Aus: Neuvains du sommeil et de la sagesse
Un rêve cette nuit a pris ma main, a fait
sous mes yeux affaiblis croître une plante, et je voyais
l’arbre du temps poussé sur la terre féconde
avec à la naissance de chacune de ses branches
une cicatrice mortelle, dont pourtant il n’avait pas péri,
nourri comme il l’était de ses blessures.
Un vieillard près de lui me ressemblait, qui semblait
l’avoir vu grandir et me disait : de tout cela,
si tu souhaites cueillir les fruits, tu dois répondre.
Ein Traum nahm letzte Nacht mich bei der Hand,
ließ unter meinen trüben Augen eine Pflanze grünen, ich sah
den Baum der Zeit aus reichem Humus steigen,
und auf jedem neugeborenen Zweige saß
eine giftige Zikade, doch ging er daran nicht zugrunde,
sein Dasein ward genährt aus seinen Wunden.
Ein Greis stand nahebei, sah aus wie ich, hat wie ich
ihn wachsen sehen, und er sprach: Für alles dieses
mußt du stehen ein, willst du die Früchte ernten.
Sonett auf die Ignoranz
Vor lauen Seufzern, die wie Schäume platzen,
vorm Schluchzen dekolletierter Dichterinnen,
laßt fliehen uns wie vor Erinnyen,
und mögen girren sie gleich heißen Katzen.
Vorm Schrott, vergoldet von den Postmodernen,
den feilen Wunden, die von Kunstblut fließen,
laßt ungerührt die Augen uns verschließen,
vom faulen Zauber das Gemüt entkernen.
Uns hat Apoll ermächtigt, wegzuschauen
vom Elend, Knochen, obszön aufgeschichtet,
den Musenhaß moralisch zu erbauen.
Ah, Ignoranz, du zarter Anmut Hülle,
worin sie ungestört die Knospe dichtet,
auf daß ihr Duft den Auserwählten quille.
Der Verse zarte Nester
Wie blasse Knospen, die auf Wellen schwanken
hinab in blütenlose Wüsteneien,
wie Efeu, dunkler Male matte Ranken,
die schauernd Flocken süßen Lichtes schneien,
wie deine Blicke, jählings überfeuchtet,
nur einem dunklen Glanz mich überlassen,
dem Monde gleich, der über Schilfen leuchtet,
um unter Nebelschleiern zu verblassen,
sind Verse, Dämmerlaubes zarte Nester,
aus denen leises Zwitschern dir ertönt,
wiegst sachte du sie nur, die Zweige, Schwester,
doch schüttelst du sie, siehst empor du steigen
die Sänger, Träne hat dich schon versöhnt,
und fern sie tauchen in das blaue Schweigen.
Maurice Carême, L’artiste
Il voulut peindre une rivière ;
Elle coula hors du tableau.
Il peignit une pie grièche ;
Elle s’envola aussitôt.
Il dessina une dorade ;
D’un bond, elle brisa le cadre.
Il peignit ensuite une étoile ;
Elle mit le feu à la toile.
Alors, il peignit une porte
Au milieu même du tableau.
Elle s’ouvrit sur d’autres portes,
Et il entra dans le château.
Der Künstler
Den Flußlauf war zu malen er gewillt,
schon ist er übern Bildrand weggeflossen.
Dann eine Elster, das Gefieder schwillt,
durchs offne Fenster ist sie flugs geschossen.
Die Brasse, feinen Striches aufgetragen,
ein Sprung, der Rahmen war zerschlagen.
Drauf malte einen Stern er noch.
Der brannte in die Leinwand ihm ein Loch.
So malte endlich er ein Tor
gerade in des Bildes Mitte.
Es tat sich auf, daß Tor nach Tor
ins hohe Schloß empor er schritte.
Verschüttete Verse
„In düstere Gewölbe, in Verliese,
stieß man das Wort, da es nicht mitgejohlt.
Dort träumt ihm manchmal, wie es Atem holt,
wenn Mondeshauch nur durch die Ritzen bliese.“
„Sieh doch, des Dichters Haus umgrünt ein Garten,
der in die Loggia Wogen Duftes spült.
Dort hat sich Schwermut oft ans Licht gewühlt,
den Keimen gleich, der Fracht von Sonnenfahrten.
Die Zimmer ohne Prunk, wie Zeilen schlicht,
den blauen Dämmer öffnet mildes Blitzen
von Porzellanen, blütenüberflossen.“
„Du hast geträumt. Den Garten fand ich nicht,
nur Dorngestrüpp, der Anmut Haut zu ritzen,
und Schutt, wo Habichtskraut und Steinbrech sprossen.“
Später Gang am Rhein
Verklungen ist des Sommers goldner Ton.
Weißt du sie noch, die schönen Blumennamen,
die du genannt, als wir ins Rheintal kamen?
Nun sinkt die Akelei, verbleicht der Mohn.
Der Rebenhügel leuchtend grüner Samt,
wo sich der Burgfried in die Bläue reckte,
wie unter Gaze liegt er, blutbefleckte,
vom Schwermuthauch des Herbstes überflammt.
Laß, Liebe, uns den Pfad am Ufer gehen,
vom Wasser überrauschen unser Grauen,
wenn uns das Wort, der letzte Halt, gebricht,
bis zarte Strahlen uns die Brücke bauen,
wir in des anderen Aug uns dunkel sehen
und Träne hell zur Schwesterträne spricht.
Das Bröckeln der Zeitenmauern
Geschwollenen Wortes, Modernisten,
vom Blitz des Spiegelbilds gekitzelt,
jäh platzen auf sie wie Bovisten,
hat ihr Verstand sich krank gewitzelt.
Wir aber fühlen Efeu schauern,
sie bröckeln schon, die Zeitenmauern.
Uns schwindelt, wie im Traum zu kreisen
um eines stummen Abgrunds Mitte.
Wie töricht, einen Weg zu weisen,
wo uns der Fuß ins Leere glitte.
Wir sehen, kaum geweckt, zu blühen,
den Stern im Ozean verglühen.
Was immer unser Aug geblendet,
als stünden wir auf höchster Schwelle,
das Bild der Welt bleibt unvollendet,
stets löscht es aus die Urzeitwelle.
Wir sind wie Inseln von Korallen,
die unterm Schaum des Monds zerfallen.
Und sehen fern wir Gipfel ragen,
mag ihre schimmernd-weiße Krone,
der unberührte Schnee uns sagen,
wie eng das Wort im Talgrund wohne.
Doch kommt ein Sturm, die Zeiger springen,
fliegt auf das Wort, vom Meer zu singen.
Aus dem Dunkel pflücken
Wie finde ich das richtige Wort? Wie wähle ich unter den Worten? Es ist wohl manchmal, als vergliche ich sie nach feinen Unterschieden des Aromas.
Ludwig Wittgenstein
De la musique avant toute chose,
Et pour cela préfère l’Impair
Plus vague et plus soluble dans l’air,
Sans rien en lui qui pèse ou qui pose.
Paul Verlaine
Nur reine Klänge dir erlose,
und jeden kröne andrer Duft,
ein Rätsel leicht gelöst in Luft,
und nichts daran sei Prunk, sei Pose.
Ein Fächer, schimmern Augen durch die Spalten,
enthüllt uns mehr als schamlos nacktes Grinsen.
Der Vers verkohlt im Brennpunkt scharfer Linsen,
er blüht, ins kühle Licht des Monds gehalten.
Und die nach Kampfer, fetten Salben riechen,
gewickelt um die Ego-Wunde, Zeilen,
die uns der Schwermut zarten Riß nicht heilen,
verschmähen wir, um heiter hinzusiechen.
Die aus des Südens Hain zu wehen scheinen,
hat Sehnsucht aufgetan der Sommernacht
die Fenster, sind es, Düfte, die wir meinen.
Die Namen, die wir aus dem Dunkel pflücken,
sind süßer als der herbe Tag gedacht.
Wir winden sie, der Liebe Bild zu schmücken.
Die schroffen Hügel
Am Abend sind den Leinpfad wir gegangen
und haben müßig vor uns hin geplaudert.
Da hieltst du inne, auch ich hab gezaudert,
als Nachtigallen in den Zweigen sangen.
So schwiegen wir, hinwandelnd wie im Frieden.
