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Was können wir von der Vergangenheit wissen?

25.09.2015

Es ist ein verbreitetes Vorurteil, auch als hermeneutischer Zirkel oder als postmoderne Idee der Dekonstruktion bekannt, daß wir uns über Sachverhalte, über die wir Kenntnisse und Einsichten erwerben wollen, insbesondere über Ereignisse der Vergangenheit, zuvor und zunächst ein Bild machen müssten, dessen Formen und Farben, dessen Stoffe und Motive wir freilich unserer Gegenwart oder unserem aktuellen Erleben zu entnehmen hätten, denn etwas anderes stünde uns nicht zu Gebote.

Der Gedanke, daß wir in Bildern befangen sind und daher kein objektives Wissen erwerben können, hüllt sich auch gern schickerweise in semiologische Kleider und sagt uns dann: „Ich bin ein Kind der heutigen Mode und trage nun einmal gern Hosen und T-Shirts. Mit den Reifröcken und Rüschen vergangener Epochen habe ich nichts zu tun und glaube, sie sind eine Erfindung der Maler, auf deren Bildern wir sie in so scheußlicher Pracht sich bauschen und wiegen sehen.“

Nach dieser Annahme steckten wir wie in den jeweiligen Moden in den Zwangsjacken der von uns verwendeten Zeichensysteme: Diese ließen uns keinen freien Atem, um nach der Korrektheit und Angemessenheit der Anwendung der Zeichen oder nach der Existenz oder Nichtexistenz, kurz der Wahrheit, des von uns Bezeichneten fragen zu können.

Wir wollen in kurzen Zügen erweisen, daß diese Annahme nicht nur falsch, sondern beides falsch und unsinnig ist.

Wir gebrauchen hier den Begriff des Wissens in einem schwachen Sinn und in diesem Sinne können wir evidenterweise nur das wissen, was vergangen ist, denn was gegenwärtig ist, existiert nicht, weil es in dem Moment, in dem wir darüber nachsinnen, ob es existiert, schon vergangen ist, und was zukünftig ist, existiert noch nicht, und folglich können wir darüber gar nichts wissen. Wir gebrauchen den Begriff des Wissens in einem schwachen oder alltäglichen Sinn, wenn ich Herrn X nach einiger Zeit wiederbegegne und sehe, daß er nicht mehr die Frisur mit der auffallenden Tolle trägt, sondern nunmehr eine Glatze hat. Ich sage dann wohl: „Sie waren wohl beim Friseur“ und beziehe mich solchermaßen augenscheinlich auf eine Tatsache der Vergangenheit, deren Existenz ich aus der Wahrnehmung des veränderten Aussehens des Herrn X erschließen zu können meine. Nun ist dies aber keine logisch strenge Folgerung, denn Herr X könnte auch erkrankt sein und seine Haare könnten aufgrund der Krankheit ausgefallen sein. Wenn ich allerdings Herrn X gestern zufällig durch das Schaufenster des Friseurs gesehen und beobachtet habe, wie der Friseur einen Rasierapparat an die Tolle des Herrn X ansetzte, kann ich in einem schwachen Sinne wissen, daß sein heutiges Aussehen sich aus der Tatsache erklären läßt, daß er gestern beim Friseur war.

In einem starken Sinne können wir nur wissen, was wir aus empirischen Daten und Fakten nach gültigen logischen Ableitungsregeln gefolgert haben – auch wenn es nicht ganz unstrittig sein mag, diese Form von Einsicht überhaupt ein Wissen zu nennen. Wenn wir uns gestern getroffen haben und ich habe dir die mir freundlicherweise vor einem Jahr entliehene Geldsumme zurückgegeben, wußte ich in diesem Sinne gestern, daß mein Geld nunmehr dein Geld geworden ist, denn du hast es dir in deine Jackentasche gesteckt. Als ich dich aus den Augen verloren hatte, schwand mein sicheres Wissen auch schon dahin. Heute jedenfalls kann ich im strengen Sinne nicht mehr wissen, ob das Geld noch dein Geld ist, denn du könntest auf dem Heimweg überfallen und das Geld dir entwendet worden sein.

