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Mrz 3 22

Im Staub des Zweifels

Wenn sie die Gegner Menschheitsfeinde nennen,
unrettbar böse, weil nur sie was gut
und echt und rein im Warenkorb erkennen,
schäumt schon vom Biß Leviathans das Blut.

Wie Gog mit Magog unter Satans Fahne
im Blitz der Zeitenwende untergeht,
flammt auf das kranke Herz im Reinheitswahne,
wenn Staub des Zweifels ihm entgegenweht.

Die Heuchler, die aus Kelchen Wein gesoffen,
verteilen Plastikflaschen, abgefüllt
mit Wassern, die aus Fäulnisspalten troffen,
Moral für Danaiden, ungestillt.

Die sich dem Sieg des reinen Lichts verschreiben,
der Sonne, die in Kindheitsfibeln prangt,
vergessen, daß sie Schattenspiele treiben
und ewig Nacht nach ihren Kindern langt.

 

Mrz 2 22

Ghasele der Erinnerung

Geläutert werden wir vom Trüben,
wenn Lichtkristalle um uns stieben,
wie es in Traumes Spiegel leuchtet,
das frühe Antlitz, das wir lieben.
Es blauen, die am Tag vergilbten,
die Blumen unsrer Kinderfibel,
im Dämmer schimmern noch Pigmente,
die taube Finger schon zerrieben.
Als wären an vergeßner Schürze
noch Spritzer roten Mohns geblieben,
dein Name in geblümten Alben
in Purpurranken grün geschrieben.
Und blassen die erweckten Bilder,
mag sich das Herz in Demut üben.
Denn aus dem Wirrwarr bunter Körner
muß reiner Hauch die reinen sieben.
So wandeln wir zu Ahnengräbern,
birst hinter uns von Dämons Hieben
die Welt entzwei, wir aber pilgern
im Gegensinn, vom Geist getrieben.
Wir lösen von der Schrift die Flechten,
die wuchernd auf das Mal sich schieben,
entziffern auf Erinnerungstafeln,
wer unsrer harren mag wohl drüben.

 

Mrz 1 22

Lichte Ghasele

Gibst du mir nichts in diesem Grauen
als deiner Augen feuchtes Blauen,
dem Küssenden ein weiches Wandeln
auf Stirn und Wangen, hellen Auen,
dem über Strahlen Strauchelnden
den Schatten hold gebogner Brauen,
den Flocken wirrer Unmutwirbel,
an warmer Lippen Hauch zu tauen –
gibst du mir alles, Sonnenfäden,
mir lichten Lieds Gespinst zu bauen.
Was könnte Größeres ich wollen
als deines Lächelns Blume schauen?
Du linderst, wie der Mond, der wandert,
die Flut, wenn sich die Ängste stauen,
und wandelst sanft durch Lauben funkelnd
in einen Gläubigen den Lauen.
Was kann ich Dürftiger denn geben?
Nicht Rosenlicht im Morgengrauen,
im Dämmerschein nicht Tau von Reben,
nur dunkler Quelle Strom, Vertrauen.

 

Feb 28 22

Scheue Ghasele

Tau der Nächte, Schmerz, verrinnend, ohne
Halt an Wimpern wehmutweicher Mohne.
Flocken, scheut, ins Abenddunkel schneiend,
Blütenwangen, daß die Anemone
nicht erblaßt, im Schlafe nicht erschauert.
Und ihr frühen Strahlen laßt die Krone
gelber Rosen leise nur erbeben,
daß ihr Duft den Schlummernden verschone,
Bild der Sehnsucht nicht den Träumer quäle,
noch sein Herz bei hohen Schatten wohne.
Tropfen, glitzernd am Gespinst des Liedes,
Liebestränen wehmutweicher Mohne.

 

Feb 27 22

Des Volkes Sohn

Zog er nicht mit uns, als wir sangen,
hieß er nicht Volkes Sohn?
Weit hinter uns ist er gegangen,
ach ja, er hinkte schon.

Und als die Kinder Blüten streuten,
in Schleifen golden-blau,
damit sich Gottes Engel freuten,
bat er die Nacht um Tau.

Er kratzte Asche aus dem Herde
für eine Bauersmagd,
er schlief im Stall im Dunst der Pferde,
wo ihn kein Alb geplagt.

Doch schwangen Röcke, zuckten Beine
beim Tanz der Maiennacht,
war ihm, als ob die Erde weine,
die ihn mit Schorf bedacht.

Als er durch Feld und Wald gestrichen
und kam befleckt von Moos,
ist ihm das Hündchen nachgeschlichen,
die Seele heimatlos.

Er hat es in sein Herz geschlossen,
wieʼs äugte, Köpfchen schief,
es war so treu, stets unverdrossen,
und wachte, wo er schlief.

Doch hat man es ihm weggenommen,
gerecht ist ja das Amt,
er blieb verstummt, als wär verglommen,
was sanft sein Herz entflammt.

Am Abend saß er bei der Linde,
wie macht ihr Duft so krank,
ihm war, als ob man Kränze winde,
für einen, der ertrank.

Wir sahen ihn, als Schnee gefallen,
der Mond stand lilienbleich,
im lichten Flockenwirbel wallen
ins Dickicht um den Teich.

Er ist vom Weg wohl abgebogen,
kam nicht ins Dorf zurück.
Was hat ins Dunkel ihn gezogen,
warʼs Melusinen-Blick?

Den Hut sah man im Wasser kreisen.
War denn sein Herz so leer,
mußt er ins Blütenlose reisen?
Er kehrt nach Haus nicht mehr.

Nur einen Brief hat man gefunden,
fremd wie von Geisterhand,
voll Rätselranken, wirr gewunden,
die kein Gesetz mehr band.

 

Feb 26 22

Bist du es noch

Bist du es noch, bist ganz nicht entsunken,
da es mir schien, im Dunkel der Welt
habe ein Lächeln, ein Blick mir gewunken,
wär es ein Blatt auch, ein buntes, das fällt.

Weht noch ein Atem durch dämmernde Lauben,
wenn auch des Einsamen Haupt beugt Verdruß,
wirft ein Geflatter weißfiedriger Tauben
mir eine Feder zu, hell wie dein Kuß.

Geh ich am Abend bei sinkendem Strahle,
da sich die Blüte rötet im Schlaf,
tropft dem Erstaunten aus mondheller Schale
Glanz aus der Birke, wo ich dich traf.

Fließen durchs offene Fenster aus Gärten
Sommernachtsdüfte, rieselnder Klang,
rinnen die Tränen, weichen die Härten.
Ist es dein Schritt nicht zögernd im Gang?

 

Feb 25 22

Die Schleife

Gesang, will er in Anmut fließen,
bedarf der Verse engend Maß,
daß wir des Wechselschritts genießen,
seufzt unter uns das weiche Gras.

*

O Harmonie des Lebens, Schleife
und kühne Windung, die uns dehnt
und wieder preßt, wie eine reife
Kastanie, die nach Sturm sich sehnt.

Wir werfen Schatten, Marionetten,
an Fäden baumelnd schwanken Lichts,
nichts kann uns vor der Schere retten,
kein Zappeln, Zucken, Seufzen, nichts.

Des Schönen Hort, des Grauens Quelle,
am Tag Geplauder, Schaum und Charme,
am Abend steigt hinan die Welle,
es schwirrt die Nacht, ein Rätselschwarm.

Du liebst ihr Lächeln, liebst die Düfte,
von süßem Blumenwort entsandt.
Kaum faßt sie Ares um die Hüfte,
ist Aphrodite schon entbrannt.

Es wären Früchte, die nicht fallen,
des Baumes Tod- und Fäulnislast.
Des Schöpfers Wort verdunkelt Lallen,
das schlaffe Lid der Iris Glast.

Wie Karst das Wasser, Krieg den Frieden,
schluckt Grinsen den Ikonenglanz.
Hat Gott auch Tag und Nacht geschieden,
die Schlange beißt sich in den Schwanz.

*

Wie in der Dämmerung der Kranke
wehmütig Fenster schimmern sieht,
flicht unser Lied die lichte Ranke
um Herzen, wenn der Tag sie flieht.

 

Feb 24 22

Wenn Schatten an den Ufern schreiten

Wenn Schatten an den Ufern schreiten,
das Schilf im Hauch des Mondes bebt,
fühl ich mich sanft ins Dunkel gleiten,
ein Blatt, das bleich auf Wassern schwebt,
wenn Schatten an den Ufern schreiten.

Wenn Flocken heiße Schläfen kühlen,
die Sonne rinnt, ein Tropfen Blut,
will ich mein Herz ins Dunkel wühlen,
daß Eurydike wärmt noch Glut,
wenn Flocken heiße Schläfen kühlen.

Wenn Engel auf den Zinnen stehen,
ihr Schwert durchblitzt die blaue Nacht,
soll meines Jubels Wappen wehen,
verbrennt es auch im Höllenschacht,
wenn Engel auf den Zinnen stehen.

 

Feb 23 22

Ode auf das Maar

Der Schlaf des Sees verdampfte, ein blauer Rauch,
das Uferschilf erzitterte ängstlich-froh,
als wollte, was wir träumten, weiter-
tragen die Welle zu Schilfrohrsängern.

Doch stieg noch Klang aus anderen Tiefen auf,
Geläut von Glocken silbern im grünen Maar,
und Stimmen wie aus Triton-Muscheln
quollen empor aus den Wasserkrypten.

Wie schön sich stumm zu einen dem Element,
das singt, und seine glänzende Haut mit ein-
getauchtem Antlitz weich zu finden,
sprudelte auch aus dem Abgrund Geysir.

Uns hat im Gras getrocknet der späte Strahl,
umgaukelt dich wie trunkenen Falters Lust
schon Träumerei mit buntem Flügel,
Schlummer sank nieder wie Tau, bis plötzlich

uns Zwitschern aus dem dämmernden Laub geweckt,
es waren wohl verwandelt in eine Schar
von Vogelgeistern hier Ertrunkne,
Irrlichter lockten sie, Röhrichts Seufzen.

Wir aber kamen heim in ein kaltes Licht,
worin die Mücke starrte, Erinnerung,
und welch ein Hauch sie kann beseelen,
wissen wir nicht. Ist es meiner, deiner?

 

Feb 22 22

Ode vom Bleiben

Hier heißt dich milder sinnen das Abendrot,
des Muschelhornes Schimmern im Uferschlamm
und Sanftmut rieselnd Regensänge
über erloschene Blütenblätter.

Auch kommen manchmal Tauben und spähen hoch
vom Dach, sie trippeln hin und zurück, dann stürzt
sich eine kühn herab, schon pickt sie,
was du gestreut hast, die andern folgen.

