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Auf den Spuren der Vernunft IX

01.08.2014

Wir sahen, dass Wahninhalte nicht unvernünftig sind, denn sie wurzeln als basale Inhalte unserer Befürchtungen, Wünsche und Hoffnungen in der Struktur unserer Lebensform. Patienten, die diese Inhalte zu Zwecken ihrer Handlungen machen, können wir verstehen, indem wir ihre intentionalen Zustände, eben Wünsche, Ängste und Absichten sowie die aus ihnen gemäß dem Schema der praktischen Vernunft folgenden Handlungsvollzüge verstehen. Wir können dies aber nur unter der Bedingung, dass wir solche Patienten und Wahnkranke als vernunftbegabte Personen ansehen: Sie mögen unvernünftig handeln und uns unvernünftig erscheinen, doch sind sie nicht vernunftlos.

Wenn jemand Nachstellungen befürchtet und sich von Feinden verfolgt weiß, denen er sich unterlegen fühlt, und aus diesem Grund Vorkehrungen trifft, die Nachstellungen zu umgehen und den Verfolgern zu entrinnen, handelt er nach einem allgemeinen Schema der praktischen Vernunft, das besagt: Wenn du von übermächtigen Feinden verfolgt wirst, suche ein sicheres Versteck auf. Der springende Punkt ist natürlich, dass der Betroffene diese allgemeine Regel ohne Hinzunahme einer weiteren speziellen Regel im gegebenen Fall anzuwenden weiß.

Wir unterstellen unseren Mitmenschen, auch Wahnkranken und Psychotikern, Personen wie wir selbst zu sein und so zu denken, zu fühlen und zu handeln wie wir selbst. Dazu gehört auch die Unterstellung, normalerweise und durchschnittlich vernünftig denken und handeln zu können, das heißt, über die Fähigkeit und Disposition zu verfügen, Gedanken aus wohlbestimmten Gründen als wahr anzunehmen und Handlungen aus rationalen Motiven zu vollbringen, um damit lebensdienliche Zwecke und Ziele mit geeigneten Mitteln herbeizuführen.

Um nonverbale oder sprachliche Mitteilungen von Personen verstehen zu können, müssen wir ihnen unterstellen, uns etwas mittteilen zu wollen. Denn stünde ihnen nicht frei uns zu sagen, was immer sie uns sagen wollen, sondern wäre ihre Mitteilung eine unmotivierte und unabsichtliche Kundgebung wie das Plätschern von Wasser, würden wir das Gehörte nicht als informationshaltige Äußerung akzeptieren.

Mit der Äußerung „Schau mal, da kommt meine Tante Grete!“ willst du mich auf das Herannahen deiner Anverwandten aufmerksam machen. Ich gehe davon aus, dass du glaubst, was du sagst, und also dass es sich wirklich um deine Tante handelt, anders würdest du mich – aus welchen Gründen auch immer und solche Gründe könnte es ja geben – anlügen wollen. Aber auch wenn du glaubst, was du sagst, kann der Satz „Da kommt meine Tante Grete“ falsch sein, denn du könntest dich irren, weil du deine Tante über Jahre nicht gesehen hast und die andere Frau deiner Tante verblüffend ähnlich sieht.

Wenn uns beiden aber die Tatsache bekannt ist, das deine Tante schon vor Jahren verstorben ist, könnte ich dir nicht unterstellen, mich belügen noch die Unwahrheit sagen zu wollen. In diesem Falle sprechen wir von einer wahnhaften oder psychotischen Personenverkennung. Das Charakteristische der wahnhaften Mitteilung besteht darin, dass die vernünftige Basis symmetrischer Zuschreibungen von Intentionen zusammengebrochen ist. Daher der für die Krankheitssymptome typische Eindruck des Unverständlichen und Unbezüglichen. In normalen Fällen berücksichtigen wir manchmal Ausnahmefälle hoher Unwahrscheinlichkeit und gravierender Täuschungen und Irrtümer. Im Krankheitsfalle ist uns meist ohne Weiteres merklich, dass die Grenze des gerade noch Wahrscheinlichen überschritten ist.

Eine spezifische Fehldeutung von Intentionen nonverbaler und verbaler Art finden wir bei allen wahnkranken Patienten, nämlich die Ersetzung des eigentlich gemeinten Bezugsobjekts oder Referenten durch die eigene Person (Eigenbezüglichkeit): Was in der Zeitung über wen auch immer steht, was im Radio oder Fernsehen von wem auch immer gezeigt oder über wen auch immer geschrieben oder gesagt wird, all das meint je die eigene Person, und dies meist geprägt von einer feindseligen und paranoiden Wahnstimmung.