Wenn du die Winkelsumme tausender Dreiecke gemessen und als Durchschnitt der errechneten Summen 180 Grad erhalten hast, weißt du im strengen Sinne nicht, daß jedes Dreieck eine Winkelsumme von 180 Grad hat, denn das nächste Dreieck, das dir in die Finger gerät, könnte eine davon abweichende Winkelsumme aufweisen. Erst wenn du den auf logisch gültigen Ableitungsregeln beruhenden Beweis des Euklid über die Winkelsumme des Dreiecks nachvollzogen hast, weißt du in einem strengen Sinne, daß jedes Dreieck eine Winkelsumme von 180 Grad aufweist.

Von dieser Form des strengen Wissens unterscheiden wir das historische Wissen, das empirisch mehr oder weniger gesichert ist. Der Inhalt des historischen Wissens bezieht sich auf die Existenz eines Sachverhaltes der Vergangenheit, der sich ergibt, wenn wir etwa sagen: „Die Schlacht von Actium hat am 2. September des Jahres 31 vor Christus stattgefunden.“ Wir setzen also begrifflich einen Sachverhalt voraus und nennen ihn „kriegerische Auseinandersetzung zwischen dem Heer des Octavian und des Agrippa auf der einen Seite und dem Heer des Antonius und Kleopatras VII., der Königin von Ägypten, auf der anderen Seite“ und haben seine Realität durch empirische Verfahren historischer Untersuchung zu bestätigen oder gegebenenfalls zu widerlegen.

Und dennoch verfügen wir in jedem Bereich, in dem wir die Sprache verwenden, wenn wir sie denn korrekt verwenden, trivialerweise über ein Evidenzwissen anderer Art: Wir wissen, was wir meinen, wenn wir sagen, was wir meinen. Kurz, wir verfügen dank unseres Sprachgebrauchs über ein Bedeutungswissen, aufgrund dessen uns die Bedeutung dessen, was wir sagen, evident ist. Wir wissen, was es heißt, daß ich dir gestern Geld gegeben habe, und in demselben Sinne wissen wir, was es heißt, daß Octavian, der spätere Kaiser Augustus, in der Schlacht bei Actium gesiegt hat. Soweit es demnach um die korrekte Anwendung sprachlicher Zeichen geht, hinkt unser Wissen über die Vergangenheit in nichts dem Evidenzwissen hinterher, das wir den euklidischen Beweisen verdanken.

Der Inhalt historischen Wissens sind Sachverhalte der Vergangenheit, denen wir im Gegensatz zu natürlichen Abläufen wie der Versandung eines Sees oder dem Bewuchs einer Mauer mit Grünspan eine intentionale Verursachung zuschreiben. Octavian hielt sich am 2. September 31 v. Chr. auf dem Schlachtfeld von Actium auf, nicht weil ihn der Wind dorthin getragen oder er auf einer Reise krank dort liegengeblieben wäre, sondern weil er die militärische Entscheidung suchte und sich mit voller Absicht nach Actium begeben hatte. Woran erkennen wir die Eigenschaft von Sachverhalten im Gegensatz zu natürlichen Abläufen intentional verursacht zu sein? Nur wenn wir diesen Unterschied bemerken und identifizieren können, haben wir die Möglichkeit, uns historisches Wissen anzueignen, denn dieses umfaßt nicht in erster Linie Objekte und natürliche Prozesse, auch wenn diese wie Gewehre und Wetterlagen bei militärischen Auseinandersetzungen eine ausgezeichnete Nebenrolle neben den Hauptrollen der historischen Akteure spielen; sondern unser Wissen über die Vergangenheit ist auf die Taten der Akteure ausgerichtet, die res gestae.