Und wieder ist es Krokus, der leuchten will,
im Gras noch schüchtern wimpernd Vergißmeinnicht,
und bald mit Duft den Träumer narren
schillerndem Falter sich öffnend Rosen.

Du staunst und lächelst, hier vor dem Tor, noch feucht
vom Schlaf im Dämmer, fühlende Hand hat vor-
getastet, Zweige von Myrten, sprühend,
und was sie sagen, Immergrün weiß es.

So bleib und dulde, wende nicht ab vom Licht
die schwanke Knospe, lockt auch vielleicht die Nacht
mit ihren blauen Schwermutblicken,
müßtest erschauern bei Asphodelen.

 

Feb 21 22

Wo die Bilder verlöschen

Dort, wo die Bilder verlöschen,
ahnst, als wärest du blind,
alles du nur mehr von ferne,
bebend wie Blüten im Wind.
Was wie ein Rinnsal gerieselt,
waren Stimmen im Traum,
die beim Erwachen zerstieben,
du errietest sie kaum.
Dort, wo die Liebe gegangen,
ist gefallen ein Schnee,
dort, wo ihr Schal sich verfangen,
sind die Bäume gefällt,
wurde die Lichtung versiegelt,
die uns Gezwitscher erhellt.

 

Feb 20 22

Besuch beim Knaben Jesus

Was macht denn Jesus heute wohl?
Er füttert, ein Schlaks in Lederhosen,
mit seinem besten Freund Johannes,
dem Lockenkopf mit grünen Augen,
die Lämmer in Papas Gehöft,
das liegt jenseits der weißen Gipfel,
die manchmal wir im Traum gesehen,
auf Bildern auch von Segantini,
durch das vier Bäche munter rieseln,
wo jählings Sonnenschuppen blitzen.
Jesus wollte, Gott bewahre,
nicht der Christ mehr sein, nicht müd
auf majestätʼschem Thron sich fläzen,
sich die Ohren stopfen wegen
blonder Engel Hymnenflatterns,
ach, er kehrte heim zu jenem
biederen Vater, dem Zimmermann,
Joseph gerufen, Spitzname „Jupp“,
der in der Werkstatt summt und sägt,
zierliche Puppenstuben bastelt,
auch sich im Garten Blumen zieht,
Gemüse für die traute Schar
und Kleinvieh auf den Weiden.
Die Lämmer hat er ja am liebsten,
Jesus, doch ihn schreckt die Schur,
die übernimmt ein alter Kumpel,
ein wackrer Bursche, der als Hirte
das Kinn gern bettet auf den Stab,
Peter heißt er, Jesus ruft ihn
neckend „Pit“, wie er, wenn Papa
nicht hinhört, den Freund gern „Johnny“ ruft.
Jetzt gehen sie um den grünen Teich,
der Knabe Jesus und Johannes,
da schwankt in einem Holderbusch
und gurrt die Turteltaube, sind
bald am Stall der Hasen und Kaninchen.
Eines hat’s dem Jesusknaben
besonders angetan, ein kleines,
flockenweißes, das nimmt er kosend
auf den Arm, es immerfort
zu streicheln. Da ruft doch wer
von ihres Hauses Schwelle: „Brotzeit!“.
Es ist Marie, die schöne Frau
Mama. Was gibt es heut? Wie immer
Bauernvesper, Käse, Schinken,
Rösti, für Papa im Steinkrug
Wein, der wächst im eignen Wingert.
Doch sitzt man nicht im Herrgottswinkel,
denn solche Bilder sind verbannt
und schimmern nur im Dunkeln auf,
wenn man aufs Stroh sich lagert, aber
draußen geht ein böser Wind.
Und sind sie satt, so spielt Mama
auf einer Zither, Vater singt
vom Garten Eden, wie’s geschah,
daß jenes edle Menschenpaar
ins öde Dasein ward verstoßen,
wo das Geschlecht noch immer haust,
jenseits der hohen Mauern, arg
verdumpft, verwildert und verroht.
Was kümmert sie’s, den Vater nicht,
noch weniger den Sohn, der einmal
von dem Gesindel einen sah,
der auf der Mauer lag und ihm,
dem Zarten, einen Stein nachwarf.
Jetzt steigt er nach dem Abendbrot
noch in der Dämmerung den Berg
hinan, wo golden Trauben süß
im Tau des vollen Mondes glühen,
den Alten zu besuchen, der droben
als Eremit in einer Grotte
die Zeit vertut mit Briefeschreiben,
Briefe, die keiner liest, denn hier
gibt’s keine Post. Doch sein Jesus
bringt ihm allabendlich, was er
ihm abgezweigt an Brot und Wein.
Paulus heißt der schräge Vogel,
Jesus nennt ihn traulich „Paule“
und zupft ihm hold den weißen Bart,
obwohl er könnte, mag er einfach
nicht entfliegen. Aber zwitschern
kann er wundersam, und so
tiriliert er seinem Freund
Gesänge aus dem Orient,
die sich wie hohe Wolkenzüge
ins Grenzenlose dehnen, und dabei
nickt er meist ein, der Knabe Jesus.

 

Feb 19 22

Poésie fugitive

Äpfel in der Schale, Aprikosen,
gelbe Birnen und von feuchten
Quitten wehmond-falbes Leuchten.
Sommerodem quellend Rosen.

Öffne uns das Fenster, Liebe,
Düften, die aus Gärten wehen,
fernen Rauschens leisem Flehen,
daß die Welle weich zerstiebe.

Wollen lächelnd wir sie singen,
Reime, die im Schlaf verhallen,
Verse, die wie Tropfen fallen,
hell im Laub der Nacht zerspringen.

Hauch der Rosen will ermatten.
Scheint ins Dunkel mich zu ziehen
deiner Tränen sanftes Glühen,
blauen schon die Morgenschatten.

 

Feb 18 22

Hier und jetzt

Marginalien zur Philosophie des Bewußtseins
Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Aus der möglichen Tatsache oder Annahme, daß die Straße nicht naß ist, folgern wir die Annahme, daß es nicht regnet.

Freilich gilt: Regnet es, werden wir naß. Nicht aber: Wir sind naß, demnach regnet es (wir könnten uns gerade duschen). Aber: Wir sind nicht naß, also duschen wir nicht. Doch ist der Schluß von der Annahme, daß wir nicht duschen, auf die Folgerung, daß wir nicht naß sind, ein laienhafter Fehlschluß (wir könnten ohne Schirm im Regen herumlaufen).

Aus der Aussage „Die Rose ist rot“ folgt die Aussage „Also ist sie nicht weiß“; aber aus der Aussage „Die Rose ist nicht weiß“ folgt nicht, daß sie rot ist.

Aus der Aussage „13 ist prim“ folgt die Aussage „Also kann sie nicht in Faktoren zerlegt werden.“ Ebenso: Aus der Tatsache, daß eine Zahl nicht in Faktoren zerlegt werden kann, folgt, daß sie prim ist. Hier handelt es sich um die schlichte Identität der Bedeutungen qua Definition.

Solche typischen Schlußformen im Modus ponens und Modus tollens gelten ungeachtet der Bedeutungen der eingesetzten Wörter, maßgeblich sind nur ihre Definitheit und Identität in Prämissen und Folgerungen: Wenn p, dann q; es sei p: also q. Wenn nicht q, dann nicht p; es sei nicht q; also nicht p.

Wenn wir eine mathematische Gleichung lösen oder uns an die gestrige Begegnung mit unserem Freund erinnern, sagen wir, wir sind uns der Rechenschritte und des Vorgangs der Erinnerung bewußt.

Aber heißt dies mehr als die triviale Aussage, wir könnten, gefragt, was wir gerade tun, darüber Auskunft geben, daß wir rechnen oder uns an etwas erinnern?

Wir waren uns des Rechenfehlers bei der Lösung der Gleichung und der Tatsache, daß wir unseren Freund nicht gestern, sondern vorgestern getroffen hatten, nicht bewußt.

Aber heißt dies mehr als die triviale Aussage, wir könnten, gefragt, was wir da tun, keine Auskunft darüber geben, ob die Rechnung korrekt und die Erinnerung mit den Tatsachen übereinstimmt?

Aus der Tatsache unserer Erinnerung folgt trivialerweise nicht die Tatsache dessen, woran wir uns erinnern.

Sich einer Sache bewußt zu sein, impliziert kein Wissen von ihrer Faktizität.

Bewußtsein birgt kein internes Kriterium des Wahren oder Falschen.

Es gibt kein reines Bewußtsein, es sei denn als philosophische Chimäre; ebensowenig ein reines Denken oder Denken des Denkens.

Wir finden kein internes Wahrheitskriterium für den Unterschied zwischen den Aussagen „Ich denke“ und „Ich träume“.

Oft ist der Gebrauch des Adverbs „bewußt“ ein rhetorisches Beiwerk, das Wort nichts als ein semantisches Füllsel. Denn statt zu sagen: Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß wir rechnen, können wir auch schlicht sagen: Wir führen die Rechnung aufmerksam, sorgfältig oder konzentriert aus.

Allerdings können wir sagen: Wir haben die Rechnung nicht mit voller Aufmerksamkeit ausgeführt (und deshalb ist uns ein Fehler unterlaufen). Daraus folgt, daß die mentale Eigenschaft, die wir mit den Wörtern „bewußt“ oder „Bewußtsein“ meinen, Grade der Abstufung, der Steigerung oder Minderung, zuläßt.

Hier greifen wir (und das war unser philosophisches Ziel) den logich-semantischen Unterschied zwischen einem Wort wie „naß“, „rot“ oder „prim“ und dem Wort „bewußt“.

Wörter wie „naß“, „rot“ oder „prim“ bezeichnen Eigenschaften materieller oder geistiger Objekte wie Straßen, Blumen oder Zahlen, die wir problemlos in die benannten logischen Argumentformen wie Modus ponens und Modus tollens einbauen dürfen, denn ihre Bedeutungen können wir auch bei Verwendung in unterschiedlichen sprachlichen Ausrücken und Kontexten wie Prämissen und Folgerungen als durchgehend konstant ansetzen. Die Eigenschaften materieller und geistiger Gegenstände können wir ihrerseits zu direkten oder intentionalen Objekten von mentalen Vorgängen wie der visuellen Wahrnehmung, der Erinnerung oder mathematischer Berechnung machen, die wir mit einem höheren oder geringeren Grade des Bewußtseins, der Aufmerksamkeit und Konzentration vollziehen.

Aus dem hohen Grad der Aufmerksamkeit, den wir bei einer visuellen Wahrnehmung, einer Erinnerung oder mathematischen Berechnung aufwenden, folgt nicht, daß sie korrekt sind; wir können einer optischen Täuschung erliegen, einer Verwechslung der Identität einer erinnerten Person zum Opfer fallen oder einen Rechenfehler begehen: Die logischen Gesetze, wie wir sie bei der Verwendung von Wörtern wie „naß“ „rot“ oder „prim“ im Modus ponens und Modus tollens vorfanden und die auf der Definitheit und Identität ihrer Bedeutungen in Prämissen und Folgerungen beruhen, gelten im Kontext intentionaler Begriffe wie „wahrnehmen“, „sich erinnern“ und „berechnen“ nicht.

