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Die Eigenschaft, Gedanken zu haben

10.01.2017

Ein Beitrag zur Philosophie der Subjektivität und zum Tier-Mensch-Unterschied

Die Eigenschaft, Gedanken zu haben, ist das semantische Faktum, das unsere menschliche Eigenart bestimmt.

„Geben Sie mir 100 Gramm von der Wurst!“, sagt der Käufer zu der Wurstverkäuferin, indem er mit dem Finger auf die gemeinte Wurst in der Theke weist. Die Bedienung tut, wie ihr geheißen, und der Käufer erhält das Gewünschte.

Der pragmatische Anschluß von Reden und Tun, Sprache und Wirklichkeit, geht hier stracks über die schmale, aber tragende Brücke eines direktiven Sprechaktes; dabei ist der Sprecher durch seine Rolle als zahlender Konsument legitimiert und autorisiert, seiner Rede das wirksame pragmatische Gewicht zu verleihen.

In der Extremform der direktiven Aussage, dem Befehl, springt der pragmatische Anschluß unmittelbarer ins Auge: „Feuer frei!“, vom befehlshabenden Offizier zum Erschießungskommando geäußert, hat den Tod einiger Menschen zur Folge – auch in diesem Falle ist die Legitimität kontextabhängig in der Stellung des Befehlshabers gegenüber den befehlshörigen Soldaten gegeben.

Wir bemerken allerdings, daß in der direktiven Aussage eine deskriptive enthalten ist: Die Aufforderung an die Verkäuferin impliziert den Satz „Dort liegt eine gewisse Menge von Wurst“; der Befehl des Offiziers impliziert den Satz: „Hier halten Soldaten schußbereite Gewehre in Händen.“ Beide Sätze müssen wahr sein, wenn ihre Umformung in direktive Aussagen sinnvoll sein soll.

Wir schließen aus diesem Befund, daß der pragmatische Anschluß von Sagen und Tun den semantischen Anschluß von Sprache und Wirklichkeit zur Voraussetzung hat. Die Aussage „Geben Sie mir 100 Gramm von der Wurst!“ hat die Möglichkeit der Aussage: „Sie gibt ihm 100 Gramm von der Wurst“ zur Voraussetzung; denn könnte die Verkäuferin nicht die 100 Gramm der Wurst aushändigen, weil dort keine Wurst der gewünschten Art oder gar keine Wurst läge, wäre die Aufforderung an sie, es zu tun, sinnlos.

Worauf wollen wir hinaus? Darauf, zu erweisen oder zu belegen, daß sprachliche Bedeutung nicht auf ihre pragmatische Verwendung reduziert werden oder aus ihr erklärt und abgeleitet werden kann.

Denn wir können die pragmatische Sprachverwendung durch einfache Umwandlung der deskriptiven oder konstativen Sprachverwendung erzeugen, indem wir die Aufforderung als einen Sachverhalt angeben, der bestehen soll, und die Erwartung, die Hoffnung und die Befürchtung als einen Sachverhalt, der bestehen wird. Wenn wir mit p! meinen, p solle geschehen, ist augenscheinlich, daß wir vom Gedanken, daß p, ausgehen.

Sprachliche Bedeutung ist der Inhalt oder Gehalt eines Satzes oder einer satzförmigen Struktur. Der Inhalt eines Satzes ist der Gedanke, den er ausdrückt. Die Bedeutung oder der Gehalt ist nicht die Vorstellung von einem Objekt wie die Vorstellung des Kunden von der Wurst, die die Verkäuferin ihm geben soll. Der hier zugrundeliegende Gedanke ist der Gedanke, daß die Wurst dort (in der Theke) liegt. Wir können die Form des Gedankens also in dieser Weise aufschreiben:

der Gedanke, daß (dies und das so ist)
oder kurz:
der Gedanke, daß p

wobei wir p als Aussage formulieren, wie die Aussage: „Dort liegt Wurst.“

Der Begriff „Gedanke“ ist schließlich nur ein Kürzel für den Ausdruck „Ich denke, daß es so etwas gibt“ oder „Ich bin mir der Sachlage bewußt“ oder kurz „Ich meine, daß p“.