Wir bemerken ausdrücklich, daß Umweltbedingungen wie Klima, Wetter, Vulkanismus, Bodenbeschaffenheit, Bodenschätze zur Gewinnung von Energie und Herstellung von Waffen oder Schmuck, aber auch Krankheiten und Krankheitserreger wie Viren und Bakterien oder die Bevölkerungsentwicklung auf der einen Seite und die Entwicklung von Technik und Medizin bei der Intensivierung der Land- und Viehwirtschaft, der Industrialisierung und Mobilisierung sowie der Bekämpfung von Krankheiten und Epidemien auf der anderen Seite nicht unmaßgeblich zur Verbreiterung der Basis beitragen, auf der sich das menschliche Drama der Geschichte abspielt. Hier wird unser Sachwissen enzyklopädisch vertieft, ohne unsere Theorie darüber, was Taten und Handlungen, wer Täter und Handelnde im historischen Rahmen sind, wesentlich zu vertiefen.

Taten (wozu gewiß auch die Untaten zählen) aber sind Körperbewegungen, die ein Mensch mehr oder weniger freiwillig und absichtlich ausführt und bei deren Ausführung er weder innerem noch äußerem Zwang vollständig erliegt. Taten verursachen ihrerseits auf natürliche und künstliche Objekte, auf natürliche und künstliche Abläufe eine beabsichtige Wirkung und neben der beabsichtigten Wirkung etliche unbeabsichtigte Folgewirkungen. Hättest du mir die Pistole auf die Brust gedrückt, um dein Geld wiederzubekommen, das ich dir schuldete, aber nicht pünktlich zurückbezahlt hatte, wärest du gewiß der Täter einer Tat, nämlich der Nötigung meiner Person, gewesen, ich allerdings wäre leider das Opfer deiner Tat, das äußerem Zwang vollständig erlegen wäre – es sei denn ich hätte dich in einem günstigen Moment deiner Unaufmerksamkeit ausgetrickst und wäre dir entwischt. Die Pistole ist das Tatwerkzeug, mein Schreck und meine Beflissenheit, dir das Geld sofort auszuhändigen, sind die von dir beabsichtigten Tatwirkungen, meine gerissene Art, dir zu entwischen, ist die von dir nicht beabsichtigte Folgewirkung.

Woran erkennen wir Taten im Gegensatz zu bloßen Abläufen? Wir müssen zugestehen, daß wir kein äußeres Kennzeichen am Täter und seinen Taten feststellen können, an denen wir unterscheiden können, daß er jetzt freiwillig und absichtsvoll des Weges daherkommt oder schlafwandelt. Indes verlassen wir uns auf die sprachlichen Kundgaben der Akteure, wenn sie oder ihre Zeitgenossen ihre Taten ankündigen oder wenn sie oder ihre Zeitgenossen und spätere Erzähler und Historiker von den ausgeführten Handlungen berichten. Um Kundgaben und Berichte dieser Art handelt es sich also, wenn wir uns daranmachen, Wissen über die Vergangenheit zu sammeln, diese müssen wir ausfindig machen und auf ihre Glaubwürdigkeit und ihren Wahrheitsgehalt prüfen. Gewiß setzen wir, und dies meist zurecht, auch bei den mündlichen und schriftlichen Kundgaben und Berichten über historische Handlungen voraus, daß sie freiwillig und absichtsvoll erfolgt sind; denn unter Zwang hervorgebrachte Berichte verlieren in unseren Augen jeglichen Zeugnischarakter.

Wir müssen bei der historischen Untersuchung die Identität der handelnden Person zugrundelegen. Nur wenn die Person, die im Herbst 42 vor Christus in der Schlacht bei Philippi in Makedonien zusammen mit Marcus Antonius die Caesarmörder besiegt hat, dieselbe Person ist wie die, die am 2. September 31 vor Christus in der Schlacht bei Actium denselben Marcus Antonius und die ägyptische Königin Kleopatra VII. besiegt hat, nämlich Octavian, der spätere erste römische Kaiser Augustus, gewesen ist, wissen wir, daß es sich um dieselbe Person handelt. Woher wissen wir das? Nun, die Quellen benutzen zur Bezeichnung des Siegers von Philippi denselben Namen wie zur Bezeichnung des Siegers von Actium.