Die Person, die wir gesehen zu haben glaubten, war nicht unser Freund, sondern jemand, der ihm ähnlich sah. Wir vermeinten zu sehen, daß die Straße naß war; aber das Feuchtigkeit suggerierende Glitzern auf der Fahrbahn resultierte aus einer optischen Täuschung. Die semantische Vagheit, Zweideutigkeit und Unbestimmtheit der Begriffe, die wir in intentionalen Kontexten verwenden, ist für mentale Vorgänge, die wir bewußt nennen, konstitutiv. Wir können sie nur ausräumen oder minimieren, wenn wir sie externalisieren, beispielsweise unsere Erinnerung anhand der Befragung unseres Freundes bestätigen oder wie in diesem Falle falsifizieren. – Solche Formen der Externalisierung und Objektivierung von Erinnerungen bilden die Vorstufe und Vorschule für die Entwicklung einer Historiographie, die darauf Anspruch erheben kann, wissenschaftlich fundiert zu sein.

Die rote Rose befindet sich etwa zwei Meter von uns entfernt; der Roteindruck, den sie uns übermittelt, aber ist nicht in demselben Abstand vor uns lokalisierbar, er befindet sich auch nicht unmittelbar vor unserem angeblichen geistigen Auge und schon gar nicht in unserem Gehirn; denn dort finden wir wohl Nervenfasern und Synapsen, denen wir die Erzeugung von Farbeindrücken kausal zuordnen, aber eben keine Farbeindrücke.

In dem Sinne, in dem wir Gegenständen mit objektiven Eigenschaften wie naß oder rot, beispielsweise Straßen und Rosen, einen wohldefinierten Ort in einem geeigneten Koordinatensystem zuweisen, können wir mehr oder weniger bewußten Zuständen wie einem Farbeindruck keinen wohldefinierten Raumpunkt oder Ort zuweisen.

Wir hören, wie der Hörnerklang im Tal verhallt; aber es wäre unsinnig zu sagen, wir hören, wie der Klang in unserem Ohr, unserem Schädel, unserem Innern verhallt.

Einer Rose sprechen wir die auch bei wechselnden Lichterverhältnissen konstante Eigenschaft zu, rot zu sein, während unsere Fähigkeit, ihre Farbe zu bestimmen, je nach den Umständen variiert, denn der Farbenblinde versagt zur Gänze, wer mit dem Ausruf „Schön!“ antwortet, hat den Sinn der Aufgabe nicht verstanden, und wer „Lila“ sagt, ist wahrscheinlich der deutschen Sprache nur unzureichend mächtig.

Natürlich kann die Straße noch teilweise trocken sein, wenn es zu regnen beginnt; aber dort, wo Regen fiel, ist sie eben naß.

Dagegen können wir uns des Rechenfehlers, der uns unterläuft, auch wenn wir verbissen, angestrengt und konzentriert rechnen, nicht im mindesten bewußt sein; oder uns beschleicht, während wir rechnen, das mulmige Gefühl, daß da irgendetwas nicht stimmt.

Rechengenies vermögen komplizierte Rechnungen in großer Geschwindigkeit auszuführen, ohne daß sie sich jedes Schritts und Zwischenschritts vollständig bewußt sind; doch gefragt, wie sie eine bestimmte Multiplikation vollzogen haben, können sie rückblickend beispielsweise auf die Faktorzerlegung bestimmter Zahlen verweisen.

Die Tatsache, daß wir nicht naß sind, impliziert die Tatsache, daß wir nicht ohne Schirm im Regen spazierengehen; aber aus der Tatsache, daß wir uns nicht aller Rechenschritte bewußt sind, folgt nicht die Tatsache, daß wir nicht gerechnet haben.

Der Handballspieler legt mit dem raschen Aufschlagen des Balles und der tänzerischen Pose, mit der er ihn im gegnerischen Tor plaziert, ein Bravourstück aufs Parkett; er wüßte auf Nachfrage allerdings nicht anzugeben, wie oft er den Ball aufgeschlagen oder wie oft er sich abrupt vom Gegner weggedreht hat; doch dieser Mangel des Bewußtseins seiner Einzelaktionen macht ihn noch nicht zum Schlafwandler. – Ertönte dagegen der Pfiff des Schiedsrichters, weil er den Gegenspieler regelwidrig angerempelt hat, wäre er der Situation und seiner daraus folgenden Verlegenheit in hohem Grade bewußt.

Bewußtsein sprechen wir jemandem zu, der halb wach, halb träumend sich vom Strom der Passanten mitreißen läßt und auf den unvermuteten Zuruf seines Namens „Hier!“ oder „Hier bin ich!“ ausruft; ebenso jemandem, der an die Tür seines alten Freundes klopft und auf die Frage „Wer da?“ mit „Ich“ antwortet.

Der mit seinem Namen Angerufene schaut sich nach dem Rufer um; der Gefragte weiß, daß der Freund ihn an seiner Stimme erkennt.

Bewußtsein ist die Eigenschaft des biologisch primären Merkfeldes, auf das jemand mit den Ausrufen „Hier!“, „Hier bin ich!“ oder „Ich“ hinweisen kann. – Es ist nicht unmittelbar identisch mit dem primären Merken und Selbstempfinden, sondern zeigt sich in der Fähigkeit, auf dieses hinzuweisen.

Mit Ausrufen wie „Hier!“ oder „Hier bin ich!“ verweisen wir auf eine spezifische und singuläre Position, die sowohl durch räumliche und zeitliche als auch soziale Koordinaten angegeben oder individualisiert werden kann.

Der Hund, dem sein Herrchen seinen Namen „Fips!“ zuruft, springt auf und läuft ihm freudig entgegen; aber der Hund weiß nicht, daß „Fips“ sein Name ist; und wenn in der Plauderei zwischen seinem Besitzer und dessen Freund von „Fips“ die Rede ist, glaubt der Hund nicht, daß von ihm die Rede ist, und er wird aufgrund dieses Ereignisses weder verlegen sein noch von Stolz geschwellt.

Die Äußerung und der mit ihr verknüpfte Gedanke „Dort bin ich nicht!“ (wenn der Freund versehentlich an der Tür des Nebenraumes anklopft) beruhen auf der Umwandlung der primären Äußerung „Hier bin ich!“.

Könnte der Hund sprechen, vermöchte er auf den Zuruf seines Namens nicht zu antworten „Hier bin ich“; denn auch ihre Umwandlung in die Äußerung und den mit ihr verknüpften Gedanken „Dort bin ich nicht!“ (beispielsweise, wo sein Herrchen im Büro vor dem Bildschirm sitzt) könnte er nicht vollziehen.

Natürlich verfügt der Hund wie jedes mit einem ausreichend differenzierten Nervensystem ausgestattete Tier über ein leiblich bedingtes primäres Merk- und Orientierungsfeld, in den meisten Fällen auch über ein instinktiv geprägtes Wissen von seiner sozialen Position wie beispielsweise vom niederen Rang in einer Gruppe oder Herde. Doch bleiben diese Formen des primären Merkens und instinktiven Wissens gleichsam anonym und vorsprachlich – im Gegensatz zur Leibgebundenheit des menschlichen Merkens und Wissens, wenn wir davon ausgehen, daß die leiblich-geistige Struktur von Homo sapiens auf die Möglichkeit und Fähigkeit angelegt ist, ich sagen zu können und den anderen als alter ego von sich abzugrenzen.

Wir können das, was wir mit den Äußerungen „Hier bin ich“, „Ich“ oder „Bewußtsein“ meinen, nicht in Aussagen zerlegen wie beispielsweise „Hier sind zwei Hände, zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf und der ganze Rest“ oder „Hier ist ein menschlicher Körper“ oder „Hier ist ein Gehirn, das Gehirn steckt in einem Kopf, der Kopf auf einem Rumpf“ oder ähnliche; denn wir müßten zumindest von „meinen Händen“, „meinen Armen“, „meinen Beinen“, „meinem Kopf“ oder „meinem Körper“ oder „meinem Gehirn“ sprechen können; aber die Eigenschaft der „Meinigkeit“ meiner Gliedmaßen, meines Körpers oder meines Gehirns ist keine Eigenschaft meiner Gliedmaßen, meines Körpers oder meines Gehirns.

Ebensowenig können wir, was wir mit „Ich“ oder „Bewußtsein“ meinen, aus mentalen Strukturen wie dem Gedächtnis oder der Reflexion ableiten; denn wenn ich mich daran erinnere, gestern meinen Freund im Park getroffen zu haben, kann ich meiner Erinnerung nicht entnehmen, daß ich es war, der gestern im Park gewesen ist, noch könnte ich mich je im Spiegel erkennen, ohne vorab zu wissen, daß ich es bin, der in den Spiegel schaut.

Ebensowenig ist das Bewußtsein eine kausale Folge der Fähigkeit, „ich“ sagen zu können; ich sagen zu können ist vielmehr ein Indikator dessen, was wir Bewußtsein nennen. Andererseits können wir von einem Geisteskranken, der die Fähigkeit, in angemessener Weise von sich zu reden, eingebüßt hat, nicht annehmen, daß er im Vollbesitz dessen ist, was wir Bewußtsein nennen.

Wenn das Bewußtsein auch keine reine Funktion einer sprachlichen Fähigkeit darstellt, wie wir an vielen Phänomenen vorsprachlich-stummen Selbstempfindens und Bemerkens feststellen, bedürfen wir andererseits einer ausgewogenen sprachlichen Analyse der in diesem Feld verwendeten Begriffe, um zu verhindern, daß wir den semantischen Wald vor lauter exotischen und extravaganten Bäumen nicht mehr sehen.

Ist das Bewußtsein keine Resultante einer wie immer gearteten Reflexion, wirkt auch die Rede von einem präreflexiven Bewußtsein philosophisch ähnlich vage und irreführend wie die Rede von einem dem Bewußtsein infolge von Prozessen der Verdrängung unzugänglichen Unbewußten.

Können wir das Bewußtsein, wie leicht zugestanden, nicht mittels Formen der Reflexion erklären, gehen wir leer aus, wenn wir sie als unzulänglich streichen und das verbliebene Feld nicht positiv, sondern negativ als präreflexiv kennzeichnen.