Gedanken zu haben heißt demnach, zu glauben, daß etwas so ist, wie es zu sein scheint, auch wenn es nicht so, sondern anders sein könnte oder anders ist, wie in dem Falle, daß die Wurst nicht in der Theke liegt oder daß keine Wurst, sondern etwas anderes in der Theke liegt. Das wäre der Fall, wenn die Verkäuferin auf die Aufforderung hin erwiderte: „Tut mir leider, das ist keine Wurst“ oder: „Tut mir leid, aber das ist keine Wurst, sondern Schinken.“

Der Gedanke und der ihn ausdrückende Satz p, daß etwas so ist, wird in diesem Falle konfrontiert und sogar falsifiziert durch den Gedanken und den ihn ausdrückenden Satz –p, daß es nicht so ist.

Es ist augenscheinlich, daß unsere Gedanken und die sie ausdrückenden Sätze nicht dem unmittelbaren Kontakt mit der „Wirklichkeit“ ausgesetzt sind, was immer das heißen mag, sondern jeweils mit anderen Gedanken und den sie ausdrückenden Sätzen konfrontiert werden, die sie bestätigen, widerlegen oder ergänzen.

Warum stehen unsere Gedanken nicht in unmittelbarem Kontakt mit der Wirklichkeit? Weil Gedanken Sachverhalte oder semantische Strukturen repräsentieren, während die Wirklichkeit überhaupt nichts repräsentiert und daher auch nicht aus gedanklich gegebenen Sachverhalten besteht, sondern aus physischen Objekten und Ereignissen.

Wir ersehen dies daraus, daß ein bestimmtes Objekt wie diese Menge Wurst als repräsentierte Komponente in verschiedene Sachverhalte eingehen kann, selbst aber dabei als materielles Objekt unverändert bleibt. Denn wir können feststellen, daß diese Menge Wurst 100 Gramm wiegt, daß sie 1,20 Euro kostet, daß sie durch Kauf den Eigentümer wechselt, daß sie zuerst in der Wursttheke liegt und dann in der Tasche des Käufers verschwindet usw.

Weil die Verkäuferin gesehen hat, daß die Wurst aus der Packung des Lieferanten stammt, die mit dem Namen „Lyoner“ etikettiert war, oder weil sie schlicht als erfahrene Verkäuferin den Gegenstand gleich als diese Wurstsorte wiedererkannt hat, kommt sie zu der Überzeugung oder zu dem Gedanken, daß es sich bei diesem Gegenstand um „Lyoner“-Wurst handelt.

Wir bemerken, daß der Inhalt unserer Überzeugungen zum größten Teil ursächlich oder aufgrund kausaler Verknüpfungen mit den Objekten zusammenhängt, die in eben diesen Inhalt als Komponenten des gemeinten Sachverhaltes eingehen. Ihr kausaler Hintergrund bildet oft den Anlaß, eben eine solche Überzeugung zu haben.

Die primäre ursächliche Verbindung des Inhalts unserer Annahmen mit den Objekten, die in ihnen als Komponenten eines Sachverhalts repräsentiert werden, ist die Wahrnehmung oder die Beobachtung. Weil wir beobachtet haben, daß der Mond der einzige Erdtrabant ist und alle anderen stellaren Objekte, die sich scheinbar um die Erde drehen, sich in Wahrheit um die Sonne drehen, kommen wir zur Annahme des heliozentrischen Weltbilds oder zu der Überzeugung, daß die Annahmen von Kopernikus, Kepler und Newton wahr sind.

Die Beobachtungen der Planetenbewegungen im Sonnensystem dienen uns zum Beleg für die Annahme, daß der Mond der einzige Erdtrabant ist und die Erde selbst ein Planet ist, der sich um das Zentralgestirn bewegt.

Der Hund, der nach der Wurst schnappt, die wir ihm hinhalten, hat nicht den Gedanken, daß dies eine Wurst ist, und der Hund, der den Mond anbellt, nicht den Gedanken, daß dies der Erdtrabant oder daß dies der einzige Erdtrabant ist – nicht nur, weil er nicht über die astronomischen Meß- und Beobachtungstechniken und -daten verfügt, die ihm diesen Gedanken allererst nahelegen würden, sondern weil er nicht über die Sprache verfügt, mit der er eine Annahme oder Überzeugung, daß etwas so oder so ist, formulieren könnte.

