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Zu spät

12.04.2022

Er hantiert am Schloß der hohen Tür,
hingekniet und mit verbissenen Lippen,
die Stirn in Falten, man hört ihn seufzen, keuchen,
das Schloß, es geht nicht auf, die Tür bleibt zu.
Der Tag vergeht, die Nacht bricht an, und wieder
macht er sich ans Werk, schraubt mit Draht,
dreht ein Messer, es geht nicht auf, das Schloß.
Der Raum ist kahl, kein Bild und keine Vase,
ein Schrank, Waschbecken, ebne Pritsche,
an der Wand glimmt eine öde Funzel,
die wenn er auf dem Eisenbett vergebens
zu schlafen sucht, die fahle Maske des Gesichts
aufschimmern läßt, die Augen aber bleiben
Grabeshöhlen, die Blicke eingesunken.
Tag und Nacht, ein müder Übergang
von grauem Schnee in dämmergraues Eis
in einer Milchglasscheibe an der Decke.
Gefängnis, Lager, Läuterungsanstalt?
Manchmal öffnet sich die Deckenscheibe
und es surrt gefüllt mit karger Kost
an einem Seil ein Korb aus Bast herab.
Auch Bücher sind verstreut am Boden, Zettel,
vollgekritzelt, zerknüllt, zerrissen.
Briefe, angefangen und verworfen bald,
Bittgesuche, Notizen zum verfehlten
Leben, unleserlich, nicht zustellbar.
Er versucht noch einmal, das Schloß zu öffnen,
umsonst, liegt endlich hingestreckt und starr,
ein Husten, Stöhnen, und dann wird es still.
Das Grau tropft durch die Scheibe, dunkles Grau,
und ist kein Laut, kein Atem geht, kein Hauch.
Mit leichtem Schwung, wie eines sanften Flügels,
tut wie von selbst die Tür sich auf und Licht
strömt ein, ein Kind schwebt in den Raum,
nackten Fußes, die goldenen Locken wogen
ihm um die blassen Wangen, es tönt sein Mund.
Kommt das Licht von diesem Vlies der Locken,
kommt es vom Lächeln dieses Angesichts?
Das Kind tritt zu dem Toten, träumerisch
fährt seine Hand ihm über Stirn und Augen,
und matte Lider sinken, tote Monde.
Leise summend küßt sein Blumenmund
den Runzelmund, der nie gesungen hat.
Du kannst, o Engel, ihn nicht auferwecken,
wärst früher du gekommen, ihm zu zeigen,
daß diese Tür nie abgeschlossen war,
ein Weg ins Freie ging, ins eigne Leben.

 

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