Auch wenn wir auf den Zuruf „Wo bist du?“ mit „Hier!“ antworten, können wir daraus nicht schließen, das, was wir Ich und Bewußtsein nennen, sei an einem Ort auffindbar, dessen Koordinaten durch diejenigen unseres Körpers konstituiert seien; vielmehr besteht die Funktion des bewußten Daseins umgekehrt darin, die Möglichkeit zu eröffnen, von einem Hier und Dort, einem Vorher und Nachher, einem Gestern und Heute und Morgen, kurz den Dimensionen der erfahrenen Räumlichkeit und der erlebten Zeitlichkeit zu sprechen.

Hier und jetzt zu sein impliziert die Anwendung spezifischer Maßstäbe und Kriterien der Abschätzung und Ermessung der erfahrenen Räumlichkeit und der erlebten Zeitlichkeit, die nicht mit jenen der physikalischen Raum- und Zeitmessung identisch sind (auch wenn deren Entwicklung und Anwendung nicht ohne die ersteren aufgebaut und formalisiert werden könnten).

Unser Erfahrungsraum bemißt sich nicht nach Metern und Kilometern, sondern nach dem Grad der Erreichbarkeit oder Unzulänglichkeit der für unser Leben relevanten und bedeutsamen Gegenstände, Personen und Güter, ob es sich dabei nun um Werkzeuge, Lebensmittel, Nachbarn oder nahe und ferne Freunde handelt.

Unsere erlebte Zeitlichkeit bemißt sich nicht nach Sekunden, Minuten und Stunden, sondern nach dem Grad der Intensität, mit der wir die Dauer des Wartens, die Langeweile des Bummelns und Flanierens oder die halbe Ewigkeit des Bangens oder Schmerzerduldens erfahren.

Unser Lebensraum ist nicht jene Äußerlichkeit, von der wir unser Selbstsein als Innerlichkeit abheben könnten; sondern die uns betreffenden Dinge sind, ohne ihr Eigensein einzubüßen, immer auch Aspekte unserer selbst.

Unsere Lebenszeit ist nicht im Fahrplan des Verkehrsmittels verzeichnet, das wir erreichen wollen, um unserem Freund wie verabredet einen Besuch abzustatten, sondern eröffnet sich uns in der Ungeduld, mit der wir die Ankunft des Zuges erwarten, oder der Kurzweiligkeit der mit dem Freund gepflegten Unterredung.

Wir wissen, daß wir in längerer oder kürzerer Frist nicht mehr da sein werden, und diese unumstößliche Tatsache, unsere Lebenszeit als eine Frist hinnehmen zu müssen, taucht alles, was wir tun und denken, fühlen und sagen, in ein Zwielicht aus Beunruhigung und Besorgnis, dem wir vergeblich im ruhigen Lampenlicht der Lektüre oder dem grellen Scheinwerferlicht des Unterhaltungsbetriebs zu entfliehen suchen.

Die Spinne weiß nicht, daß ihr Netz bald vom Sturmwind herabgerissen wird, der Storch nicht, ob er nach der großen Reise seinen Nistplatz und seinen Partner wiederfinden wird, wir aber wissen mit der Weisheit Salomos, daß unsere Werke auf Sand gebaut und unsere Worte weniger sind als das Seufzen des Winds.

Hier ist nicht der Ort, dem religiösen Heilssinn nachzuspüren. Sind uns aber die großen Heilsversprechen der sozialen und geschichtlichen Utopien und ihre hypermoralischen Kollektivierungsansprüche angesichts des im Albtraum gipfelnden Versuchs ihrer Verwirklichung zuschanden geworden, bleibt uns nur der intime Raum der persönlichen Begegnung und wenn es hoch kommt der Sublimierung und künstlerischen Verfeinerung des eigenen Fühlens und Empfindens, um die uns gewährte Frist nicht gänzlich würdelos, sinnlos und unfruchtbar verstreichen zu lassen.

Es ist besser, eine Vase zu töpfern, in der auf kurze Frist Blumen die Trübsal des Zimmers erhellen, als ein kolossales Monument in der Wüste der Zeit zu errichten, dessen unwirkliche Ruinen am Ende nur noch von Herden müder Tiere aufgesucht werden, um in ihren Schatten zu ruhen.

Gebärde sinnreicher Bescheidung, welche die flüchtige Schönheit des Augenblicks der erhabenen Größe für eine trügerische Ewigkeit errichteter Denkmäler vorzieht.

Wie Schaum auf dem Brunnen der Fontäne zerrinnen die Melodien der mozartischen Serenade, aber ihre Flüchtigkeit ist ein inneres Moment ihrer Schönheit, ein erfrischendes, wenn auch rasch verwehtes Sprühen ihres Charmes.

 

Feb 17 22

Sonnenuntergang

Ein Seufzen tropft im flimmernden Morgenlaub,
die Knospen, die erloschen schienen,
erwachen unterm Flaum der Bienen,
von unsren Herzen rieselt Traumes Staub.

Wir wandeln, summende Schatten, um den See,
wo Schwäne auf den Tiefen schweben
und trunken nach den Strahlen beben,
was wir uns sagen, taut im Hauch wie Schnee.

Geleiten Düfte uns zum Dämmersaum,
wo Astern, Phlox und Veilchen sagen,
daß auch im Dunkel Herzen schlagen,
glüht über uns des Abschieds Blütenschaum.

Es schwingt die Luft von abendblauem Sang,
getränkt vom Odem kühler Quellen,
uns aber tragen Liebeswellen
wie Falter in den Sonnenuntergang.

 

Feb 16 22

Gegenstrebige Harmonie

ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή
παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης
Heraklit (B 61, B 51)

 

Hinauf gehst du, du gehst hinab,
und immer geht dein Schatten mit,
die Rose hat dir kaum gelacht,
schon löst sich ab das Blütenblatt.
Du bist gemischt aus Licht und Wahn,
im Dunkel blüht die Knospe Traum,
im Laub des Traums fliehst du den Strahl.

*

Die Liebe auch, die sanfte Katze,
die schnurrend um das Bein dir streift
mit ihrer Blicke süßen Funken,
entflieht dir in die Sommernacht
zur wilden Jagd, das Ungeheuer,
und wachst du auf, liegt vor dem Bett
ein Mäuschen, das noch zuckt, die Gabe
scharfer Krallen, weicher Tatzen.

*

Das Negativ kann man entwickeln,
und wunders lächelt ein Gesicht,
so auch Erinnerung, den matten
Kiesel, tauchst in den Tau du ihn
des Auges, und zarte Maserungen
leuchten auf, verblaßtes Glück.

*

Fast ohne Spannung ist die Fläche
des leeren Blattes, wie der Schnee,
der weich ins Grau des Himmels schäumt,
tropft aber Tusche schwarze Glut,
zertrennt ein Herzschlag Schlaf und Tat,
sein Lid schlägt auf der Horizont.

*

Auf dunklen Wassers Schweigen schwimmt
das Wort, die Knospe bleichen Schwankens,
die unterm Mond sich aufgetan,
Duft verströmend, namenlosen,
und glitzert es von Morgenhauch,
hat schon die Woge alle Blüten
hinweggeschwemmt wie Schwanenflaum.

*

Es purzeln um die Majestät,
würdevoll im Hermelin,
weich umbauscht von Zofenschleiern,
Hündchen, Äffchen, freche Zwerge,
die ihr in die Waden kneifen,
Unsinn in die Ohren keckern,
quirlig auf die Schultern steigen
und mit einer wächsernen Maske
ihr des Lächelns Glanz verdunkeln,
und die Gnomen und die Schönen
tanzen einen Totentanz.

*

In der Finsternis des Gartens,
wo in schwüler Geisternacht
Oliven an den Zweigen schwitzen,
Honig tropft vom Aronstab,
baumelt schwer von dunkler Schuld
an dem zweiten Baume Edens,
wie der Sünde Hand verdorrt,
der Verräter ewiglich,
während auf der Schädelstätte
segnend strömt das Schöpferwort
Leben aus den Purpurwunden –
wo sie in die Erde tropften
ihre süße Liebesqual,
flammen Rosen, dämmern Veilchen.
Christus küßt Dionysos.

*

Sinn ist uns der lichte Pfad,
den wir durch das Dunkel schlagen,
trunken aber unterm Mond
überwuchert uns der Traum.
Und wenn wir die Beete jäten,
sorgsam winden auf die Rebe,
kriecht der Ampfer auf dem Fuß,
fällt im Rücken schwarzer Tau.

*

Ist Gott Liebe, so auch Zorn,
weiche Form, die wild zerlief,
wird die Töpferhand zerschlagen,
und die hohe, die geriet,
wird er in der Hölle brennen,
gnädig aus den Flammen bergen,
die sein Antlitz milde spiegelt.

*

Wie die Lust ersterbend schluchzt,
hohle Scheite sprühend sinken,
süßer quillt Violenduft,
nächtlich schwirren lichte Mücken,
hören wir das Dunkel weinen,
singt im Traum die Nachtigall.

 

Feb 15 22

Versunkene Amoretten

Vignetten von einem verfallenen Lustschloß in Ostpreußen

Aus den Schatten einer Dornenhecke,
verwildert wie die Dichterseele,
zwitschert es aus kleinen Nestern,
im weichen Zittern roter Blüten
spielt der Wind mit müden Bienen.
Öde liegt der grüne Teppich
eines Rasens, angefressen
und geschwärzt vom Schicksalsstrahl,
um den braunen Schlaf des Teiches,
wo vermodert, wem das Gold
von zarten Schuppen einst geblitzt.
Und der auf dem Marmorsaume
schwankt, von Flechten überwachsen,
Triton scheint zu schlafen auch,
aus dem Muschelhorn, gewunden
wie sanft flehend Liebesqual,
ergießt kein Schaum sich und kein Schluchzen,
und in ihrer trocknen Mündung
nistet jetzt ein Taubenpaar.
Die da auf moosigem Pfad gewandelt,
plaudernd unter bunten Schirmen,
mit Bonmots sich köstlich neckend,
elegante Paare, stolze Frauen,
mit rosa Seidenbändern Hündchen
tollten zwischen ihren Beinen,
und die unter Myrtenlauben sich
auf sonnenwarme Bänke setzten,
Haupt an Haupt im vagen Abstand
eines Kusses, der sein süßes
Zögern wie ein später Falter
taumelnd dunkle Düfte kostet,
und der Musen hübsche Kinder,
in das Abendgrün des Grases
ausgestreckt, den Serenaden
lauschend, die sanft plätschernd
aus den offenen Fenstern wogten –
waren sie nur Traumreflexe
auf dem Schlaf des blauen Wassers,
die mit einemmal verlöschten,
als die Nacht die Lider schloß,
Nacht, auf die kein Tag mehr folgte?
O, die Wahrheit stiert aus leeren
Fensterhöhlen und sie tropft als
matter Tau vom Moos der Simse,
bleiche Knochen läßt sie schimmern,
grinst im Schädel eines Pferdes,
Nest, wo junge Ratten fiepen,
doch die Mähne königlich,
in die ein Mädchen sich gekrallt,
um höher als die Saat zu fliegen,
stieg als Rauch ins Preußisch-Blau
des Himmels. Die Wahrheit, sie zerbröckelt
in algentrüber Dämmerung:
der Amoretten holdes Lächeln,
goldgesäumte Adelswappen
mit dem Einhorn und den Greifen,
schön verzierte Blumenschalen
und die freudig tönten, hohen
Festes Kelche aus Kristall,
von Barbarenhand entweiht,
zerschellt, mit Kot beschmiert.
Zerbrochen sind die Sonnenuhren,
schattenlos die fahle Zeit,
des Spiegels Lustgefäß zersprang,
die Bilder edler Lebenshöhe,
schwermutsanften Seelentums,
von Kugeln rohen Wahns durchsiebt.
Und die sich zart gerankt, Vignetten
auf dem Pergament der Stille,
fraß die Flamme, die nicht singt.
Es geistert noch in Traumgesichten,
Dasein, heiter und sublim,
wie es einst Watteau gemalt,
besungen trunken ein Verlaine.