Der Hund, der nach der Wurstattrappe schnappt, die wir ihm hinhalten, wird nach der Wahrnehmung ihres nicht wurstähnlichen Geschmacks nicht auf den Gedanken kommen, daß es sich dabei NICHT um Wurst handelt; denn die Negation eines Gedankens zu bilden, setzt voraus, den Gedanke gebildet zu haben oder bilden zu können. Ebensowenig wird der Hund, der die leuchtende Attrappe eines in den Baum gehängten Papiermondes anbellt, zu dem Gedanken veranlaßt, daß es sich dabei NICHT um den Erdtrabanten handelt.

Wenn wir den Satz, daß der Mond der einzige Erdtrabant ist, als wahr betrachten, setzen wir voraus, daß von allen Planeten des Sonnensystem der Mond derjenige Planet ist, der um die Erde kreist, und daß, wenn irgendein Planet von allen Planeten des Sonnensystems um die Erde kreist, er mit dem Mond identisch ist. Damit haben wir unsere Aussage über den Mond als den einzigen Erdtrabanten quantifiziert.

Die Eigenschaft, Gedanken zu haben, schließt demnach die Eigenschaft ein, wahre Gedanken zu haben, und wahre Gedanken können nur solche Annahmen sein, die wir quantifizieren können. So müssen wir von allen Gegenständen in der Theke den einen Gegenstand meinen können, den wir kaufen wollen.

Von allen Personen, die Peter auf der Straße wahrnimmt, nimmt er eine aus, die er als seinen Freund Karl bezeichnet. Wir können in den Funktionsausdruck für die Relation F oder die Freundschaftsrelation F(x, y) beliebig Eigennamen all der Personen einsetzen, die miteinander befreundet sind; aber nur die Einsetzung der individuell determinierten Namen Peter und Karl erfüllt den Funktionsausdruck in der gewünschten Weise.

Wenn Tiere nicht die Eigenschaft besitzen, Gedanken zu haben, dann weil sie keine Überzeugungen hegen können, die sich auf Basis einer Existenzquantifikation als wahr oder falsch erweisen ließen. Wir gebrauchen dafür die prägnante Formulierung: Tiere leben in einer Art Traumbewußtsein. Denn sie gelangen epistemisch nicht zu der Frage, ob das, was sie wahrnehmen, existiert oder nicht existiert. Oder anders gesagt: Da Tiere nicht über eine Semantik verfügen, verfügen sie auch nicht über eine Ontologie. Die Wurst, die Peter seinem Hund Wuschel hinhält und die er gierig aufschnappt, hat für Wuschel wohl einen beträchtlichen Wahrnehmungsreiz und gewiß auch einen Nährwert, aber keinen Realitätsgehalt in dem Sinne, wie die „Lyoner“-Wurst in der Theke für Peter einen prägnanten Realitätsgehalt hat – während es für den Hund in seinem semantisch auf null kalibrierten Für-sich-Sein keinen Unterschied macht, ob er die Wurst im Traum oder im Wachzustand gefressen hat, ja, wir wagen zu sagen, der Hund habe die Wurst im Wachzustand gleichsam wie im Traum gefressen.

Es ist augenscheinlich, daß wir auch auf diesem Weg der Betrachtung zu der Schlußfolgerung gelangen, den Tier-Mensch-Unterschied als prinzipiellen und nicht als graduellen Unterschied zu gewichten und Tiere nicht unter die Bewohner der semantisch-logischen Welt zu zählen, die wir als Lebewesen bewohnen, deren semantisch-intentionale Eigenart es ist, Gedanken zu haben; insofern können wir auch auf den Sinn der klassischen Bezeichnung des Menschen als eines animal rationale ein erhellendes Licht werfen.

Unsere semantisch begründete Eigenart ist es, nicht nur überhaupt Gedanken zu haben, sondern unsere Gedanken systematisch zu verbinden; denn so wie wir raumzeitlich gegebene Objekte in kausalen Bezügen ordnen, ordnen wir unsere Gedanken in logischen Bezügen von Voraussetzungen und Folgen. Aus der Annahme, daß der Mond der einzige Erdtrabant ist, folgt die Annahme, daß alle anderen Planeten nicht um die Erde, sondern das Zentralgestirn kreisen, also das heliozentrische Weltbild; das heliozentrische Weltbild hat zur Voraussetzung, daß die Annahme, außer dem Mond umkreisten noch andere beobachtbare Himmelskörper die Erde als Planeten, falsch ist.