Und jählings barg sich deine Hand in meine.
Mir war, als ob das graue Wasser weine,
weil Welle stets von Welle bleibt geschieden.
Kann, Dichter, nicht dein Wort herüberschneien,
dem Abgrund leihen des Gesanges Flügel,
daß wir nicht stürzen, wenn den Sprung wir wagen?
Nah scheinen sie, fern sind die schroffen Hügel,
vergebens ist das Seufzen, ist das Schreien.
Kann wohl ein sanfter Sang die Seele tragen?
Das Lied des Vagabunden
Er kam des Abends, als ob sie seiner harre,
des grünen Filzhuts Krempe hochgezogen,
o der Fasanenfeder goldnes Wogen,
an kühner Schulter baumelnd die Gitarre.
Vor ihrem Fenster blieb er lange stehen
und sah empor, ob wohl das Auge leuchte,
auf daß sein Lied die Bläue ihm befeuchte
und seinem Hauch die schwarzen Locken wehen.
Und wie im Traum sind Hände weich geglitten,
die Stimme stieg, ein Mond aus dunklen Fluten,
von trunknen Ebenbildes Schmelz entzückt.
Ihr aber strömte mild, was sie gelitten,
als würde ihre Nacht von Rosen bluten,
mit denen er den Schmerzenskelch bestückt.
Die alte Magd aus dem Eifeldorf
Die alte Magd saß auf der morschen Bank,
da über ihr die Blätter rötlich glommen.
Sie sah die späten Rosen nur verschwommen,
doch sprach das feuchte Auge noch von Dank.
Der sie geschwängert hatte, war längst tot,
der Herr, dem sie die Scheite angezündet,
als neues Leben schon den Leib geründet,
und ließ ihr nur ein karges Gnadenbrot.
War er auch fern, der Junge war am Leben.
In ihre Winter kam er stets von Süden
mit Seidentüchern, schmeichelnden Geweben,
mit Früchten, wie aus transparentem Stoffe,
doch las in ihrem Lächeln nie, dem müden,
daß sie auf eine andre Frucht noch hoffe.
Den Atem stauen
Die stumme Haut fühlt nur: Die Sonne scheint,
und fallen Flocken, schließt sie ihre Poren.
Der Hauch des Munds geht schon im Dunst verloren,
der dunkle Quell weiß nicht, warum er weint.
Kannst sagen du nur, was schon oft gesagt,
wieso den Atem nicht im Innern stauen,
bis die Kristalle des Gedankens tauen,
und fragst nicht, ob es dunkelt, ob es tagt.
Wie Kinder, die vom Stiel die Blüten pflücken
und lassen sie auf weichen Wellen reisen,
nicht wissen, ob sie in der Nacht noch schimmern,
mag, Dichter, dich das Spiel zuletzt beglücken,
wenn auf der Gläser Mund die Finger kreisen,
ob nun die Töne jauchzen oder wimmern.
Umrauscht vom Namenlosen
Der seelenvolle Ausdruck in der Musik, – er ist doch nicht nach Regeln zu erkennen. Und warum können wir uns nicht vorstellen, daß er’s für andere Wesen wäre?
Wenn dir plötzlich ein Thema, eine Wendung etwas sagt, so brauchst du dir’s nicht erklären zu können. Es ist dir plötzlich auch diese Geste zugänglich.
Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 157, 158)
Als schliefen Brunnennymphen unterm Schnee,
was wild geäugt, ward blind, die Wollust Milde.
Der Mond steht über dem entrückten Bilde,
verschleiert wie ein Vers von Mallarmé.
Als hörtest durch des Dämmers Laub du Schwäne
auf weichem Wasser sanft im Schlafe gleiten,
kann nie vernommener Klang dein Fühlen weiten,
matt schimmernd wie im Liede von Verlaine.
Es seufzten Scheite auf im müden Herde,
und wärmer schien, was von den Lippen drang.
Wie überströmte jäh dich die Gebärde,
da sie hinabgeneigt zum Hauch der Rosen
die Augen schloß und leise Verse sang.
O Insel Wort, umrauscht vom Namenlosen.
Verzierte Initialen
Wir müssen, was wir sind, geschehen lassen.
Das Licht ist aus der Nacht zur Nacht gewandert,
das Lied vom Quell zum Ozean mäandert.
Es ist kein Wort, den hohen Sinn zu fassen.
Glänzt hell der Schnee, er muß ermattend fließen,
die Knospe öffnet sich, Duft zu verschwenden.
Bevor das Tagewerk wir noch vollenden,
wird unsre Lider Dämmerung verschließen.
Verziere, Dichter, ihre Initialen
mit einem Flor aus lichten Wasserfarben,
daß Liebe unsern Brief mit Blicken küsse.
Doch jenen, die in stummen Nächten darben,
mag dein Gedicht wie voller Mond erstrahlen,
als hörten meerwärts rauschen sie die Flüsse.
Blutzeugen und Gaukler
Franziskus sah den Herrn und trug die Male.
Für deren Leidensnacht Brentano schrieb,
sie war’s, die ihm das süße Lied zerrieb,
daß es verseufzte unterm kahlen Pfahle.
Und dem Poète maudit sublimer Wonnen,
der seinen Vers mit Lotustau getränkt,
hat Eros einen Dorn ins Fleisch gesenkt,
was ihm noch strahlte, waren schwarze Sonnen.
Doch jene, die auf offner Bühne gaukeln,
kein Blut tropft aus dem Wort, das sie zerschlitzt,
Verstoßne mimend, vom Applaus umgluckt,
sie haben nie in Gottes Griff geschwitzt.
Kunst dünkt sie, auf der Zeitgeistwelle schaukeln,
die sie ins Flutlicht hebt und rasch verschluckt.
Die geöffnete Gartenpforte
Denk nicht, sondern schau!
Ludwig Wittgenstein
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
und grün des Lebens goldner Baum.
Johann Wolfgang von Goethe
Du fühlst es, ist von Dingen, ungeschauten,
die Rede: Staub steigt auf und Phrase flockt,
fühlst, wie Gesang ins Blaue, Offne lockt,
wo Perlen leuchtend aus dem Nebel tauten.
Die graue Norne sagt dir leiernd immer:
Du Klümpchen Kehricht an des Schicksals Rad!
Doch lächelnd führt dich einen Seitenpfad
die Muse mit dem grünen Augenschimmer.
Stopf, Dichter, keine sonnenblinden Worte
in kargen Fühlens unbeseelte Lücken.
Schließ sie uns auf, die morsche Gartenpforte,
daß wir, was du gesät hast, blühen sehen.
Denn nur der Augenblick kann uns entzücken,
die Glut der Rosen und der Schnee der Schlehen.
Der Kreisel Liebe
Wie würgt uns um den Hals manchmal ein Strick,
woran der zerrt, den wir zu lieben meinen.
Doch läßt er los, wie müssen dann wir weinen,
der Dunst hat schon verschluckt den hellen Blick.
Ein Kreisel, blechern, grell bemalt, gedreht
mit heißer Schnur, und wirbelnd kann er singen –
ist unsrer Liebe wirres, blindes Schwingen,
bis jäh der Schwung erlahmt, der Klang zergeht.
Flicht, Dichter deine Verse nicht zur Kette,
ins Zwielicht wüster Bilder uns zu ziehen.
Träuf keine bittern Tränen in die Wunden.
Laß dem Geschrei des Tages uns entfliehen
auf weicher Reime stillem Blumenbette,
als könnten wir am milden Duft gesunden.
Der wandernde Vers
Diese musikalische Phrase ist für mich eine Gebärde. Sie schleicht sich in mein Leben ein. Ich mache sie mir zu eigen.
Aber man nennt doch etwas „abgedroschen“. – Und man sagt „Diese Melodie ist immer neu“ … Wie soll ich’s sagen? Das ist sicher: eine steife, eine puppenhafte Gebärde ist für uns keine Gebärde.
Ludwig Wittgenstein
Das trockne Rascheln wird uns schon Gebärde,
fährt Herbstwind durch das hingesunkene Laub,
es ist wie Abschied von der dunklen Erde,
als schmeckten wir beim Worte Abend Staub.