 

Feb 14 22

Trunkenes Entschwinden

Mit dem Nachttau möchtest du zerrinnen,
der verglimmend heim ins Dunkel kehrt,
Schatten sein auf einem weißen Linnen,
bald vom kalten Glanz des Monds verzehrt.
Noch bevor die Sonne wirrt dein Sinnen,
möchtest mit dem Nachttau du zerrinnen.

Knospe auf dem Wasser willst du gleiten,
leise wogend auf dem Schaum des Schlafs,
deine Blüte soll der Mondstrahl weiten,
beben unter Flügeln des Seraphs.
Wenn am Ufer liebe Schatten schreiten,
Knospe auf dem Wasser willst du gleiten.

Im Gebraus des Stromes willst du münden,
dem sich seufzend schon das Schilf ergab,
dich ins Rauschen goldengrüner Linden
stürzen, hoher Liebe dufterfülltes Grab.
Konntest stilles Fruchtland nirgend finden,
im Gebraus des Stromes willst du münden.

 

Feb 13 22

Glänzender Asphalt

Wie schimmert dunkler Schiefer auf den Dächern,
wenn Wolkenbäuche vor die Sonne drängen
und es in dünnen Fäden regnet, regnet.
Der taube Stoff, in dumpfer Glut ermattet,
taut auf und öffnet hellem Seufzen Poren.
So auch der Kiesel eines schlichten Worts,
wie „Abend“, „Schwester“, „Hand“ und „Stirn“,
von eines feuchten Windes Kuß behaucht,
getunkt ins Rieseln eines klaren Baches,
scheint er die matte und profane Haut
des monotonen In-der-Sonne-Brütens
mit einem Perlmutt-Irisglanz zu tauschen,
wird er zur Muschel eines Verses wie:
„O Abend, kühle schwesterliche Hand,
die sich auf deine heiße Stirn gelegt.“
So trotten wir auf dem Asphalt des grauen,
von jedem grünen Halm entwesten Lebens
und hören kaum den Widerhall der Schritte,
der eignen und der fremden, wie sie zögernd,
wie manchmal herrisch ihr Geklapper Rhythmen
und einer wunderlichen Fuge Kanon bildet.
Doch fallen erste schwere Regentropfen,
wir aber flüchten unter die Arkaden,
besänftigt unser unruhkrankes Herz,
den Zitterfalter im Kokon des Todes,
der lange Blick auf den Asphalt, der glänzt
und glitzert wie von transzendenten Ölen.
Das Plätschern und das Seufzen weichen Wassers,
sein Zischen unter müden Autoreifen,
das Glucksen aus den Träufen der Balkone,
all dies erweckt der frühen Kindheit Bild,
als du an hoher Pforte Schwelle saßest
mit einem Butterbrot auf jenem Schemel
aus Buchenholz, dem mitten auf dem Sitze
war eine Mulde wellengleich zum Griff
gefräst für eine Kinderhand. Du schaust
versonnen wie in einem wachen Traum
die Tropfen auf das Kopfsteinpflaster klatschen,
die mineralisch-zarte Färbung im Basalt
der Fenstersimse, wo Begonien beben,
und wie die Rinne unter deinen Füßen
in Schäumen schwillt und trunknes Wirbeln
um Blätter, Schoten, Pollen, Samenkapseln.
Gar manches gab die Urzeit-Linde preis,
die Ring für Ring um Gottes Odem wuchs,
sie hob vorm Tor der Kirche Sankt Johannes
die große Glorienkrone, spendete
als dunkler Orgelton dem Hochgesang
ihr Rauschen (sie ward dargebracht zum Opfer
des schnöden Kults um blechern-tote Götzen).
Noch siehst du sie im Glanze schauernd,
blickt fern dich ihr geheimes Leben an.
Dann einer Peitsche Knall, die hohe Fuhre
der letzten Mahd biegt schwankend in den Hof.
Der Hund von nebenan, mit schlappen Ohren
sich an die Hauswand drückend, huscht vorbei
und sträubt sein Fell, daß Perlen spritzen.
Weißt du es noch, wie dir die Stulle schmeckte,
hörst du es noch, wie bang die weichen Tropfen
im Dämmerlaub der Müdigkeit zersprangen,
fühlst du es noch, wie hold der Sommerabend
den Duft von Malven in den Schlaf geweht?

 

Feb 12 22

O Feuer, rinn

Wir steigen früh zum Gipfelschnee
ins Stäuben lichter Psalmen,
und abends lockt das Schilf am See,
zu lauschen Klage-Halmen.
Uns nährt das Licht,
das Angesicht,
es blüht und welkt wie Rosen.
O zieh uns, Wort,
in Fernen fort,
daß wir das Reich erlosen.

Wir freuen uns am Purpurlaub,
den Trauben alter Reben,
wir seufzen, wenn wie weißer Staub
die Kraniche entschweben.
Uns stillt der Wein,
wächst dunkle Pein
wie Efeu an den Mauern.
O rausche, Meer,
von Süden her,
daß wir wie Gras erschauern.

Wir pilgern zu der Grabesstatt,
die Kerzen anzuzünden,
wie bleiben die Gebete matt,
wenn sie ins Erdreich münden.
Uns narrt ein Mond,
vom Geist entthront,
er lockt in Zwielichtschneisen.
O Feuer, rinn,
entbirg den Sinn,
daß wir in Frieden reisen.

 

Feb 11 22

Allegorisch

Gewiß, mit Worten malen
ist wie mit Farben sprechen.
Doch können Wort-Vignetten
gemalte unterbrechen.

*

Das Leben ist das Leben,
kann nicht begriffen werden.
Du fühlst es manchmal schweben,
oft kriechen dumpf auf Erden.

*

Das Wort kann ja nicht glühen,
auch wenn es „Purpur“ heißt.
Kein Hauch bringt es zum Blühen,
selbst wenn du „Frühling“ schreist.
Milch von fiktiven Kühen
nährt nur des Lesers Geist.
Doch magst dem Vers du trauen,
siehst du den Himmel blauen.

*

Das Wort hebt an zu schimmern,
schwebt um sein Nachtgespenstern
ein Licht aus frohen Zimmern,
Gesang aus offnen Fenstern.

*

Das Dichterwort ist wie ein Ei,
buntsprenkelig und warm,
dem rauhen Zugriff bricht entzwei
sein geisterfüllter Charme.
Geduldig muß er es bebrüten,
der Liebe weicher Flaum,
bis endlich fiepen zarte Küken,
sehr leise, wie im Traum.

*

Sie hat den Duft nicht, nicht das Prangen
der Schwester, stolz im Gartenreich,
doch hat die wilde Rose schöne Wangen,
auch sie betaut der Sommerabend weich.
Ihr gleicht des Volkes träumerisches Singen,
das wild am Dämmersaum des Waldes quillt
und leicht in weißer Schäume Blütenringen
auf dunklen Wassern Liebeswehmut stillt.
Erhaben, daß die wilden Blüten staunen,
thront sie, die Purpurrose, wie der Gral
der hohen Ode über Grases Raunen,
aus grünem Dämmer leuchtet auf ihr Strahl.

*

Die Rebe des Gedichts nährt süßer Tau
aus heimatlichem Dämmer, und sie rankt
sich leicht empor an fester Maße Bau.
Des Himmels Treue ist es, dem sie dankt,
wenn Beeren schimmern in dem Laub
der Nacht, vom Monde wachgeküßt.
Und blaue Luft wäscht ab den Staub,
daß Reime klingen, frisch, nicht trist,
wenn heiter rinnt ihr Blut ins Glas.
Und wird es rhythmisch rundgeschwenkt
vom Dichter, der die Trauben las,
hat Träume schon der Duft geschenkt.

 

Feb 10 22

Mit dem Abendrot verglühen

Wollest dann am Fenster sitzen,
nur noch in die Wolken sehen,
wirst an keinem Dorn dich ritzen,
leicht mit leichten Wolken gehen.

Keine Zeitung wird dich stechen
mit den Stacheln des Geschwätzes,
magst mit schnöden Geistern brechen,
Spinnen immer leeren Netzes.

Abkehr sei die Herz-Devise,
Pilgertum ins Bilderlose,
zauberhaft die leise Brise,
bringt sie Duft der Himmelsrose.

Wie die Winde Efeuranken
launisch von den Mauern reißen,
sinken eitlen Tags Gedanken,
in die Nacht hinabzugleißen.

Sind es Tropfen, sind es Strahlen,
sanfter küssen ferne Töne,
und in veilchenblauen Schalen
sammeln Sonnen dir die Schöne.

Kannst es öffnen oder schließen,
klopfen an das Fenster Schatten,
mag dich blaue Luft umfließen,
Wunsch und Aber-Wunsch ermatten.

Grünes Blatt stellt keine Frage,
und im Schnee erglänzt die Stille,
Sternenlicht erlöst die Klage,
daß dein Lied ins Dunkel quille.

Den Entrückten letztes Minnen,
mit dem Abendrot verglühen,
wie ein Tau von Blüten rinnen
und im Schoß der Nacht verblühen.

 

Feb 9 22

Abnehmender Mond

Er war behext von diesem Mädchen,
sie war der Mond, der selber sich verzehrt,
die Träne hat die Knospe nicht genährt,
er schwebt dahin, ein Silberfädchen.

*

Der Mond nimmt ab, von Stunde zu Stunde,
das Wasser sickert in die Erde,
dann blüht er auf, der knospenrunde,
wie wogt der Halme Huldgebärde.

*

Ist es Dämmerlicht der Frühe,
sinkt herab die Abendstunde?
Hoffst du, daß die Rose glühe,
bald sich schließt des Tages Wunde?

