbilder.

Die Bedeutung von Aussagen und ihren Negationen ist weder der Glanz ihrer Anwesenheit noch der Schatten ihrer Abwesenheit.

Die Aussage „Die Kerze ist erloschen“ impliziert nicht, daß sie in unserer Vorstellung oder in einem imaginären Bild noch ein wenig geflackert hat.

Wenn ich von mir sage, ich sei gestern im Park gewesen, kann ich nicht ein imaginäres Bild dessen meinen, der nun redet; ich könnte sonst nie herausfinden, ob das eine dem anderen ähnlich sieht oder korrespondiert.

Seltsam ist, daß uns die Gestalten der Vergangenheit, uns selbst eingeschlossen, wie Schatten am Eingang zur Unterwelt erscheinen, denen Odysseus oder Äneas gleichsam vom Blut der Gegenwart zu kosten geben muß, auf daß sie lebendig werden und sprechen.

Der nicht vorhandene Regen kann nicht die Bedeutung der Aussage „Es regnet nicht“ sein, ebensowenig das Schattenbild des Regens, das die Aussage „Ich fürchte, es gibt Regen“ begleitet.

Das Zeichen, das den Fluchtweg anzeigt, verstehen, heißt ihn im Notfalle gehen, nicht das Zeichen interpretieren.

Die Aufforderung, dem Gastgeber die Flasche weiterzureichen, verstehen, heißt, es zu tun, nicht sie zu interpretieren. – Wir greifen auf Interpretationen nur zurück, wenn er uns in einer uns fremden Sprache aufgefordert haben sollte oder uns der Aufforderung verweigern, weil wir etwa seine Autorität als angemaßt betrachten.

Der Bewußtseinsstrom oder unser Vorstellungsleben mag oder mag nicht unser Sprechen begleiten, aber er ist kein Grund für das sprachliche Verständnis.

Was uns seltsam am Reden und Denken anmutet, mag durch genauere Betrachtung des Sprachgebrauchs immerhin aufgeklärt werden können; einer bringt dir trotz seiner ausdrücklichen Zusage das geliehene Buch nicht zurück. Vielleicht verwechselt er, was wir Zusage und Versprechen nennen, mit dem, was wir mit Vermutung und Voraussage meinen; er sah wohl voraus, wie er dir das Buch zurückbrachte, doch leider kam es dann anders.

Die Seltsamkeiten, die mit unserer nackten Existenz auf dieser Erde und der Existenz des Weltalls verbunden sind, können wir sie durch Sprachkritik auflösen?

 

Mrz 4 23

Verhorntes Leben

Die auf verhorntem Fuß sich träge schleppen,
sie grasen in der Angst des Pan.
Und jene dösen im Gestrüpp der Steppen,
nachts sprüht ihr Zeh, rot bleckt der Zahn.

Zu Haken, Dolchen, Messern formt die Krallen
des Lebens dunkler Genius.
Die Katze kratzt, dann streichen weiche Ballen.
In Stacheln stürzt der blinde Kuß.

Wir können Blumen pflücken, Blumen spenden,
uns hindert nicht das taube Horn,
zu tasten mit entblößten Fühlens Händen,
wie Liebe blüht, wie sticht ihr Dorn.

Auf wirbelten graziöse Mädchenzehen
den Blütenschaum in Lesbos’ Chor.
Gepanzert muß die stumme Kröte gehen,
ein Vers, der Schmelz und Charme verlor.

Und manchen wuchs Chitin wie den Termiten
zum kriegerischen Leibe rauh,
sie wissen nur den Stich, doch nicht zu hüten
die Blätter und die Knospe Frau.

Weh dem Pennäler, der beim Nägelkauen
Vokabeln paukt und würgend schlingt,
mag einmal seine spröde Lippe tauen,
wenn Sappho ihm die Rose bringt.

Die Schönen aber lächeln und bemalen
die Nägel sich mit Purpur hell,
die Finger tunkend in Duftwasserschalen
träumt ihnen von geflecktem Fell.

In langen Nächten wachsen sie den Toten,
als fänd der Dämon keine Ruh.
O daß sie ihnen schnitten Friedensboten,
zu wandeln dort im Seidenschuh.

 

Mrz 3 23

Die Tränen Davids

Wem erscholl in Jericho das Horn?
Ach, dem Gott der Väter, der die beiden
Helden Moses trieb und Josua im Zorn,
doch sah Moses nur von fern die Weiden.

Wer schwieg still Roms Macht zum Hohn?
Nägel waren drei, die ihn erhöhten,
und aus Wunden sprach das Wort, der Sohn,
lieblich bluteten die Abendröten.

Tränkten Tränen Davids nicht den Psalm?
Die vom Lamme sangen, die Propheten,
wie der Wolf ihm gönnt den zarten Halm,
ihnen wehte Luft von anderem Planeten.

Doch uns Epigonen sind versiegt
jene Wasser, die dem Sand entquollen,
und der Schwan, den sie im Schlaf gewiegt,
ist im Schilf der Dunkelheit verschollen.

 

Mrz 2 23

Der braune Gott

Eine Erinnerung an T. S. Eliot

Der Herbst hat, ins raschelnde Kleid einer Pappel gehüllt,
umschmiegt von einer Birke schneeiger Lende,
den Heimatlosen, die es nicht sehen,
aufgespart ein südliches Licht.

Am Strom zwischen Schilf und Geröll
schürte die Alte im fleckigen Mantel eines Soldaten
Glut mit dem krummen eisernen Haken,
Funken flogen empor auf die blauen Fransen der Dämmerung,
und sie schüttelte wie schwärmerische Johanniskäfer sie ab,
es ächzten die moosfeuchten Scheite,
es seufzte das Weib, da sie sprühend zerbarsten.

Aber der Strom, der einsame Spiegel des Alls,
wälzte wie Schlamm die Sage des Ursprungs
der Mündung entgegen, auf daß sie mondgepeitschtes Rauschen ersticke.
Das Wahnbild der Wolken verwischte der Schaum seiner Qual,
Schutt und Bruch gebranntschatzten Lebens,
Mark und Gedärme ausgeweideten Wilds,
Reliquiensplitter, Wiegen und Puppen,
Betten und Särge, Bilder und Vasen,
riß er, der ewige Skamander, in den ewigen Untergang.

Warst du es, banger Knabe,
der scheu sich ans Feuer gehockt, um wachsam zu lauschen,
wie die Alte mit rissiger Lippe zu singen verstand?
War es nicht Zwitschern eher als Singen,
ihr Keuchen nicht wirres Flattern von Flügeln,
die sich erschrocken schwankenden Nestern entrangen,
ihr gespenstisches Gurren nicht Liedes dunkler Refrain,
das tödlich getroffen zur Erde getaumelt?

O greisenhafter Knabe, bist du es noch,
da alles einst Erschaute begrub unter sich
der Schnee des langen Winters, der danach kam und blieb,
den kein Hauch, keine Sonne zu schmelzen vermochte,
es nachzulallen, gedenkst du, Heimatloser,
am einsamen Fenster starrend in sternlose Nacht,
des fernen Stroms, des braunen Gotts,
wie der Dichter ihn nannte?

 



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