Und rinnt der Regen, da wir einsam liegen,
glänzt uns im müden Rauschen auf wie Schaum
die Melodie, der weichen Woge Wiegen,
und trägt uns heim zum grünen Ufersaum.
Die ausgefransten Rüschen, Dichter, schneide
mit einer Schere ab, die schwirrt und blinkt,
den Vers verhüll im schlichten Pilgerkleide.
Mag wandern er hinan zur Waldkapelle,
wo er den Glanz des Gnadenbildes trinkt,
wie Rose Licht und Tau die Immortelle.
Gérard de Nerval, Artémis
La Treizième revient … C’est encore la première;
Et c’est toujours la seule,—ou c’est le seul moment:
Car es-tu reine, o toi! la première ou dernière?
Es-tu roi, toi le seul ou le dernier amant?
Aimez qui vous aima du berceau dans la bière;
Celle que j’aimai seul m’aime encore tendrement:
C’est la mort—ou la morte … O délice! o tourment!
La rose qu’elle tient, c’est la Rose trémière.
Sainte napolitaine aux mains pleines de feux,
Rose au coeur violet, fleur de sainte Gudule:
As-tu trouvé ta croix dans le désert des cieux?
Roses blanches, tombez! vous insultez nos dieux:
Tombez fantômes blanches de votre ciel qui brûle:
—La sainte de l’abîme est plus sainte à mes yeux.
Artemis
Wieder Karte Dreizehn … die allen vorangesetzte.
Die einzige immer – oder der Augenblick, der zählt:
Bist Königin du also, die erste und die letzte?
Und König du, der einzig, der zuletzt von Liebe erwählt?
So liebe, die dich liebt, von der Wiege bis zur Bahre.
Die ich geliebt, sie liebt mich, hüllt mich zärtlich ein.
Sie, der Tod – die Tote sie … O Wonne, Folterpein!
Die Rose, die sie hält, die Rose ist’s, die wahre.
Die Heilige aus Neapel, der Lichter sich entzünden,
Rose am Veilchenherzen, der heiligen Gudula Flor:
Hast dein Kreuz du gefunden in Himmels wüsten Gründen?
Weiße Rosen, fallt, ihr könnt zur Andacht nicht taugen,
weiße Phantome, fallt aus brennenden Himmels Tor:
Die Heilige des Abgrunds, heiliger ist sie in meinen Augen.
Anmerkungen zum besseren Verständnis:
Die Dreizehnte („La Treizième“, Zeile 1) meint die dreizehnte Karte im Tarot: den schwarzen Reiter Tod, der als Emblem die weiße Rose im Wappen trägt. – Artemis ist die herbe Göttin des Waldes und des Abgrunds, verkörpert im Mond. Daher ist auch sie im Symbol der dreizehnten Tarotkarte, im Tode, enthalten. Sie wird als Königin („reine“, Zeile 3) angerufen, entsprechend jener, der sie liebt („amant“, Zeile 4) und lieben soll („aimez“, Zeile 5) als König („roi“, Zeile 4) bezeichnet. Attribute der ihr geweihten Hingabe und Liebe sind „die erste“, „die letzte“, „immer“, „einzig“ (Zeilen 1–3), aber auch die Vergänglichkeit kennzeichnet ihren Bereich, die vergehende Zeit, verkörpert in der antiken Allegorie der Jahreszeiten und Stunden (horae) sowie im Blühen und Verblühen des natürlichen Daseins. Wir greifen in diesem Gedicht nach den wesentlichen Momenten der mythisch-zyklischen Zeit, die hier mit den Perioden der Liebe und ihrer unmöglichen Erfüllung im Tod gleichgesetzt wird. Es geschieht immer dasselbe, aber angesichts der einzigartigen Gottheit, es ist wie eh und je, und doch zählt der eine außerordentliche Augenblick, der Kairos der Liebe („Et c’est toujours la seule,—ou c’est le seul moment“, Zeile 2). Die dreizehnte ist auchdie dreizehnte auch die erste Stunde einer neu anbrechenden Periode des Blühens oder Welkens. Die Zeit der Artemis ist nicht die uns vertraute des Sonnenjahres, sondern des Mondjahres (wie sie noch bei dem alten Volk der Juden im Festkalender gilt, sie haben sie wohl von den Sumerern oder Babyloniern übernommen). Der Mondmonat umfaßt 28 Tage und spiegelt so auch den weiblichen Fruchtbarkeitszyklus. Im dreizehnten Mondumlauf erfolgt der kürzeste Sonnentag, mythisch der Tod der Sonne, im folgenden steigt die Kurve des Lebens wieder an (daher die abergläubische Angst vor der Zahl Dreizehn und das Symbol des Todes auf der dreizehnten Tarot-Karte). – Die Aufforderung, sie zu lieben („aimez“, Zeile 5), ist keine Kleinigkeit, denn Artemis zeigt das Doppelgesicht von Zartsinn und Grausamkeit, Fruchtbarkeit und Zerstörung, ähnlich der Hindu-Göttin Kali, eine Ambivalenz, die das Christentum aus dem Bild der Heiligen Jungfrau, einer Transfiguration der Magna Mater oder Artemis, getilgt hat; ja sie erscheint unmittelbar als der Tod und die tote Geliebte („mort“ – „morte“, Zeile 7), sie beglückt und foltert zugleich („délice“ – „tourment“, Zeile 7), und es bleibt offen, ob im Tod sich ein Übergang zu anderem Leben, eine Auferstehung, vollzieht, wie es den Kern christlicher Hoffnung darstellt. – Die Rose in der Hand der Göttin, der Mutter und Geliebten („La rose qu’elle tient“, Zeile 8) ist eine andere wahre Rose („la Rose trémière“, Zeile 8, eigentlich Stock- oder Malvenrose als Symbol der Fruchtbarkeit), nicht die christliche, wie jene der Heiligen Gudula („fleur de sainte Gudule“, Zeile 10; das Haupt der Heiligen wird heute als Reliquie, einst der Heiligen Hildegard von Bingen zugeeignet, in der Eibinger Kirche im Rheingau verehrt). Die christliche weiße Rose liegt allerdings (dichterische Ironie) nah beim Herzen, das an ein Veilchen gemahnt („Rose au coeur violet“, Zeile 10), dem Attribut der heidnischen Aphrodite, wie es öfter in der Dichtung Sapphos beschworen wird. Die neapolitanische Heilige („Sainte napolitaine“, Zeile 9) könnte die Heilige Rosalie sein, der als Symbol der Keuschheit ein Kranz von weißen Rosen zugesprochen wird (ihr Kult wird allerdings in Palermo gefeiert); die Legende erzählt, eine Kerze oder Laterne, die sie des Nachts in Händen trug, sei immer wieder erloschen oder von einem dämonischen Wind ausgeblasen worden, aber ein Engel habe es ihr immer wieder angezündet („aux mains pleines de feux“, Zeile 9). Der Dichter verknüpft die beiden christlichen Heiligen, die des Nordens, Gudula, und die des Südens, Rosalie, durch das Symbol des transzendenten Lichts (der Kerze und des hellen Scheins der weißen Rose). Diese christlichen Heiligen kontrastieren mit der mythischen Göttin Artemis. Die Heilige mit dem Symbol der weißen Rosen konnte das Kreuz (das Heil) nicht in einem Himmel finden, den der Dichter einmal als Wüste, einmal als brennend (und das heißt bald verkohlt) apostrophiert („As-tu trouvé ta croix dans le désert des cieux?“, Zeile 11, eine das Sarkastische streifende Frage, sowie „ciel qui brûle“, Zeile 13). Die weißen Rosen sollen aus der Höhe fallen („Roses blanches, tombez!