*

Es locken Seiten wohl im Buch des Lebens
mit zartumrankten Initialen,
wer da geblüht, du fragst es dich vergebens,
der Rest steht leer wie leere Schalen.

*

Ward deine Stimme leiser,
erfror der Hauch, der mich umfing?
Das Fenster, wo dein Schatten ging,
umwuchern dürre Reiser.

*

Im Garten spielen sie wie einst
verstecken, Kinder, die nicht ahnen,
daß du bei ihren Rufen weinst,
denn einsam ziehst du stumme Bahnen.

*
Als müßtest du von Sehnsucht lassen
und mit dem Monde schwinden,
im Dämmerlicht mit Knospen blassen,
die keine Falter finden.

*
Soll das Meer der Höhe blauen,
muß der Geist im Tale weilen.
Sonnentages Wunden heilen,
wenn im Monde Blumen tauen.

*

Voller Mond
im Schnee der Blüten,
Sichelmond,
sie schmolzen hin.

 

Feb 8 22

Geh mit mir ins Abendrot

Komm, geh mit mir ins Abendrot,
wo Falter Schlaf aus Düften trinken,
der Liebe Sehnen ist nicht tot,
wenn Rosen aus den Wolken sinken.

Und liegen wir im hohen Ried,
fühl ich dein Atmen mir umhüllen
das müde Herz, das schon entflieht,
wie Quellen, die ins Dunkel quillen.

Komm, geh mit mir ins Tal der Nacht,
wo auf uns lichte Tropfen fallen,
Gesang hat uns noch zugedacht
das zarte Herz der Nachtigallen.

Und schlummern wir im weichen Gras,
weckt uns ein Läuten, mild-erhaben,
des Engels Ruf, der uns erlas,
noch einmal uns am Licht zu laben.

 

Feb 7 22

Der König und sein Narr

Der Wasserkopf ward König,
der Philosoph sein Narr,
der ihn allmorgendlich
mit frischem Lorbeer kränzt
und Herrscherträume deutet,
doch hinter einer Maske
süffisanten Grinsens.
„Ich träumte von dem Hasen
wieder, der auf dem Thron
gesessen, ja meinem Thron,
sein Fell war purpurfarben,
und seine Löffel ragten
steil auf zum Baldachin.“
„Das bist du selber nicht,
doch der du könntest sein,
wär deine Inbrunst reiner,
würd immerfort nicht glucksen
in deinem Kopf die Brühe.“
Da eilen schon die Schranzen,
aller Scham entblößte,
nackt dem Bett entschlüpfte,
hosenlos enthemmte,
Zwerge, Schrate, Zwitter,
Bübchen, Dämchen, Hündchen,
coupiert und ausrasiert,
um ihren Hals geschlungen
ein Band hortensienblau,
im Anus Büschel schwingend,
Gräser, Mohn und Farn.
Inmitten quillt die Mutter,
ein wogend Ungetüm
aus Schmand und fahlem Fleisch
in kess durchbrochnen Spitzen.
Es knirscht im Knie der Zwerge,
die Schrate knacken Zapfen,
die Zwitter jodeln Oden.
Die Bübchen schwenken emsig
umzwirnter Anmut Schwänzchen,
die Schönen seufzen artig,
den Po der Hoheit reckend,
die Hündchen hecheln Schaum.
„Mir träumte“, spricht Madame,
das Negligé lass lüpfend,
„wie grüne Fluten stiegen
und trugen fort den Thron,
der hehre Kopf des Königs
schaukelte auf ihnen
wie eine lose Boje
und sang zu ihrem Plätschern
ein obszönes Lied,
er wurde klein und kleiner,
verschrumpelte zur Unke,
die eines Hechtes Maul
schwuppdiwupp verschlang.“
„Die Flut“, spricht kühn der Deuter,
entquoll dem Kopf des Königs,
ihr Plätschern und das Lied
sind seiner Muse Wohllaut,
der Hecht ist ihr Gespiele,
Leviathan, der Fresser.“
Da schlägt mit seinem Zepter
der Wasserkopf dem Narren
das kahle Haupt entzwei,
daß eine Schar von Vögeln
zwitschernd ihm entflattert.
Es hebt ein Tanzen an,
ein Zucken nackter Beine,
ein Schütteln falscher Locken,
ein Girren und ein Bellen.
Der König fällt vom Thron,
Madame birgt ihn, er winselt,
in ihres Busens Mulde.
Plötzlich wird es still,
die Entourage erstarrt,
leblose Marionetten.
Der Narr ist auferstanden,
thront unterm Baldachin
und liest bedächtig nickend
in einem goldenen Buch
vom Spiel des Weltenschöpfers
mit einem Ungeheuer
in seines Geistes Tiefen.

 

Feb 6 22

Warum, das weiß ich nicht

Der Finsternis entronnen
stürzt das Licht aus Wolken,
schäumt herab an Zweigen,
kriecht lautlos unter Halmen.

Warum es Augen brauchte,
dem hohen Tag zu leben,
warum Herzen, fühlender
im Abendrot zu beben,
das weiß ich nicht.

Gleich schlanken Wassersäulen,
heißem Stein entquollen,
bäumt sich herrisch auf das Glitzern
für einen Sieg aus Schaum.

Warum Tiere friedlich nahen,
hellen Schlaf zu trinken,
warum klaglos Schatten
blassend darein sinken,
das weiß ich nicht.

Es hat sich Blüten angezündet,
reift in goldenem Tau
an Trauben, Äpfeln, Birnen,
sprüht Grün auf Wassers Samt,
daß Schwäne niedertauchen.

Warum Käfer schwärmend leuchten
in der Dämmerung,
warum sich Augen sehnend feuchten,
spricht Erinnerung,
das weiß ich nicht.

Es glüht im Abenddämmer
Rosenlicht im Schnee,
es strömt das Wort aus Wunden
in reiner Herzen Kelch.

Warum Tränen uns versöhnen,
ist unbewußt ihr Glanz,
warum edles Haupt umschönen
Engel mit dem Strahlenkranz,
das weiß ich nicht.

 

Feb 5 22

Abendlicher Dank

Ich klopfte an des Dichters Pforte,
daß ich lauschte hohem Worte
und von seines Mundes Blume
fiele Tau auf meine trockne Krume.
Doch der Dichter lag gehüllt
in dämmerbleichem Tuche,
das Blatt der Stirn zerknüllt,
die Hand schlaff auf dem Buche,
das er, das ihn nicht ausgelesen,
als wär die Dichtung nur,
Gelispel auf der Spur,
ein Schlaf im Schnee gewesen.

So wandte ich mich um zum Tage,
ob heißer Hauch die Klage
mir von den Lippen wischte,
in das Gemüt, das taube,
des Sommers Natter zischte,
ob’s grünte noch im Staube.
Ich lugte durch Gezweige,
was unverhofft sich zeige.

Dort hüpft zum Kind ein Hündchen,
bringt ihm den Ball, den roten,
in seinem treuen Mündchen,
und legt die Wuschel-Pfoten
ihm auf das Knie gar sacht.
Da hab ich alles es bedacht.

Als sie sich wieder trollten,
und Schäfchenwolken schmollten,
wie Schattenspiel-Figürchen
schlüpften in ein Gartentürchen,
ward mein Heimweh überblaut
von azurnen Veilchen.
Hab noch ein stilles Weilchen
das goldne Abendweben,
süß erlöschend Leben,
dankbar angeschaut.

 

Feb 4 22

Dreiklang

Was tönt die Sonne, mahnt das Licht?
„Ihr könnt euch kindlich wohl verstecken,
ihr mögt euch grämlich-grau vermummen,
mit Masken wappnen das Gesicht
aus Scheu, daß Strahlenbüschel necken,
doch nur, die sich zur Sonne recken,
läßt fade Trübsal nicht verdummen.“

Was raunt das Dunkel, klagt die Nacht?
„Stellt Fackeln auf, wenn Knospen bleichen,
laßt Kerzen auf den Gräbern brennen,
werft Blüten in des Grauens Schacht
voll Angst, daß Schlangen aus ihm schleichen,
es kann die Parze nichts erweichen,
den lichten Faden zu durchtrennen.“

Was seufzt die Gnade, ruft der Christ?
„Euch fließt ein sanfter Strahl aus Wunden,
mein Wort erblüht auf Karst und Steinen,
in seinem Duft zergeht der Zwist.
Wie Ranken, deren Halt geschwunden,
hab ich euch um das Holz gewunden,
wo Licht und Dunkel sich vereinen.“

 

Feb 3 22

Herz so grau

Als Knospen drängten,
in einer Luft so lau,
war mir dein Bild erblüht
an jedem Wegessaum,
und Schatten engten
mein Empfinden kaum.
Ich nahm, was süß betört,
den Duft in meinen Schlaf
und was an Ufern ich gehört,
Flügeln, wieʼs auf Wellen traf.
Nun ist wie ausgeglüht
das Herz so grau,
und meines Wandels Spur
schon bald verweht
auf schneebetäubten Matten.
Ich fühl im Rücken nur,
der immer mit mir geht,
den unerlösten Schatten,
der noch im Traum mich narrt
und einem wilden Tiere gleich
nach einer Quelle scharrt
in einem Wüstenreich.

 

Feb 2 22

Bei geöffnetem Fenster

Machst du hier das Fenster auf,
hörst du weiche Wellen schluchzen,
Flattern aufgescheuchter Tauben,
manchmal auch ein Kind, das ruft,
weil sein Hündchen auf der Suche
nach dem Ball im Dickicht tappt.
Und du siehst die Stille leuchten
in dem grauen Schaum der Wolke,
die sehr langsam weiterzieht.
Überwölbt von Buchenzweigen
gehen Schatten durch Alleen,
doch du hörst die Tritte kaum,
die auf hellen Kieseln knirschen.
Fernhin blaut der sanfte Rücken
des Gebirgs wie eines Riesen,
der zum Schlaf sich hingestreckt.
Und du weißt, du bist nicht einsam,
wenn auch keine Hand sich dir
gütlich auf die Schulter legt,
und sich, ach, kein Liebes löst
aus den Schatten der Passanten
und ein Blütenblatt, sein Lächeln,
sanft vom Abendstrahl gerötet,
dir aus grünem Dämmer hebt.
Du bist eins und du bist alles,
denn die Welt ist dein, das Leben,
wie ein Odem fremd-vertraut,
der mit Tau und Traum behaucht.
Wenn du nun das Fenster schließt,
und nicht weißt, ob du geschaut
wie im Glanz des Teichs Narziss,
bleibt der Hauch im Dunkel nah,
atmet dir Gedächtnis zu,
Bild der Wolken weht dir nach,
sagt ein Seufzen dunkler Wasser,
daß ins Grenzenlose wogt,
was aus engem Brunnen quoll.
Und du siehst, die Lider fallen
schon herab, in fahlen Linnens
Schnee ein Glitzern süßer Tränen.
Und du hörst im Halbschlaf noch
aus des Herzens dunklen Schilfen
heißes Flattern, fernes Bellen.