Dagegen handelt es sich nicht um einen echten Erwerb von Wissen, wenn wir bei der historischen Untersuchung tausendfach die bekannten logisch gültigen Folgerungsregeln anwenden, also zum Beispiel aus der Tatsache, daß die Person, die bei Philippi gesiegt hat, Octavian gewesen ist, und der Tatsache, daß die Person, die bei Actium gesiegt hat, Octavian gewesen ist, gültig schlußfolgern, daß Octavian bei Philippi und bei Actium gesiegt hat.

Es scheint keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem gestrigen Tag und dem Tag zu geben, der ihm zweitausend Jahre und mehr vorausliegt. Der Unterschied der Tage ist die Zeitspanne, die zwischen ihnen liegt, und diese ist ein Kontinuum, demnach ist der Unterschied einer des Grades, nicht des Prinzips. Denn Tag ist Tag und Nacht ist Nacht.

Wie finden wir heraus, was ich gestern getrieben habe? Nun, ich habe dich gestern getroffen, denn ich bin deiner Aufforderung, dir das Geld, das du mir vor einem Jahr ausgeliehen hattest, an diesem Datum zurückzugeben, gefolgt. Zeitpunkt und Ort der Rückgabe sind in einem Schriftstück hinterlegt, das wir vor einem Jahr aufgesetzt hatten, um die Modalitäten des Kredits wie Fälligkeit und Verzinsung festzulegen. Die in diesem vertragswerten Schriftstück verzeichneten Angaben über Zeitpunkt und Ort der Rückzahlung nennen wir Daten, die Tatsache, daß wir uns da und dort getroffen haben und ich dir den Geldbetrag entrichtet habe, nennen wir Fakten.

Das grobe Muster oder Gerüst unseres Wissens von der Vergangenheit besteht demnach aus Daten und Fakten. Es scheint dies wenig, aber ohne dies ist alles Reden über das Vergangene nichts oder ein Gaffen in Wolken und ein Haschen nach Wind.

Wir behaupten, daß die Art, wie wir herausfinden, was ich gestern getrieben habe, nicht prinzipiell verschieden von der Art und Weise ist, wie wir herausfinden, was Octavian, der spätere Kaiser Augustus, am 2. September des Jahres 31 vor Christus bei Actium vor der Küste Griechenlands getrieben hat. Denn an diesem Tag hat Octavian und sein General Agrippa einen entscheidenden Sieg über die Truppen des Antonius und der mit ihm verbündeten ägyptischen Königin Kleopatra VII. davongetragen. Infolge dieser militärischen Entscheidung war die Gefahr der Orientalisierung Italiens und des Okzidents gebannt, aber auch das Schicksal der alten römischen Republik besiegelt, weil der Sieg bei Actium Octavian den Weg zur Übernahme der Alleinherrschaft und zur Investitur und Institution des Kaisertums in Rom freigemacht hat, welches über die nächsten Jahrhunderte die Geschicke Europas bestimmen sollte.

Verfügen wir über die Ereignisse des Tages vom 2. September 31 v. Chr. über ein ähnliches Schriftzeugnis wie dasjenige, das uns bezeugt, was du und ich am gestrigen Tage gemacht haben? Über die Schlacht von Actium haben wir nicht nur ein Zeugnis, sondern viele. Wir nennen nur die Annalen des römischen Senats, das Dokumentenwerk des Kaisers Augustus über seine Taten, res gestae, und die Werke der Historiker Cassius Dio und Florus.

Historische Zeugnisse und Dokumente, die uns die Daten und Fakten bestimmter Ereignisse der Vergangenheit übermitteln, nennen wir Quellen. Die Sichtung der Quellen, ihre Prüfung und Gewichtung gemäß den Kriterien der Authentizität, Korrektheit und Glaubwürdigkeit, nennen wir Quellenkritik, das Hauptgeschäft desjenigen Forschers und Wissenschaftlers, der sich über weiter zurückliegende Ereignisse der Vergangenheit ein wahres Bild machen möchte, des Historikers.