“, Zeile 12), sie taugen nicht zur neuheidnischen Andacht der mythischen Götter, sie würden sie beleidigen („vous insultez nos dieux“, Zeile 12). Hier spricht der Dichter in geradezu hochpriesterlicher Anmaßung von „unseren Göttern“ („nos dieux“, Zeile 12) im Gegensatz zu „eurem Himmel“ („votre ciel „, Zeile 13). Goethe läßt im Faust II nach dem Tode des reumütig gewordenen Faust Rosen auf die Bühne fallen, zum Zeichen seiner Erlösung. Gérard de Nerval, der Faust I übersetzt hat, sieht man von dieser Hoffnung weit entfernt. In seinen Augen verdunkelt die Göttin des Abgrunds den Stern der Erlösung oder rückt ihn ins lunare Zwielicht. Die weißen Rosen christlicher Keuschheit und Demut sind schon zu weißen Phantomen geworden („fantômes blanches“, Zeile 13), die gleich den zu Gespenstern verkommenen frommen Idealen bisweilen hämische Religionskritik vom Himmel stürzen läßt („Tombez fantômes blanches de votre ciel“, Zeile 13). Wir befinden uns im kulturgeschichtlichen Dunstkreis Bachofens und Nietzsches, Baudelaires und Wagners. Der Dichter sieht den Himmel zwar leer, möchte aber – wir dürfen sagen, vergebens – die Erde als fruchtbaren Schoß beschwören, die alten heidnischen Götter wieder zu gebären. Indes: Wo sind die neuen Altäre der Artemis, in welch einem staatlich eingehegten Wirtschaftsforst? Wo werden neue Dionysos- und Najadenkulte gefeiert, in welchen Palästen und Grotten aus Glas und Beton? Wir sind beim Sonnenjahr geblieben, das scheint die weltumspannende technische Kommunikation zu gebieten, jedenfalls, soweit wir es uns bieten lassen. Andererseits konnte kein Mondesschatten die Schönheit der weißen Rosen, wenn sie denn noch von dem Zeitgeist nicht hörigen Dichtern benannt wird, nicht gänzlich verblassen machen. – Symbolismus in der Dichtung kann das Herz bezaubern und den Geist beschwingen, doch die mit ihm verbundene mythologische Kehre („La sainte de l’abîme est plus sainte à mes yeux“, Zeile 14) scheint gescheitert zu sein. Denken wir hier an die mythopoetische Gestalt Hölderlins. Was aber in Wahrheit geschieht, wissen wir nicht. Wenn es nach dem überlieferten Wort genügt, daß drei sich in Jesu Namen zusammenfinden, um vom Dasein der Kirche sprechen zu können, warum sich über die seelische Entartung eines zügellosen Atheismus und Nihilismus echauffieren? Ein depressiver Poète maudit sieht den Himmel entleert, ein neurasthenischer Philosoph flieht aus der pietistischen Enge heuchlerischer Moralbeckmesserei und sehnt sich nach den Schauern bacchischer Ekstase – was soll dadurch bewiesen, was widerlegt werden? – Der Aufstand des Mythos wider den Logos, den in Frankreich Dichter wie Gérard de Nerval, Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé fochten, findet im deutschen Sprachraum ein Analogon bei Dichtern wie Rainer Maria Rilke, der auch auf Französisch dichtete, oder Stefan George, der schon aufgrund seiner kongenialen Übertragungen profund aus französischen Quellen zu schöpfen vermochte. Wie nahe oder fremd aber sind uns heute Sprache und Gedankenwelt der „Duineser Elegien“ oder des „Neuen Reiches“? Ist das mythische Bewußtsein, das sich seit der Romantik und Hölderlin bis zum europäischen Symbolismus zu erneuern schien, sieht man auf die Banalität und den Stumpfsinn der Gegenwart, völlig erloschen? Ist der Logos zu einer maßlosen technischen Welterfahrung verkümmert, wie sie uns aus dem Lärm der Städte und dem geistlosen Flimmern digitaler Bilder entgegentritt? Doch das ist ein allzu weites, von den Nebeln des Zeitgeists verhangenes Feld.
Zur Vertiefung:
https://www.enotes.com/topics/gerard-de-nerval/criticism/nerval-gerard-de/criticism/john-w-kneller-essay-date-1986
Gérard de Nerval, El Desdichado
Je suis le Ténébreux, – le Veuf, – l’Inconsolé,
Le prince d’Aquitaine à la tour abolie :
Ma seule étoile est morte, – et mon luth constellé
Porte le Soleil noir de la Mélancolie.
Dans la nuit du tombeau, toi qui m’as consolé,
Rends-moi le Pausilippe et la mer d’Italie,
La fleur qui plaisait tant à mon cœur désolé,
Et la treille où le pampre à la rose s’allie.
Suis-je Amour ou Phébus ?… Lusignan ou Biron ?
Mon front est rouge encor du baiser de la reine ;
J’ai rêvé dans la grotte où nage la syrène…
Et j’ai deux fois vainqueur traversé l’Achéron :
Modulant tour à tour sur la lyre d’Orphée
Les soupirs de la sainte et les cris de la fée.
El Desdichado
Ich bin der Dunkle, der Witwer, den kein Trost erbaute,
der Prinz von Aquitanien im Turm, der brach ins Knie:
Mein einziger Stern erlosch, am Himmel meiner Laute
erstrahlt nur sie, die schwarze Sonne Melancholie.
In die Nacht des Grabs, du, deren Glanz ich schaute,
reich Posillipo mir, die Bucht von Napoli,
die Blüte, die mein Herz erhellt, das schon ergraute,
das Gitter, wo mit Rosen Wein rankt Harmonie.
Bin Amor ich, Apollon? … Lusignan, Biron?
Vom Kuß der Königin ist heiß noch meine Vene.
Ich träumte in der Grotte, wo sie schwimmt, Sirene …
Siegreich durchquerte zweimal ich den Acheron:
Ich ließ im trunknen Wechsel über Orpheus Saiten
der Heiligen Seufzer, Schreie einer Fee hingleiten.
Durch diese tiefe Nacht
Ich bin durch diese tiefe Nacht gegangen,
den andern, die gelächelt, schien sie licht.
Mich streiften, die im Gehen sangen,
ich sah sie an, doch sahen sie mich nicht.
Und manchmal schien sich in die Hand zu schmiegen
mir eine kleine Hand, wie in ein Nest
ein junger Vogel, der noch lernt zu fliegen.
Bald ließ sie los. Hab ich zu heiß gepreßt?
Ich dachte an den Stern, von dem man sagt,
er wär Nomaden in der Nacht erschienen,
den nahen Quell der Gnade zu verkünden.
Mir konnte selbst nicht zum Geleite dienen
das Herz – ein Span, der in die Nacht geragt,
und keine Flamme war, ihn anzuzünden.
Die getrübte Flut
Wenn ich ein Gedicht … mit Empfindung lese, so geht doch etwas in mir vor, was nicht vorgeht, wenn ich die Zeilen nur der Information wegen überfliege.
Ludwig Wittgenstein
Wie Diebe, die nur auf den Wert erpicht,
sie schmelzen die Geschmeide ein zu Brocken,
die Wohlgestalt kann ihren Blick nicht locken,
vergebens funkelt es, das goldne Licht –
die Krähe hat die Federn wüst gerupft,
die einer Taube zarten Leib umgaben,
um ihren Schnabel in das Fleisch zu graben,
der Flaum, wie er dahinsinkt, rot getupft –
so knacken sie wie Muscheln auf die Schalen,
die silbern dem Gedicht das Herz umhüllen,
und hastig schlürfen sie das helle Blut.
Es kann der leise Ton den Durst nicht stillen
den Rohen, die mit schrillen Phrasen prahlen –
wie trüben sie des klaren Sanges Flut.
Emile Verhaeren, Au bord du quai
Et qu’importe d’où sont venus ceux qui s’en vont,
S’ils entendent toujours un cri profond
Au carrefour des doutes !
Mon corps est lourd, mon corps est las,
Je veux rester, je ne peux pas ;
L’âpre univers est un tissu de routes
Tramé de vent et de lumière ;
Mieux vaut partir, sans aboutir,
Que de s’asseoir, même vainqueur, le soir,
Devant son oeuvre coutumière,
Avec, en son coeur morne, une vie
Qui cesse de bondir au-delà de la vie.
Am Rand des Bahnsteigs
Woher auch immer, die enteilen, sind gekommen,
daß nur den tiefen Schrei sie noch vernommen,
wo sich am Scheideweg die Zweifel regen!
Mein Leib so schwer, mein Leib versehrt,
zu ruhen, es ist mir verwehrt.
Das kalte All ist ein Gespinst von Wegen,
gewebt von Winden und von Strahlen.
Besser zu verschwinden, ohne je das Ziel zu finden,
als am Abend hier, selbst unbesiegt, zu weilen
vor seinem Werk, dem alltagsfahlen,
und im düstern Herzen nur ein Leben,
zu müde für den Sprung aus diesem Leben.