Oft bezieht sich die fehlgedeutete Äußerung auf den thematischen Hintergrund der Erkrankung: Wer sich wegen vorgeblicher oder tatsächlicher sexueller Fehltritte in der Vergangenheit heute beobachtet oder verfolgt wähnt, bezieht den Zeitungsbericht über die außerehelichen Affären des Schauspielers oder den TV-Report über die pädophilen Übergriffe des Lehrers auf sich selbst und geht felsenfest davon aus, dass nunmehr alle Welt über sein schmutziges Leben im Bilde ist.

Eine andere spezifische Fehldeutung bezieht sich auf das Vorkommen nichtintentionaler Phänomene, die konsequent und willkürlich als intentionale Äußerungen und Kundgaben gedeutet werden: Risse in der Mauer, ein blinkendes Licht in der Ferne, das Hupen von Autos, Hundegebell, der Klang von Glocken, das Schreien eines Kinds, jemand tritt dem Patienten versehentlich auf den Fuß, schnäuzt sich oder kratzt sich in seiner Gegenwart, stößt ihn an, blickt unter sich, seufzt oder zuckt mit dem Augenlid – all dies und manches andere wird intentional-eigenbezüglich als intentionale Mitteilung an die eigene Person gedeutet.

Die Krankheit zeigt demnach nicht die teilweise oder vollständige Einbuße der Fähigkeit, nonverbale und verbale Kundgaben auf ihren intentionalen Gehalt hin zu befragen und deutend aufzuschließen. Vielmehr ist der Psychotiker im akuten Prozess der Fähigkeit beraubt, das pragmatische Feld zu identifizieren, in dem die Kundgaben ihre kontextuell individuierte Bedeutung aufbauen: Öffentliche Medien sind nur in seltenen Fällen das pragmatische Feld, in dem die Mitteilungen nach der Devise „tua res agitur“ ihre Bedeutungen erhalten.

Interessant ist die Neigung von Patienten, nichtintentionale Phänomene mit symbolischem Gehalt aufzuladen – eine Neigung, die uns in der Dichtung bis zu Goethe und Baudelaire begegnet, aber auch in den kultischen Handlungen und künstlerischen Hervorbringungen der frühen Völker. Aber noch in den klassischen Zeitaltern deuteten die Priester der Griechen aus dem Rauschen der Eiche von Dodona und die der Römer aus dem Vogelflug. Tatsachen dieser Art sollten unser pragmatisch-skeptisches Misstrauen gegenüber Theorien beflügeln, die von einer fugenlos-dichten Grenze zwischen intentionalen Kundgaben und kausalen Phänomenen ausgehen.

Wir konstatieren zwei wesentliche Merkmale der Begriffe „Vernunft“, „vernünftig“ und „rational“: Sie sind nicht deskriptiv, sondern dispositionell und präskriptiv: Sie beschreiben keine kontinuierlich-stabilen Eigenschaften von Personen, wie die Eigenschaft blond zu sein oder 1,68 m groß, sondern Fähigkeiten, wie die Fähigkeit, Fahrrad oder Auto fahren oder lesen zu können; und sie beschreiben keine Fakten, wie das Faktum, einen bestimmten IQ zu haben, sondern Normen oder Vorschriften, wie die Norm, nicht nur intelligent zu handeln, sondern seine Intelligenz möglichst produktiv und relevant einzusetzen – und nicht ausschließlich darauf zu verwenden, Kreuzworträtsel zu lösen.

Aufzuspüren und zu analysieren, mit welchen Methoden und raffinierten Techniken einen Verfolger überwachen und kontrollieren, mag des Einsatzes eines nicht geringen Maßes von Intelligenz bedürfen, vernünftig ist es nicht, wenn die Feinde imaginär oder die vermeintlichen Verfolger harmlos sind.

Lebloses für lebend zu halten und Verstorbene am Wegrand zu begrüßen, widerspricht den begrifflichen und kognitiven Bedingungen dafür, dass wir Begriffe von Dingen und Personen sinnvoll und bedeutungsvoll verwenden. Die Enthüllung der Absurdität der erwähnten Aufforderung „Schau mal, da kommt meine Tante Grete!“ legt eben diese basalen Bedingungen unserer Art, vernünftig zu reden und zu handeln, offen.

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