Natürlich könnte das Schriftstück oder der Vertrag über einen Kredit, den du mir gewährt hast, nie zur Wirkung gekommen sein, weil wir es zwar vor einem Jahr aufgesetzt, aber dann verworfen haben, weil ich die glückliche Meldung von einer unerwarteten Erbschaft erhalten hatte, die mir aus der Patsche geholfen hat. Das Schriftstück bezeugte also weder ein Datum noch ein Faktum und wäre als Quelle des Wissens über die Vergangenheit betrachtet wertlos, weil die ihn ihm festgesetzte Abmachung nie wirksam geworden wäre.

Wäre die Abmachung nicht wirksam geworden, hätte sie kein Faktum in der Welt hervorgebracht, das wir herausfinden und verifizieren könnten: Wir hätten uns zu dem in dem Schriftstück verzeichneten Termin nicht getroffen und ich hätte dir die von dir ja nie erhaltene Geldsumme nicht ausgehändigt – auch wenn wir uns natürlich gestern aus einem anderen Grund hätten treffen und etwas anderes unternehmen können. Die bloße Existenz des Schriftstücks bezeugt demnach nicht sein Wirksamwerden und verifiziert nicht eo ipso die in ihm enthaltenen Daten und Angaben wie unser angebliches gestriges Treffen.

Wollten gelangweilte Historiker, denen in hundert Jahren unser kleiner Vertrag vor Augen käme, die quellenkritische Methode auf ihn anwenden, müßten sie die Identität und Existenz der darin aufgeführten Personen aus unabhängigen Quellen wie Geburts- und Taufregistern feststellen und Angaben von unabhängigen Zeugen ausfindig machen, welche die Tatsache unseres Treffens und der Geldübergabe bestätigten.

Warum gehen wir davon aus, daß die genannten historischen Dokumente über das Ereignis der Schlacht bei Actium gleichsam aus ungetrübter Quelle sprudeln und die gewesenen Tatsachen wahrhaftig bezeugen oder voraussetzen, mit einem Wort, daß sie echt, korrekt und glaubwürdig sind? Nun, weil viele auf die Schlacht und den Sieg des Octavian in Rom und anderswo erfolgenden historischen Ereignisse, die wiederum von anderen historischen Quellen bezeugt werden, das Datum und Faktum von Actium voraussetzen oder ohne dieses Ereignis nicht hätten eintreten können beziehungsweise nicht hätten berichtet werden können. Was wäre dies für eine seltsame Art des poetischen Gebarens, wenn ein herausragender Dichter wie Horaz in seinen Oden den Sieg des Augustus mehrfach nicht nur als Faktum, sondern als schicksalhaftes Geschehen von außerordentlicher Bedeutsamkeit herausstellt und feiert, wenn es gar nicht stattgefunden hätte?

Was meinen diejenigen, die glauben, wir könnten vergangene Ereignisse nur im Ausgriff und Zugriff von den Begriffen und Bildern verstehen, die wir aus unserer Gegenwart und unserem eigenen Erleben beziehen? Nun, sie meinen etwas Triviales, glauben aber, eine tiefsinnige Einsicht gemacht zu haben. Um zu verstehen, daß Octavian der Sieger von Actium war und daß dieser Sieg ihm die Macht in die Hand spielte, sich als Kaiser in Rom zu inthronisieren, müssen wir wissen, was es bedeutet, eine militärische Schlacht zu schlagen oder einen Krieg zu führen, wir müssen wissen, was es bedeutet, Sieger oder Besiegter einer Schlacht zu sein, müssen wissen, was es bedeutet, die Macht zu gewinnen, müssen wissen, was es bedeutet, Kaiser zu sein.

All das aber heißt nichts anderes, als daß wir wissen müssen, wie wir unsere Sprache gebrauchen, wenn wir sagen, Octavian habe gesiegt, er habe die alleinige Macht errungen, er habe sich als Kaiser feiern lassen. Daß wir sprechen können müssen, um etwas von der Vergangenheit zu erfahren, ist trivial. Aber es zeigt uns auch den Grund auf, weshalb die genannte Annahme eines hermeneutischen Zirkels oder der Notwendigkeit eines dekonstruktiven Verfahrens in der Historiographie falsch und sinnlos ist.