Gérard de Nerval, Vers dorés
Homme ! libre penseur – te crois-tu seul pensant
Dans ce monde où la vie éclate en toute chose :
Des forces que tu tiens ta liberté dispose,
Mais de tous tes conseils l’univers est absent.
Respecte dans la bête un esprit agissant :
Chaque fleur est une âme à la Nature éclose ;
Un mystère d’amour dans le métal repose :
“Tout est sensible !” – Et tout sur ton être est puissant !
Crains dans le mur aveugle un regard qui t’épie
A la matière même un verbe est attaché …
Ne la fais pas servir à quelque usage impie !
Souvent dans l’être obscur habite un Dieu caché ;
Et comme un oeil naissant couvert par ses paupières,
Un pur esprit s’accroît sous l’écorce des pierres !
Goldene Verse
Gereckten Haupts vergötzest, Mensch, du den Verstand,
in einer Welt, wo Leben bricht aus jeder Ritze.
Es beugen Mächte sich vor deinem Herrschersitze,
doch ist vorm Meer des Alls dein Sinnen nur wie Sand.
Gewahr, wie sich im Tiere regt ein hoher Geist,
es lodern Seelen in erhabenen Königskerzen,
ein Sehnen pocht geheimnisvoll im Glanz von Erzen:
„Die Erde fühlt.“ – Wie alles dich ins Offne reißt!
In blinder Mauer fürchte Blicke, die dich suchen.
Es ist im toten Stoff das Wort schon inkarniert …
Mißbrauch es ruchlos nicht in Werken, die dir fluchen.
Oft birgt den scheuen Gott ein düstres Traum-Geviert.
Wie sich die Augen unterm Schlaf der Wimpern ründen,
erwächst wie Schaumkraut heller Geist aus Grabesgründen.
Der scharfe Schaum der Bilder
Aspektblindheit wird verwandt sein mit dem Mangel des musikalischen Gehörs.
Ludwig Wittgenstein (MS 144)
Wir können stumme Gesten wohl verstehen,
die Haut der Stirne lesen, wie sie spannt,
die kaum bewußte Fahrigkeit der Hand,
die wie im Traume winkt, doch mitzugehen.
Wie hören Klänge in die Nacht entweichen,
und wissen, was es heißt, daß er nicht hält,
der abgerissene Faden mit der Welt,
der Gram, wenn keine Briefe uns erreichen.
Doch Augen, blind vom scharfen Schaum der Bilder,
und Ohren, taub von Blechen, blank geschlagen,
sie lassen leer die Seelen gleich Gespenstern.
Wir aber wollen spät an Sommertagen,
denn weiche Abendschatten stimmen milder,
die Stille atmen, Duft aus offnen Fenstern.
In der Fülle darben
Wie bist du sorglos durch das Schilf gestreift,
die Wellen drängten dich, ein Lied zu lallen.
Die Melodie der Frühe ist dir längst entfallen,
erstickt im Dunst, der auf dem Fluß geschweift.
Hast „amo, amas, amat“ arg verschwitzt
geleiert, bangend vor der Prüfungsstunde –
doch vor der Drohung nicht, der tiefen Wunde,
die nicht verheilt, hat Liebe sie geritzt.
Wenn als ein Schattenschilf der Vers entsprösse,
zum Ufer, Dichter, dir der Reim versteinte,
vielleicht, daß auch das Lied dir wieder flösse.
Die Wunde aber könnte nur vernarben,
wenn Unschuld sie bespräche, sie beweinte.
So mußt du in des Daseins Fülle darben.
Unergründlich
Der seelenvolle Ausdruck in der Musik. Er ist nicht nach Graden der Stärke und des Tempos zu beschreiben. Sowenig wie der seelenvolle Gesichtsausdruck durch räumliche Maße.
Ludwig Wittgenstein
Aufs Wasser fiel die Frucht. Die Wellenkreise
sind Versen gleich, die um die Mitte schwingen,
die dunkel bleibt, wenn sie das Licht besingen
und selber leuchten auf geheime Weise.
Ein Lächeln überglänzt des Müden Falten,
sie lösen sich, wenn sie ein Mund behauchte
mit jenem Wort, das ihn noch nicht verbrauchte,
den Duft, im Kelch der Liebe einbehalten.
Der Ton will dir schon aus dem Versmaß fließen,
hell schäumen auch im unbetretnen Dunkel.
Geh, Dichter, mutig noch die letzten Schritte,
bis über dir der hohen Nacht Gefunkel
den letzten Vers entsandt, den bitter-süßen:
Stumm, unergründlich bleibt des Daseins Mitte.
Der letzte Dank
Sie lag ins Dunkel hingestreckt.
Die Scheibe war so blau, so kalt.
War keiner, der sie zugedeckt.
War keiner, dem sie noch was galt.
Da griff um ihre Lenden fest
und hob sie hoch ein starker Arm.
„Mein Leben ist nur ein Gebrest,
tu mir, o Fremder, keinen Harm!“
Sie schwebte wie die Knospe leicht
auf einem windgewiegten Stiel,
der aus der Nacht zum Azur reicht,
ein Blütenblatt war sie, das fiel.
Es fing sie auf der Tänzer mild
und drehte wirbelnd sie im Kreis,
es flammten seine Blicke wild,
der bleichen Lippen Hauch war Eis.
Sie hörte noch die Melodie,
die ihr einst frühe Liebe sang,
der sie es niemals je verzieh,
daß ihr der hohe Ton zersprang.
Da löste er den Griff, sie sank
zurück, das Fenster glühte rot.
„Wem schulde ich den letzten Dank?“
„Dein Retter bin ich, bin der Tod.“
Gezeiten der Liebe
Liebe ist kein Gefühl. Liebe wird erprobt, Schmerzen nicht. Man sagt nicht: „Das war kein wahrer Schmerz, sonst hätte er nicht so schnell nachgelassen.“
Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 504)
Das Herz schlägt schneller, eilt sie dir entgegen,
du liebst, beglückt von trunkner Küsse Schauer.
Doch auch, das müde Haupt gesenkt in Trauer,
wenn leer das Laken fahlt, wo ihr gelegen.
Die Welle Glück schwillt an in den Gezeiten
bei vollem Mond und ebbt, wird er verschattet.
Es seufzt die Liebe lang, bis sie ermattet,
vor Blüten, die auf dunklen Wassern gleiten.
Gefühl ist alles, sprach aus Faust der Dämon,
doch zeigt ihr Opfer, es war Margarete,
die reiner fühlte als der Unrast Sohn.
Dein Vers sei, Dichter, eine zarte Ranke,
ihr Blattwerk spiegle noch wie Dankgebete
das hohe Licht, wenn schon der Boden schwanke.
Jäh angeschlagene Saiten
Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.
Ludwig Wittgenstein
Jäh angeschlagen, zittern bange Saiten.
Als würden Blitze durch das Dunkel zacken
und Schauern beugen sich der Anmut Nacken,
scheinst über Feuerknospen du zu gleiten.
Schon bettet dich ein Raunen schwanker Halme,
an Blütenlippen schimmern leise Reime,
und Worte sagst du vor dich hin, geheime,
sie windend dir zum Kranz, zum Dankespsalme.
Bleibt, Dichter, Rascheln dir von dürren Blättern,
gehst einsam du durch herbstliche Alleen,
tönt noch ein Echo zartgeschweifter Lettern,
als habe Sturm in deine Schrift geblasen.
O fühl, wie toter Blumen Seelen wehen,
die einst geprangt in schön bemalten Vasen.
Laut und Sinn
Der Satz ist kein bloßer Laut; er ist mehr.
Der Satz ist wie ein Schlüsselbart, dessen einzelne Zacken so angeordnet gewisse (bekannte) seelische Hebel in gewisser Weise bewegen. Der Satz spielt gleichsam auf dem Instrument der Seele ein Thema (einen Gedanken).
Ludwig Wittgenstein
Im selben Raum sind Auge und Objekt,
doch können wir uns selbst zugleich nicht sehen.
Die wie im Halbschlaf uns vom Munde wehen,
die Laute sind aus Luft, der Sinn verdeckt.
Und wir enthüllen ihn, er strahlt entblößt.