 

Feb 1 22

Seufzer weiden

Mißliebe zeugt nur toten Schrecken,
nie ward von Geifer Geist umflossen.
Der Liebe Hauch kann Knospen wecken,
ein Herz, das sich vor Gram geschlossen.

 

Wenn wir die scheelen Blicke meiden,
die schöner Blüte Blatt zernagen,
im Dämmergrase Seufzer weiden,
wird bittrer Mund uns nicht verklagen.

Wir beben sanft wie trunkne Schilfe,
wenn Wogen ebben, Wogen schwellen,
und kommt kein Stern uns mehr zu Hilfe,
mag unser Lied die Nacht erhellen.

Wenn wir uns vor den Schlangen retten,
die reiner Einfalt Schlaf umzischen,
uns auf den Flor der Stille betten,
wird Wohlklang sich den Träumen mischen.

Wir rollen uns wie Farngelocke,
den grünen Odem zu umringen,
und schweigt des hellen Engels Glocke,
mag unsers Liedes Nachtquell singen.

 

Jan 31 22

Der Tod der Liebenden

Wenn Schatten um die Lauben sinken,
wölbt schon sich hyazinthenblau
die Nacht, und späte Falter trinken
von bleichen Blüten Liebestau.

Wir wollen nicht mehr aufrecht stehen,
zu trunken atmet Abendhauch,
gleich Tropfen, die ins Dunkel wehen,
zerfließen ineinander auch.

Wie Knospen, die auf Wassern schweben
und wissen nicht von ihrem Tod,
verblich im hohen Strahl das Leben,
schwand hin der Duft im Abendrot.

Und wenn im Nachtwind wir zerstieben,
der Sonne edler Bau zerfällt,
weiß noch ein Mond von unserm Lieben,
der vor den Toten Wache hält.

 

Jan 30 22

Die gerissene Ranke

Was heiter uns die Quellen sangen
in eines Liebesgartens Mai,
klingt wild durchzischelt nun von Schlangen,
erstickt wie des Ertrunknen Schrei.

 

Wie Mondes Dunkelfalter schwanken
um einer Knospe vagen Duft,
durchzittern Herzen Traumgedanken,
wenn sie ein fernes Läuten ruft.

Die Schatten, die aus Nebeln tauchen,
sie fließen in den Dunst zurück,
schon will aus Flammen Asche rauchen,
die uns erwärmt ein schmales Glück.

Wie Tropfen, die an Trauben glimmen
im Scheideblick der Dämmerung,
sind die auf dunklen Wassern schwimmen,
die Blüten der Erinnerung.

Und reckt sich sterngesäumtem Meere
violenblauer Blumenschoß,
stürzt weißer Wicke Schaum ins Leere,
riß Nachtwind ihre Ranke los.

 

Jan 29 22

Feerie

Wolken waren blütenblasse Wangen,
denen Abendsonne Rouge getupft,
aus den Wassern, die ihr Heimweh sangen,
hat die Nixe kess ihr Bein gelupft.

Plötzlich fing der alte Trübsalbläser
zu lächeln an, der Mond, als lila Wicken
ihre feuchten Lippen über Gräser
in sein Blinzeln reckten. Feuer-Mücken,

heitere Totengeister, sprühten Funken
in die Träume Pans, der nackt im Wingert
schlief, die Flöte war aufs Herz gesunken,
doch die Nymphe hat er nicht befingert.

Du und ich, wir waren Turteltauben,
leise gurrend, träg von Feenduft,
das Gefieder und die Flaumenhauben
blähten sich von märchenlauer Luft.

 

Jan 28 22

Die Knospe Schmerz

Wenn wir im grünen Garten Grauen fühlen,
wie vor den Schlangen, die im Grase lauern,
kann sich das heiße Herz ins Heitre kühlen,
wenn Sternenwinde durch den Efeu schauern.

Bisweilen treiben Blüten auf den Teichen,
die uns wohl sanfter Anmut Hände streuen,
in Dunst und Zwielicht müssen sie erbleichen,
die Sehnsucht mag selbst schwaches Glimmen freuen.

Wir wissen nicht, hat Liebe uns geboren,
entsprangen wir dem Kreuze zweier Schatten,
bang hoffen wir zum Dienste uns erkoren,
ein fernes Läuten läßt uns nicht ermatten.

Schnell blaßt, was wir auf kalte Seelen hauchen,
und was wir träumen, ist wie Schnee auf Schwänen,
doch manchmal kann ein stummer Schmerz uns brauchen,
die Knospe, die sich öffnet unter Tränen.

 

Jan 27 22

Schaum des Lichts

Wie Händewinken sinken Melodien,
und was der erste Klang im Herzen hat
erhellt, will mit dem letzten wieder fliehen
ins Dunkel, wie ein ausgerauschtes Blatt.

Wie Schaum des Lichts auf dunklem Wasser
ist leichten Atems hingehauchtes Wort,
auch Blüten hoher Dichtung werden blasser
und dämmergraue Woge trägt sie fort.

Und die an Seufzern sich gerankt, die Rose,
hat ganz sie sich der Sonne aufgetan,
ergreift, manch Liebessiegel sitzt nur lose,
ein Schwindel, rührt der Hauch der Nacht sie an.

Uns aber, gingen traulich wir mitsammen
und unsre Schatten flossen zwei in eins,
wärmt noch das Herz der Gladiole Flammen,
friert auch das Veilchen schon am Mal des Steins.

 

Jan 26 22

Die scheue Muse

Weil des Lebens Disteln stechen,
dichten Bange Flaum,
halten bald die Fühllos-Frechen
Pegasus im Zaum.

Bittre wollen süß verfließen
im Enjambement,
doch kein Könner mag genießen
Honig in Bouillon.

Zwerge klimmen dreist auf Brüste.
Wem? Melpomene.
Schon gefrieren die Gelüste
harsch im Gipfelschnee.

Löser glauben sich die Schreier
mit dem Gossenslang,
doch der hohen Sänge Schleier
wallt schon metrenstreng.

Die mit krummen Rhythmen kämmen
Sapphos Lockenpracht,
wird ein blaues Rauschen schwemmen
in des Orpheus Nacht.

Die wie Mücken sirrend funkeln
auf dem Zeitendung,
wird des Waldes Hauch verdunkeln,
Lied der Dämmerung.

Und die Purpurblüten rupfen
aus des Meisters Kranz,
blassen Zeilen Glut zu tupfen,
tünchen Toten Glanz.

Nur die Verses Duft vermissen,
wenn die Knospe schwillt,
wird die scheue Muse küssen,
Odem, der sie stillt.

 

Jan 25 22

Im Totenreich

Das Dorf der Kindheit lag im Totenreich,
ich ging die alten Gassen hin und wider,
als wäre Gehen eines Schattens Wanken.
Der Vorzeit-Linde volle Krone, einst
ein Spender feiner Würze, warmen Rauschens,
Geschwulst aus nassem Nebel, schmutzig-braun,
der Sonne grünes Fruchtgemach verkommen.
Und alles stumm, kein Widerhall von Schritten,
als könnte eines Schattens Huschen hallen,
kein Hahnenschrei, denn keine Frühe flammte,
kein Brüllen einer Kuh, es schwoll kein Euter,
kein Lamm, das blökte, und kein Hirt, der sang,
kein Vogelruf, die Nester waren leer,
und keine Glocke pries, es war kein Heil.
Und keines Lebens Odem hat die Stille
behaucht mit Seufzen, und kein Angesicht,
dem sich die Lider aufgetan zum Gruß
des süßen Lichts, es blüht hier trügerisch
den Nächten nur die Asphodele Mond.
Und war kein Fenster, wo ein Schimmern
getreue Hand dem Honigschmelz entfacht,
die Stiege dem Verlorenen zu weisen.
An den basaltenen Wänden rannen Tränen,
wie Onyx schwarz und purpurn wie Rubin.
Am Haus der Ahnen war ein Brandmal düster
das bunte Fresko von des Meisters Hand,
und statt der Huld der Himmelskönigin,
der einer Flora gleich der blaue Mantel
geflattert über schlichten Bauernkörben
voll Ähren, Trauben, Kirschen, gelben Birnen,
hat dort ein Dämon schwarze Lederflügel
mit Krallen einer Fledermaus gehüllt
um einen Berg von Aas und bleichen Knochen.
Ich bog den alten Weg ums Kirchenschiff,
o Wrack an unbewohnten Eilands Ufer,
und sah den Hund des Küsters, dem ich oft
das krause Fell mit meinem Kamm geglättet,
da lag er reglos auf der Schwelle, freudig
kam ich ihm nah, ob er mich noch erkenne,
doch hob er nicht den Kopf, hat nicht gewedelt,
und als ich kindisch-blind nach ihm getastet,
griff ich ins Leere und das Bild zerfiel.

 

Jan 24 22

Wartʼs ab

Verzwergung der sorgenden Väter.
Verhöhnung der selbstlosen Mütter.
Das Wort, wie es riecht nach Urin.
Wartʼs ab, ein paar Possen später
knien die großen Zerrütter
vorm thronenden Harlekin.

Zerbrochen die Himmelsleiter.
Dem Engel zerschnitten die Flügel.
Das Wort, ganz erloschene Glut.
Wartʼs ab, ein Consilium weiter
entfernt das Kreuz man vom Hügel,
es mahnte an Opfer und Blut.

Nach hinten gesetzt die Gescheiten.
Und vorne, da lümmeln die Blöden.
Das Wort, nur ein Phrasengedresch.
Wartʼs ab, in beschworenen Zeiten
wird deutscher Geist ganz veröden
in trübem Gesinnungsgewäsch.

Die unten und oben vermischen,
aufs Reinentsprungene scheißen,
ihr Wort ist nur Jahrmarktes Tand.
Wartʼs ab, bis Erinnyen zischen,
die schnöden Herzen zerreißen,
am Horizont schwelt schon der Brand.