Wenn Horaz den Sieg des Augustus besingt, verstehen wir ihn ohne weiteres, weil wir wissen, was der Ausdruck „Sieg“ bedeutet. Wir können dies, weil wir die Sprache beherrschen, weil wir verstehen, ohne den Sinn des Gemeinten umständlich interpretieren oder rekonstruieren oder dekonstruieren zu müssen. Nur in Grenzfällen müssen wir philologische Kniffe anwenden, wenn uns der Sinn eines Wortes der fremdsprachigen historischen Quelle nicht einleuchtet. Aber im Prinzip gibt es hier keinen Zirkel, in den wir uns zu verstricken befürchten müssten, keine für uns ganz fremdartige oder exotische Bedeutung, die wir umständlich interpretieren, die wir rekonstruieren oder destruieren müssten.

Sicherlich können wir die Macht der Bilder im historischen Raum nicht wohl in Abrede stellen. Doch sie beherrscht uns nicht und sollte uns nicht überwältigen, sondern dient uns wiederum als Material historischer Besinnung. So haben schon die Zeitgenossen des ersten römischen Kaisers die Entscheidungsschlacht bei Actium in mythischen Bildern überhöht und als Sieg Apollos über Dionysos, der apollinischen Macht des Okzidents über die dionysische Macht des Orients ausgemalt und ausgedeutet.

Es sind Bilder mythischer Mächtigkeit wie diese, die selbst historisch wirksam werden können. So hat Augustus die Rolle des Vaters des Abendlandes, die ihm Vergil mit der Ursprungssage Roms in der Aeneis an die Hand gab, bewußt aufgenommen und in diesem Sinne gehandelt. Bilder wirken demnach historisch, wenn sie das Handeln der historisch bedeutsamen Personen motivieren.

Hätten wir keine historischen Quellen über die Schlacht von Actium, sondern nur jene bildlichen Dokumente, in denen Augustus mit den Attributen des Apollo versehen ist, würden wir ihren mitgemeinten historischen Sinn, nämlich als Sieger von Actium der Besieger des Dionysos zu sein, nicht entschlüsseln können.

Wir dürfen Daten und Fakten über historische Ereignisse, das trockene Brot unseres echten Wissens über die Vergangenheit, nicht aus der Perspektive beleuchten und deuten, die sich aus ihren Folgen ergibt. Der Sieg bei Actium hatte die Folge des Untergangs der alten Republik und des Aufstiegs des Kaisertums in Rom. Aber die Schlacht hätte auch anders ausgehen können. Demnach waren die uns heute bekannten realen Folgen zum aktuellen Datum kein Bestandteil des damaligen Ereignisses. Wären sie schon Bestandteil des Ereignisses gewesen, könnte man sagen, daß es im ewigen Buch einer göttlichen Providenz vorgezeichnet gewesen wäre, also gar kein echtes historisches Ereignis gewesen wäre: Ereignisse finden an der Grenze von Gegenwart und Zukunft statt und sind deshalb weder im voraus determiniert noch mit Gewißheit prognostizierbar.

Die Annahme, wir könnten nur durch Bilder unseres gegenwärtigen Erlebens und Deutens uns ein Tor in die Vergangenheit öffnen, ist falsch, weil wir relativ sicheres Wissen über Daten und Fakten der Vergangenheit mit Hilfe der quellenkritischen Methode der Sichtung und Prüfung historischer Dokumente gewinnen können. Die Annahme ist darüber hinaus auch unsinnig, weil die Bilder, die wir uns von unserer Gegenwart und uns selbst machen, keinen undurchdringlichen Schleier auf die vergangene oder gegenwärtige Realität werfen, denn sonst könnten wir nicht einmal sagen, daß sie einen undurchdringlichen Schleier über die vergangene oder gegenwärtige Realität werfen.