Was an die harten Stirnen schien zu klopfen,
erglänzt am Blatt des Verses, gleich den Tropfen,
die sich vom Saum des Schweigens abgelöst.
Die Tropfen feuchten nicht die trocknen Lippen,
doch lindern sie den Schmerz verborgner Wunden.
Der Vers, er dringt in das Verlies der Rippen.
Nur der sublime, strömend wie das Wasser,
dem voller Mond ein Seufzen hat entbunden,
macht leiser unsern Puls, die Wange blasser.
Das wüste Feld
Gedichte scheinen aus dem Schoß zu sprießen,
den vor uns viele pfügten schon, besamten.
Wenn aber Geist und Schöpferkraft erlahmten,
sind schal die Früchte, kaum mehr zu genießen.
Das Feld verödet, Lattich prangt und Disteln,
und was an Körnern übrig zwischen Wicken,
sieht Krähen man und Sperlingsvögel picken,
in kahler Dichtung Wipfel strotzen Misteln.
Wer wird auf wüstem Feld den Mißwuchs roden,
das Astwerk, das verkrüppelte, beschneiden
und frische Keime pflanzen in den Boden?
Kommt aus dem Volk er, das den Reim verachtet,
ist fremd er wie der Pilger unter Heiden,
der nicht umsonst vorm Schrein des Heils geschmachtet?
Fernes Winken
Vergiß nicht, daß ein Gedicht, wenn auch in der Sprache der Mitteilung abgefaßt, nicht im Sprachspiel der Mitteilung verwendet wird.
In der Wortsprache ist ein starkes musikalisches Element. (Ein Seufzer, der Tonfall der Frage, der Verkündigung, der Sehnsucht, alle die unzähligen Gesten des Tonfalls.)
Ludwig Wittgenstein
Das Lied sei wie ein fernes, vages Winken
vom Bord des Schiffs, die Züge des Gesichtes
sind schon verwischt im Dunst des Gegenlichtes,
die Rührung währt, wenn auch die Hände sinken.
Wie unterm Kuß magst du die Augen schließen,
wenn Düfte dich der Gegenwart entreißen.
Du siehst noch in der Nacht die Blüten gleißen,
auf des Erinnerns Strom die Verse fließen.
Stopf weichen Mull in des Gesanges Trichter,
daß nur gedämpft die dunkle Klage bebt.
Verhüll der Liebe Antlitz mit dem Schleier,
den du aus matter Schwermut Taft gewebt.
Sei leiser Zeichen, die fern schimmern, Dichter,
wie Schwäne aus dem Schilf im Abendweiher.
Im Schatten wandeln
Mein Ideal ist eine gewisse Kühle. Ein Tempel, der den Leidenschaften als Umgebung dient, ohne in sie hineinzureden.
Ludwig Wittgenstein
Der Kreuzgang spendet Wandelnden den Schatten,
wenn in der Mitte Wasser glitzernd kühlen.
Im Herd des Leidens ist noch Glut zu fühlen,
die dunkel seufzt, wenn Beter schon ermatten.
Die Fliesen zieren Knospen, Feuertiegel,
kalt klären sie die Sinne, die im Flirren
dem Meer entstiegner Lüfte sich verwirren,
doch brennt die Stirne unterm Aschensiegel.
Form dein Gedicht uns wie die Säulenhalle,
wo wir erhitzt vom Tag im Schatten wandeln.
Dein Reim sag, Dichter, was die Quelle lalle,
die du aus harter Erde ausgegraben.
Mag kein Geschwätz die Stille uns verschandeln,
die golden tropft wie Honig aus den Waben.
König ohne Land
Das Reich der Dichtung war ein Königtum,
der König aber trug statt einer Krone
von Eppich einen Kranz und rotem Mohne,
der Veilchen holdes Neigen war sein Ruhm.
Der Dichter war ein König ohne Land,
er ging durch der Erinnerung lichte Auen
und sah an Blumenwimpern Flocken tauen.
O Lied, versickernd wie der Tau im Sand.
Wie weiße Blüten still auf Teichen fließen,
schwamm seiner Insel schneegefüllte Schale,
die leise Verse langsam kreisen ließen.
Der Dämon tauchte in den Staub das Bild
der Hoheit, daß es grau wie Asche fahle,
die aus urinbespritzten Gluten quillt.
Die Gleichnisrede
Was ich erfinde, sind neue Gleichnisse.
Ludwig Wittgenstein
Das Gleichnis von der Leiter, die uns führt
empor auf streng verfugten Sinnes Sprossen.
Doch macht der Gegensinn uns nicht verdrossen,
daß einer schwebend nicht den Halt verliert.
Das Gleichnis von der Fliege, das uns meint,
gefangen wie in transparenten Wänden,
daß wir des Sinnes Lichtung eher fänden,
den Weg betretend, der uns dunkel scheint.
Am Ende auch das Gleichnis von den Flüssen,
die ihre Ufer formen und verbreitern,
zeigt uns, daß wir vom dunklen Grund nichts wissen.
Ob wir im Ozean des Schweigens münden,
im dürren Karste des Geredes scheitern,
kann keine Gleichnisrede uns ergründen.
Das wilde Brausen
Um wüst nicht auf den Plätzen loszubrüllen,
preßt du den Atem in den engen Trichter,
der zum Sonett sich wölbt, o Unzeit-Dichter.
Es kann der Muschelklang den Schmerz nicht stillen.
Um ihm ein wenig Schmelz und Glut zu leihen,
läßt deine spröden Lippen du vibrieren.
Wie bald die Töne in der Nacht gefrieren,
wie fahle Reime auf die Brache schneien.
Mag dich der Gischt am Katarakt belehren,
sein wildes Brausen, das gestaltlos bleibt,
es kennt kein Maß des Sinns, kein Wiederkehren
in einem rhythmisch zart gedehnten Bogen.
So rasch auf grauser Flut die Blüte treibt,
wird jäh der Grazie Anblick uns entzogen.
Wenn Schatten wehen
Wie wesenlos sie über alles wehen,
den Schmelz der Knospen, die im Frührot schauern,
den grauen Efeu an den Friedhofsmauern,
wie willig sie mit ihren Menschen gehen.
Doch manchmal scheinen sie, von allen Dingen
gelöst, wie zwischen Tag und Traum zu zittern,
ein goldnes Licht erblüht an Schattengittern,
und unser Herz will mit den Blüten schwingen.
So wehen aus den dämmerfahlen Schneisen
die Schatten längst entrückter Traumgestalten,
und unser Gram kann sie nicht von sich weisen.
Wie Schatten sind die Verse, blütenlose,
die um das Sinnbild flackern und erkalten,
den Schnee der Lilie und die Glut der Rose.
Löcher im Netz
Ist es also so, daß ich gewisse Autoritäten anerkennen muß, um überhaupt urteilen zu können?
Man könnte Einem, der gegen die zweifellosen Sätze Einwände machen wollte, einfach sagen „Ach, Unsinn!“. Also nicht ihm antworten, sondern ihn zurechtweisen.
Worauf kann ich mich verlassen?
Ich will eigentlich nur sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt „auf etwas verlassen kann“.)
Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 493, 495, 508, 509)
Nimm an, der Spiegel sei konvex verbogen,
worin man einzig sich zu sehen pflegt –
nie würde der Verdacht in dir erregt,
dein wahres Bild blieb ewig dir entzogen.
Wär es an wenig Stellen leicht gerissen,
das Netz der Sprache, welches dir gespannt –
die Spinne Sinn hat flugs sie überrannt,
was durchgeschlüpft, sie wird es nicht vermissen.
Der Zweifel, der behaucht ihn lang genug,
macht, daß der klare Spiegel dir erblinde.
Und keine Spinne wird es neu dir weben,
hast du zerfetzt das Netz als eitlen Trug.
Schält Irrwitz von der Sprache Stamm die Rinde,
wird Blatt um Blatt der Sinn ins Dunkel schweben.
Im Wachen geträumt, im Traum erwacht
Wenn man aber mit dem Bedenken kommt: Wie, wenn ich plötzlich sozusagen aufwachte und sagte „Jetzt hab ich mir eingebildet, ich heiße L. W.!“ – wer sagt denn, daß ich nicht noch einmal aufwache und nun dies als sonderbare Einbildung erkläre, usf.
Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 642)
Der Schnee verhüllt mit feinem Tuch das Feld,
von Wolken, die wie Kissen auf sich bauschen,
dringt dir ins Ohr ein angenehmes Rauschen.
Dich dünkt, du wärst allein auf dieser Welt.
Nun zieht es jählings ab, das Tuch ein Wind,
und überwirklich blaut er nun, türkisen,
der Himmel, wie Marokkos blaue Fliesen.
Dir scheint, du warst zuvor vom Traumschnee blind.
Hat dich das Rauschen in den Schlaf gewiegt,
und hast im Traum die Welt im Schnee gesehen,
Schnee, der so weich auf weichen Lidern liegt?
Blies fort der Wind ihn und du bist erwacht?
So schließ die Augen wieder, fühl, es wehen
die Flocken hell in deiner hellen Nacht.
Aufs Wasser geschrieben
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Dummheit läßt sich nicht belehren, bestenfalls unschädlich machen.
Mitleid ist ein zu diffuses, zu gemischtes Gefühl, als daß man daraus eine klare Weltanschauung destillieren könnte.
Der Entwurzelte kann nicht blühen, nicht Früchte treiben.
Nur das mit Blut und Geist getaufte Wort wird wiedergeboren.
Die von bunter Vielfalt schwadronieren, tragen die graue Einheitsuniform der öffentlichen Meinung.
Die Unfruchtbaren bieten Zukunftsphantasien zu Ramschpreisen feil.
Ob die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne kreist, ist für das Heil der Seele ohne Belang.
Der undurchdringliche Nebel des Geschwätzes. – Man muß aus der Niederung, wo er sich verbreitet, auf dem alten Pilgerpfad des Schweigens emporklimmen, um ins Lichte und Weite blicken zu können.
Fäden des Sinns, die sich verknäuelt haben, einfach abzuschneiden ist keine hellsichtige Form der Hermeneutik.
Leben und Tod, Sinn und Unsinn, Ja und Nein sind absolute Unterschiede; deshalb können wir beispielsweise unser Leben nicht von außen betrachten und dem Unsinn mittels sophistischer Dialektik kein Quentchen Sinn abtrotzen; deshalb sollten wir jenen, dem unser halbherziges Ja galt, unsere Unentschlossenheit nicht mittels Zweideutigkeiten und Hinterhalte büßen lassen.
Die Faulen und die Lauen fliehen vor der Entscheidung. Oder warten ab, bis der Zufall oder die Laune des Schicksals sie ihnen abnimmt.
Die Einebnung der Polarität der Geschlechter kastriert den Mann und sterilisiert die Frau.
Der Zion von Jerusalem, die Akropolis von Athen, die Sieben Hügel Roms – diese spirituellen und kulturellen Gipfel wurden, welche Paradoxie, von den verweichlicht-zarten Händen geistiger Perversion und sittlicher Niedertracht eingeebnet.
Ihre Knie sind versteift, sie können sich vor keinem Höheren mehr beugen.
Autorität gilt für Anmaßung, Schönheit für eine Form von Beleidigung, Genie für eine raffiniert kaschierte Neurose.
Wer den Knoten des Gedankens aufgelöst hat, zieht sich hinter die Anonymität der Alltagsrede zurück; oder schweigt.
Die Blüte des dichterischen Worts – soll sie etwa auf dem brackigen Abwasserkanal dahintreiben?
Der ungeheure Druck, der den dunklen Kohlenstoff in leuchtende Diamanten verwandelt hat.
Der Druck auf der Seele des Dichters.
„Die Studierenden schliefen in einem großen Saal.“ – „Im Orchestergraben fand man nach der Premiere einen toten Musizierenden.“ Die Genderkretins wissen buchstäblich nicht mehr, was sie sagen.
Der Kult ist entleert, die Kirche zu einem Jahrmarkt des sozialen Ablaßhandels verkommen.
Strenggläubige können sich nicht um einen runden Tisch versammeln, auf dem das Wort in Krümel von Geschwätz zerbrochen wird.
Wir sprechen von Sitte und Unsitte, gelungener und mißlungener Form (der Rede, der Dichtung, der Kunst), von edel und gemein, von Mann und Frau – und warum? Weil es unsere Ahnen schon so zu tun pflegten; das genügt als Begründung.
Sie sind müde, erschöpft, von Erinnerungen zerquält oder dumpf und erinnerungslos; sie wollen keine eigentümliche Sprache und Kultur mehr haben, sie wollen nicht länger ein Volk, eine Nation sein. – Herder bezeichnete Völker und Nationen als Gedanken Gottes.
Mens sana in corpore sano. – Mens sana in corpore aegro. – Mens aegra in corpore sano.
Wir kennen den hellen, scharfsinnigen, geistvollen, witzigen Kopf auf einem schwachen, kränkelnden, verkrüppelten Leib (Pascal, Kierkegaard, Lichtenberg). – Gehört nicht selbst Nietzsche, der Sokrates um seiner Häßlichkeit willen verachtete, aufgrund seiner ewigen Migräne, seiner Gynophobie, ja seiner schließlichen Umnachtung in diese heroische Linie?
Wir sprechen von grausamen, blutrünstigen, barbarischen Taten; und doch ist das moralische Urteil nicht immer evident: Das Kulturvolk der Römer brachte den feinsinnigen Dichter der Bucolica hervor und ergötzte sich an den blutigen Spielen der Gladiatoren, der abertausend Kreuzigungen nicht zu gedenken, geschweige denn derjenigen, die zum Inbild des christlichen Abendlandes bestimmt war.
Der Geist kann nicht als Gefäß oder Apparat vorgestellt werden, in dem die Wahrnehmungen, Eindrücke, Empfindungen aufgefangen und verarbeitet werden, die wir haben. Wer sind dann wir, die in diesem Gefäß nicht vorkommen?
Der Naturalist, der Nihilist, der Zyniker, der über den Engel des Herrn, der den Hirten erschien, oder den Engel Rilkes die Nase rümpft, versteht den Geist nicht, der jene Schriften beseelt.
Der Ernüchterte ändert seine Meinung nicht, sondern gibt sie auf.
Jemandem vertrauen, der eine bessere Welt verspricht, heißt dem eigenen Verstand zu mißtrauen.
Ich sagen, ohne zu wissen, wer man ist.
Drei Propheten, Nietzsche, Wagner, George, die einen neuen Glauben verkünden wollten; doch die Flamme rußte, der Gral fand keinen Altar, das Neue Reich ging im Dritten unter.
Die Dummheit der neuen Chiliasten, die den Weltuntergang beschwören, aber nicht wahrhaben wollen, daß ihr Sein und Tun und Schwadronieren ihn allererst ausmacht, ja verkörpert.
Welch ein kultureller Niedergang bekundet sich in dem Umstand, daß die Urfassung der „Zauberflöte“ auf Geheiß der Sittenpolizei nicht mehr aufgeführt wird, weil darin ein gewisser Neger namens Monostatos seine Liebessehnsucht nach einer Schönen besingt, die er schön nennt, weil sie weiß ist, wie sich selbst häßlich, weil er schwarz ist.
Das fatale Erbe der Geschichtsphilosophie, die den Kairos, den erfüllten Augenblick, der die historische Kontinuität sprengt, durch den Glauben an den moralischen und technischen Fortschritt ersetzt. – „Fortschritt“ von der Guillotine zur Gaskammer.
„Gott ist tot!“ – „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt!“ – Ausdruck hysterischer Gedanken. Auch wenn er nicht die Bohne an Gott glaubt, erlaubt sich der gute Sportler kein Foul, nicht einmal, wenn es unbemerkt bliebe. Die treue Seele hält ihr Versprechen, auch wenn sie nicht glaubt, sie werde von höherer Warte aus beobachtet und ihre Missetat ins Sündenregister eingetragen.
Würden all unsere Wünsche auf magische Weise unmittelbar erfüllt, lebten die meisten nicht mehr.
Unerfüllbare Wünsche, wie daß die durch den Tod getrennten Liebenden im Schattenreich einander wiederfinden, sind die Quellen der höheren Dichtung; magische Objekte – der unversiegliche Kelch, die unverwelkliche Rose, der Kristall gewordene Schmerz – ihre semantischen Idole.