 

Jan 23 22

Der Dienst

Du wolltest dienen, eignem Traum entsagen,
verehren, was dir unerklärlich scheint,
ein reines Antlitz, das dir mild aus Lauben
der Abenddämmerung entgegenschwebt,
dem alles Tierisch-Maskenstarrende
ward abgewaschen in azurner Flut.
Du wolltest dich im Farngrün kühlen Schweigens
zusammenfalten, Wortes eitlen Tau
verdunsten lassen hohen Wunderstrahl,
worin die Schattenmücke Seele zittert
und nichts mehr kennt als sich zu Tode summen.
Sind nicht die blauen Wappen ihrer Flügel
schon ganz verblasst wie der Hortensie
erschlaffte Lider, daß sie schlafen kann?
Und war dein Tag nicht eine zweite Nacht,
in der statt Sternen fremde Augen zuckten,
ein fahler Mond die Liebe niedersank
in Wälder, gefiederten Gesangs entwöhnt?
Die bleiche Sehnsucht hat mit deinem Kummer
nur ein Gespenst gezeugt, dem anmutlos
verwachsene Glieder nicht zum Tanze taugen.
Und wirbelt unter Kinderpeitschen es ein Hund,
im Kreis, füllst du den Napf, damit die Zunge
sich Milde schlürft, bis Gras umschäumt den Schlaf.
Sein Antlitz knittrig wie ein welkes Blatt,
und keine Hoheit leuchtet aus den Fetzen
des Pilgers, der auf deiner Schwelle harrt,
er kam vom schwarzen Maar und sucht den Pfad
zur blauen Bucht, das dumpfe Herz zu ritzen
mit den smaragdenen Dolchen scharfen Lichts.
Hast gleichwohl ihm, der dir den Atem nahm,
der wie ein Bettler am Eisengitter wähnt,
der Duft erträumter Rosen wehe an,
hast du den dürren Zweig der Hand berührt,
die ungeküßte, die verknöcherte,
den Zögernden geführt an deinen Tisch,
das Brot des Worts mit ihm zu teilen, im Wein
Erinnerung zu gießen in tönende Schalen?
Hast den Verband du ihm gelöst, den blut-
verkrusteten, und ihm gesalbt die Wunde,
die Wunde, die in deine Nacht geleuchtet
wie eines Rätsels Purpurblüte schön?

 

Jan 22 22

Ich küsse deine Hände

Ich küsse deine kleinen Hände,
ich küsse deine weichen Wangen,
dich schrecke nicht das Weltenende,
die Quellen ehre, die uns sangen.

Wir müssen nicht ins Blaue reisen,
auf keine Hügel keuchend klimmen,
du kannst in meinen Reimen kreisen,
in deiner Augen Blau ich schwimmen.

Und find ich, wenn mich Strahlen stechen,
in deinem Haar die Schattenlaube,
mag Schimmern wie durch Ranken brechen,
mag gurren mir die Turteltaube.

Wir müssen nicht groß Worte machen,
das Ungemeine nicht beschwören,
du kannst dem Schweigen Glut entfachen,
an deiner Brust den Quell ich hören.

 

Jan 21 22

Verfallene Waldkapelle

Mondweiße Muschel, überlassen
vom Gischt erloschner hoher Flut,
barocke Schnörkel, die verblassen,
du hülltest Herzen in Perlmutt.

Gesprungen die basaltne Schwelle,
von grüner Andacht Moos gekrönt,
verschollen liegt die Waldkapelle,
die Muschel, die einst hell getönt.

Marien ist der Sternenknabe
verdunkelt auf dem Blumenschoß,
floß lächelnd ihm die Gnadengabe,
das Zwielicht legt die Trauer bloß.

Bisweilen rupft ein Lamm Ranunkeln,
die Flimmerglanz aus Ritzen rief,
die Augen eines Kauzes funkeln,
der tags im Tabernakel schlief.

Der Hymnen Glut, die Rosen färben,
hat blauem Weihrauch sich vermählt –
mag sie im späten Vers nicht sterben,
wenn Schwermut auch sich Mohn erwählt!

 

Jan 20 22

Vertane Gnaden

Als löste sich im launischen Winde
der Schwermut müd geglühtes Blatt,
als schwebte eine Hand gelinde
und striche dir die Runzeln glatt.

Wie soll dich leiser Hauch erreichen,
umschanzt von Mauern wie im Grab,
wie eines Engels Huld erweichen,
wer eitlem Grübeln sich ergab?

Als tauten heiße Vogelstimmen
aus Nebeln weichen Glanz aufs Gras,
als küsste dich ein süßes Glimmen
von Rosen, rot im grünen Glas.

Wie könntest freiem Sang du lauschen,
braust selbstisch Blut dir nur im Ohr,
wie Rosen mit dem Mohn vertauschen,
den Trübsal dir zum Trost erkor?

 

Jan 19 22

Apfelbaum im winterlichen Maifeld

Erinnert sich der Blick,
schenkt uns das Bild Erkenntnis.

Der Einsame des Winters reckt
des Wachstums starren Sinn
zum basaltenen Firmament,
die Mumie erstickten Schreis.

Der Apfelbaum ist alt
und knöchern seine Finger,
doch träumt im Wurzelstock
noch dunkel Lebenssaft.

Gestalt ward er des Schicksals,
das mit der Sonne sang
und zürnte mit dem Wind,
der seine Lust gekrümmt.

Doch denk der Anmut auch,
da lauer Hauch die Blüten
dir auf die Schultern blies,
des Glückes warmen Schnee.

Er hat mit seinem Schatten
des Sommers Mittagsstille
um deine Angst gebreitet
für einen heißen Schlaf.

Und sternenkalte Nacht
gab herbstlich dir ein Glühen,
von goldenem Laub umhüllt,
die reife herbe Frucht.

 

Jan 18 22

Die Ferne nah

Schleier in der Morgenfrühe,
ausgeseufzter Dunst,
daß Rose aus dem Feuchten glühe,
streift sie ab die Kunst,
wenn sich die Knospen schließen,
wollt wieder uns umfließen.

Mond erblüht an grauen Gittern,
Lilie trügerischen Lichts,
an dürrem Halm erzittern
Tropfen süßen Nichts,
wenn den Vers sie feuchten,
mag Mohn im Dunkel leuchten.

Weich geschwungene Schale,
umrändert vom Mäanderband
goldgetupfter Male,
birgst von ihrer Hand
gestreute Blütensterne,
nah ist uns die Ferne.

 

Jan 17 22

Verse über Verse

Nur wer den Blick kann wenden
vom Stern zur dämmernden Schwelle,
vom Abgrund in die Morgenhelle,
wird kundig das Gebild vollenden.

*

Wen viele Seelen tragen
vom Dunkel in die Bläue,
so stürmische wie scheue,
wird manches Wahre sagen.

*

Wer gebannt nur auf ein Bildnis stiert,
sommerpralle Knospe, Locke wintergrau,
blutbeträufte Klaue, Glanz im Sonnentau,
hat den Vers um einen Fuß kupiert.

*

Trakl singt den tiefsten Schmerz der Nacht,
und sein Mond glänzt kalt wie Elfenbein,
doch das wilde Herz Rimbauds, es lacht,
opfert er sein Blut vorm leeren Schrein.

*
Dichterworte sind nervöse Mücken,
die auf Kehrichthaufen fremder Seelen
funkeln, oder Falter, die entzücken,
wenn sie süßen Glanz aus Wunden stehlen.

*

Talmi-Dichter fuchteln mit Pistolen
die wie echte Verse golden schimmern.
Der Geliebten haben sie befohlen,
nackt aufs Podium zu steigen,
sich die Locken aus der Stirn zu streichen,
unerschrocken in den Lauf zu blicken.
Die Voyeure rings im Saal erbleichen,
hören sie fatale Schüsse knallen,
die Getroffne muß die Brust sich halten
und dann elegant zu Boden fallen.
Selbst die schrillsten Epigonen
schießen nur mit Platzpatronen.

 

Jan 16 22

Wechsel der Töne

Wie peinlich, wieder aufzuwachen
in einer grauen Dämmerung,
wo deiner selbst die Spatzen lachen,
daß dir erlahmt des Lebens Schwung.

Wie schön, im Grase aufzuschlagen
das Auge, noch von Träumen naß,
wenn Strahlen blauen Sommers sagen,
daß deine Wange noch zu blaß.

Wie gräßlich, sich umwickelt finden
von Spinnenfäden fremden Worts,
in ätzendem Geschling sich winden,
in Wirbeln eines kahlen Horts.

Wie lieblich, wandeln über Auen,
wo Traumduft um die Knospe schwingt,
dir Anmut gießt der Blick von Frauen
ins Herz, daß es von Liebe singt.

Wir sahen, wie die lichte Schöne
durch abendliche Schilfe glitt.
Die Seele wechselt ihre Töne,
doch schweigt sie, wenn sie zu sehr litt.

Der Meister kann ein dumpfes Stöhnen
verwandeln in den Vers, der gleißt,
doch Maß und Unmaß nicht versöhnen:
die überspannte Saite reißt.

 

Jan 15 22

Treuezeichen

Wie warm das mädchenschmale Fenster strahlt,
dem Wandrer in der Nacht ein Treuezeichen,
wenn zarter Umriß sich im Rahmen malt,
mag ihn der Liebe Schattenbild erweichen.

Wie blumenbang das weiche Wasser schäumt,
die kleinste sei der Knospen, dort zu schwimmen
auf scheuem Glanz des Abends, und dir träumt
von Blicken sanft, als würde Sanftmut glimmen.

Und stehst du stumm am bleichen Marmorstein,
wo Moose schon den edlen Namen flecken,
hörst du zwei Spatzen wild ins Blaue schrein,
die auf dem Totenmal sich schnäbelnd necken.

 

Jan 14 22

Beschwörungen vor dem Abgrund

Wer meißelt schimmernd transparente Schläfen
aus grauem, schon bemoosten Stein?
Wer setzt, daß uns erweckend Blicke träfen,
ihm Augen in die Höhlen ein?

Du bist es, Träumer, nicht mit schlaffen Nerven,
dem Schwermut tropft der wilde Mohn,
du bist es, Künstler, dem die Sinne schärfen
des Meeres Salze, Proteusʼ Sohn.

Wer reinigt uns in weißen Sühneflammen
die Poren und das Inkarnat
des Worts von Schorf und eklen Schlammen,
wer beizt den Schandfleck vom Achat?

Du bist es, Priester, nicht in Talmilappen,
der Gottes Wein ins Leere gießt,
du bist es, Dichter, mit dem Lilienwappen,
dem Milch und Blut in Versen fließt.

 

Jan 13 22

Mit halbgeschlossenen Lidern

O Sonne, raff den Schleier nicht,
wir wollen nackt die Welt nicht sehen,
noch dämpft von unten uns das Licht
ein Seufzen und ein dunkles Wehen.

O Wasser, riesle uns nur mild,
wir wollen nicht ins Rauschen tauchen
den Schmerz, den nur ein Lied uns stillt,
das Lippen leiser Sanftmut hauchen.

O Knospe, öffne dich noch nicht,
uns soll die Wehmut nicht verstören,
an trunknen Bildern der Verzicht,
wenn deine Düfte sie beschwören.

O Lerche, steig noch nicht empor,
dein Jubel macht den Himmel blauer,
wir lauschen noch im Dämmerflor
dem Nachtigallensang voll Trauer.

 



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