Zeichen wie sprachliche Zeichen sind notwendig für die Wirksamkeit unseres Denkens und für den Erwerb von Wissen über historische Ereignisse-. Sie sind Medien, in denen wir uns bewegen wie Schwimmer im Wasser, die uns tragen, wenn wir gute Schwimmer sind, und in denen wir untergehen, wenn sie uns überwältigen. Sie sind gleichsam Antennen und Fühler, die wir ausstrecken und mit denen wir Teile und Aspekte der Realität abtasten. Aber sie sind nicht, wie radikale Hermeneutiker und postmoderne Dekonstruktivisten meinen, eine für uns unübersteigliche Realität, in der wir gefangen sind. Denn wir sind wenn auch schwache und störanfällige Benutzer und Verwender der Zeichen, Personen mit einem relativ freien Willen, keine Sklaven der Zeichensysteme. Zeichen sind im besten Falle Fenster, durch die wir einen kleinen Ausschnitt dessen erblicken können, was unabhängig von unserer Existenz und den Bildern, die wir uns von ihr machen, vorhanden ist. Im schlechtesten Falle sind die Fenster verschmutzt oder verhängt – doch sind die Vorhänge zumeist selbstgemachte Zerrbilder, die uns am Durchblick und der Klarsicht verhindern. Gewiß ist unsere Aussicht beschränkt – je nachdem, aus welchem Fenster wir wohin blicken, sei es die Straßenansicht, sei es die Sicht auf den Garten oder den Hinterhof.

Wenn wir die Angelrute ohne Köder auswerfen, können wir lange warten. Und je nach der Art und Größe des Angelhakens, je nach der Art des Köders bekommen wir, wenn wir Glück haben, diesen oder jenen Fisch an die Angel.

Wir sind auf die Meßskalen der Instrumente angewiesen, die wir verwenden. Sie stecken die Dimension des Realen ab, in der wir fischen. Wir können mit einem Thermometer keinen Luftdruck messen, mit dem Opernglas nicht die Lautstärke der Arie verstärken, die wir hören, und mit dem Stethoskop gelingt uns nicht der Einblick in die Gefühlslage des Patienten.

Sollte die göttliche Providenz aber geschichtsmächtig wirken, wie uns die Schriften der Juden und Christen bezeugen, muß die Historiographie in den Schatten treten und schweigen. Dann hätte der Sieg des Abendlands bei Actium den geistlichen Sinn, den historischen Raum für die Ausbreitung der Botschaft Christi und die Taufe Roms zur Stätte der päpstlichen Nachfolge eröffnet zu haben. Doch das können wir nicht wissen, wie wir wissen können, was ich gestern getrieben habe. Das können wir nur gläubig annehmen oder ungläubig von uns weisen.

Fazit:

Von der Geschichte im engeren oder eigentlichen Sinn, den Taten und Handlungen der geschichtlichen Akteure, res gestae, den wir hier vorausgesetzt haben, wissen wir wenig und nur bruchstückhaft im Vergleich zu dem sicheren Wissen der Mathematik oder Logik oder dem gut belegten Wissen der Physik. Die Schwierigkeit des Wissenserwerbs ist auf diesem Felde vergleichbar mit den Schwierigkeiten genauer Nachweise von Taten und Tätern in der Kriminologie: Wir müssen die Identität der Handelnden und ihrer Handlungen, der Täter und ihrer Taten identifizieren sowie die beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen ihrer Handlungen ausfindig machen, beschreiben und gewichten. Ähnlich wie in der Kriminaltechnik die Spurenidentifizierung mittels DNS-Analyse verhelfen uns verfeinerte Such- und Analysetechniken wie chemische Analysen, DNS-Analysen oder Dechiffrierungsmethoden für Schriftzeichen und andere Codes dazu, den Tatvorgängen, Tathintergründen und Tatfolgen immer näher und schneller auf den Fersen zu sein. Wir wissen auf dem Gebiet der Historiographie demnach genug, um sagen zu können, daß die Eingangsthese, unser Wissen über die Vergangenheit sei unauflöslich in der Falle und dem Bannkreis der von uns gegenwärtig generierten Zeichen und Bilder verstrickt, sowohl falsch als auch unsinnig ist.

 

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