Mit dem Hammer kann man einen Schädel zertrümmern, nicht aber den subtilen Innervationen und Verästelungen des Gedankens nachfühlen.
Von jenem, der mit dem Hammer philosophierte, blieben nichts als weithin verstreute Scherben, die bisweilen im Dunkel zu schimmern beginnen.
Unverdorbene Kinder jubeln, wenn in Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ die Hexe in den glühenden Ofen gestoßen und verbrannt wird und die beiden Gefangenen endlich frei und wieder vereint sind; moralin-verdorbene Zeitgeistpädagogen erheben Einspruch gegen diese unerträgliche Zumutung an Grausamkeit.
Der jäh angeschlagene Gong
Worte eines Dichters können uns durch und durch gehen.
Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 155)
Es trifft der Ton, der milde oder schroffe –
ein Gong wird das Bewußtsein angeschlagen.
Erschüttert kann es nur von Schmerzen sagen,
dem feinen Riß im traumgewebten Stoffe.
Wie eine Scheibe, die des Nachts gefroren,
von kristallinem Flor ward überblendet,
hat das Gedicht den hellen Kelch gespendet,
aus einem zarten Keim der Nacht geboren.
Und keiner weiß, wozu sie uns geschenkt,
die Keime, die zu lichtem Nichts erblühen.
Doch scheint erwacht, dem sie sich eingesenkt,
wenn Stengel durch die Haut des Schlafes dringen
und rings die surrealen Knospen glühen.
Laß, Dichter, sie im Hauch des Liedes schwingen!
Zuflucht im Verlies
Der Himmel floß wie Dotter weich herab,
er hing noch zitternd auf der Kirchturmspitze,
die Krähe kam, daß sie’s zerhacke, ritze,
des Ungesagten nährend zartes Lab.
Das man zerkocht zu Phrasenbrei, das Wort
trat schäumend vor die gleisnerischen Lippen.
Die Engel flatterten, den Tau zu nippen,
doch riß der Sturm den Kelch des Liedes fort.
Such dir im Schlafe, Dichter, ein Verlies,
dort grabe Korridore, tiefe Gänge,
zu münden in ein dunkles Paradies.
Hier findest du kein Wort, das nicht versehrt,
doch drunten schenken noch die Nachtgesänge,
was grellen Tages Wirrwarr dir verwehrt.
Der Pfad der Liebenden
So wollen, Liebe, wir wie Schatten gleiten
still über weiche Gräser, taubenetzte,
vergessen, was das scheue Herz verletzte,
wenn unterm Mond sich bleiche Blüten breiten.
Wir lassen von den Worten, die uns blieben,
den Duft nur gelten, trunkner Lippen Beben,
von Strahlen, die aus Dämmerlauben schweben,
die Male, die sie auf die Stirn uns schrieben.
Willst, Dichter, du nach Liebenden noch sehen,
in ihren Atem deinen Vers zu tauchen,
mußt weit du, weiter als ein Pilger gehen,
der seinen Born voll Schaum des Lichtes findet.
Sie träumen, wo Violen Dunkles hauchen
und seufzend Seele sich um Seele windet.
Verfehltes Treffen
Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.
Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 611)
Herr Niemand geht auf asphaltiertem Grund,
von kalten Strömen wird sein Herz gesteuert,
daß es kein Übermaß an Sinn befeuert,
der graue Knebel Angst stopft ihm den Mund.
Der Dichter streunt am Uferschilf entlang,
zu schauen, ob im Wasser Blüten glimmen,
er wünscht sich, bis sie dunkeln, mitzuschwimmen,
das wunde Herz betäube Vogelsang.
Was könnten diese beiden sich denn sagen?
Der eine hört Gefasel eines Narren,
nur Töne, die das Glas des Sinns beschlagen.
Der andre hält die Blume Lied vergebens
vor Augen, die ins Blütenlose starren.
Sie fliehen sich, die Linien des Lebens.
Mäandern
Wenn ich für mich denke ohne ein Buch schreiben zu wollen, so springe ich um das Thema herum; das ist die einzige mir natürliche Denkweise. In einer Reihe gezwungen fortzudenken ist mir eine Qual. Soll ich es nun überhaupt probieren? Ich verschwende unsägliche Mühe auf ein Anordnen der Gedanken, das vielleicht gar keinen Wert hat.
Ludwig Wittgenstein
Der Faden war zu dünn, zu heikel: Ich,
die Bilder, Zeichen, Träume aufzureihen.
Wir hatten auch kein Sieb, den Mix zu seihen,
bis alles Trübe vom Geklärten wich.
Und lockte uns erblühter Worte Feld,
trug Flattern blind von einem Duft zum andern.
Wie Ströme, die sich teilen und mäandern,
war uns zu sagen, was ins Offne quellt.
Bevor wir in die Nacht, den Ursprung, münden,
mag sich Gestirn in unserm Liede spiegeln.
Würd es sich auch zum goldnen Ringe ründen,
wir müßten ihn am End vom Finger streifen.
Wir wollen nicht im Schrein des Buchs versiegeln,
was nur in blauer Luft zum Lied kann reifen.
Überm Abgrund schweben
Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig).
Es steht da – wie unser Leben.
Ludwig Wittgenstein (Über Gewißheit, Nr. 559)
Wie Kinder, die den glatten Kieselstein
auf Wellen schleudern, daß er schimmernd springe,
sehn wir erregt, ob uns das Spiel gelinge,
das Wort erglänzt im dunklen, stummen Sein.
Wie eine Knospe auf dem Wasser schwebt,
die Sonne weckt sie, Nacht wird sie verschließen,
woher sie kommt, wohin die Wasser fließen,
sie weiß es nicht, weiß nicht, wozu sie lebt.
So schweben überm Abgrund wir dahin.
Was zarte Wurzeln aus dem Dunkel saugen,
nährt heller Blüten ephemeren Sinn.
Nur Rauschen bleibt, was wir von ferne hören,
trübt Mondes Milch das zarte Glas der Augen.
Mag es wie einer Muschel Klang betören.
Das inkarnierte Wort
Die Philosophen, die glauben, daß man im Denken die Erfahrung gleichsam ausdehnen kann, sollten daran denken, daß man durchs Telefon die Rede, aber nicht die Masern übertragen kann.
Ich kann doch nicht in den Gedanken, durch Worte, eine Voraussicht erschleichen von etwas, was ich nicht kenne.
(Nihil est in intellectu …)
Als könnte ich in den Gedanken gleichsam von hinten herum kommen und einen Blick von etwas erhaschen, was von vorn zu sehen unmöglich ist.
Ludwig Wittgenstein (Zettel, Nr. 256, 262)
Im Feingefühl der Hand, der wachen Haut,
wird uns erhellt, was sonst im Dunkel bliebe.
Taub wär der Geist, wenn er sich wund nicht riebe
am Rätselwort, wie Schnee, der niemals taut.
Wahr wird das Wort, wenn es sich inkarniert.
So muß es auch den Leidensweg beschreiten.
Es kann dem Geiste Nahrung nur bereiten,
wenn es befruchtet wird und Frucht gebiert.
Mit einer Krücke kann ein Greis wohl gehen,
nicht weit, daß er am Abend kehre heim.
Doch lernt das blinde Wort nicht wieder sehen,
ward einmal ihm die Netzhaut abgezogen.
Der Ring des Liedes ist aus Gold, ein Reim,
den heißer Sinn zum Kreise sich gebogen.
Das verstoßene Wort
Den Kindern hält die arge Welt im Lot
das Singen, Klatschen, Tanzen, Ringelreihen.
Mich schleudert hin und her der Woge Schreien.
ich bin die Gischt, der Schaum, das lecke Boot.
Ins Gruppenphoto hab ich nicht gepaßt,
schief stand ich da wie gegen Sturmes Rasen.
Und reckten keck empor sie ihre Nasen,
hab ich mir ratlos an die Stirn gefaßt.
Wenn sie auf weicher Seufzer Welle gleiten,
die sich in fernem Uferschilf versprüht,
weckt mich aus dumpfem Schlaf ein leises Wimmern.
Es ist das Wort, das ich verstieß vor Zeiten,
da es zu hell im dunklen Vers geblüht.
Das welke nehm ich auf, das blasse Schimmern.
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