Wenn Peter beobachtet, wie sein Freund Karl über die Straße geht, veranlaßt ihn diese Wahrnehmung zu der Überzeugung, daß sein Freund dort über die Straße geht. Diese Annahme hat zur Voraussetzung, daß Peter über den Begriff der Freundschaft verfügt, und die Überzeugung Peters hat zur Folge, daß er Karl als seinen Freund begrüßt.

Wenn Peter beobachtet, wie sein vorgeblicher Freund Karl ihm Geldscheine aus der Schublade entwendet und sich aus dem Staube macht, veranlaßt ihn diese Beobachtung zur Annahme, daß Karl ein Dieb ist, und die Überzeugung, daß Karl ein Dieb ist, hat die Überzeugung zur Folge, daß er nicht oder nicht mehr sein Freund ist.

Wenn Peter sieht, daß Karl, dem er ins Gewissen geredet und die Freundschaft aufgekündigt hat, um seine Missetat zu ahnden, ihm zum verabredeten Zeitpunkt die gestohlene Summe nebst Zins und Zinseszins auf den Tisch hinblättert, folgert er aus dieser Beobachtung, daß Karl sein Versprechen, ihm das Geld auszuhändigen, wahrgemacht hat. Karl seinerseits hat sich zur Erfüllung seines Versprechens ermannt, weil ihn sein schlechtes Gewissen plagt und er nicht allzu tief in den Augen seines ehemaligen Freundes sinken will. Mit großen Dankesbezeugungen seitens Peters kann er allerdings nicht rechnen.

Wenn Peters treuer Hund Wuschel ihm am Abend, wenn er aus dem Büro nach Hause kommt, sein Spielzeug bringt und zwischen den Füßen fallen läßt, kann Peter nicht von der Annahme ausgehen, der Hund habe damit das Versprechen erfüllt, ihm abends sein Spielzeug zu apportieren; denn der Hund ist nicht in der Lage, ein solches Versprechen einzugehen und zu erfüllen; denn könnte er es eingehen und erfüllen, müßte er auch in der Lage sein, es zu brechen und nicht zu erfüllen – doch weder das eine noch das andere ist er zu vollbringen imstande, denn sein Verhalten ist andressiert, erhält er doch zur Belohnung für sein anrührendes Verhalten ein Leckerli oder zumindest eine gehörige Portion von Streicheleinheiten.

Wenn Peter seinen Freund beim Diebstahl seines Geldes erwischt, ist er nicht zu der Folgeannahme gezwungen, daß nunmehr Karl nicht mehr unter seine Freunde zu rechnen ist; er könnte Gnade vor Recht ergehen lassen und Karl, dessen fatale persönliche und seelische Situation er kennt, vor eine Bewährungsprobe stellen und sollte Karl sie bestehen davon absehen, den Stab über ihn zu brechen.

Das zeigt, daß wir in der Art unserer Folgerungen aus bestimmten Annahmen nicht durch Reiz-Reaktions-Mechanismen gesteuert oder determiniert sind. Wir nennen diesen logisch-semantischen Spielraum, den uns unsere Überlegungen lassen, auch die auf die jeweilige Situation angepaßte Freiheit der Urteilskraft.

Der prinzipielle Tier-Mensch-Unterschied läßt sich auch in dieser Hinsicht auffinden und formulieren: Wenn der Hund des Nachbarn Peters Hund Wuschel sein Spielzeug wegnimmt, kann Wuschel sich nicht einerseits zur Annahme veranlaßt sehen, der böse Hund sei wohl ein Dieb, und andererseits der Überlegung Raum geben, er könne ihm dennoch eine Bewährungschance zum Erhalt ihrer so lange bestehenden Freundschaft einräumen und ihm das Versprechen abnehmen, daß er ihm das Spielzeug morgen oder übermorgen wieder aushändigt, und zur Entschädigung für den Übergriff noch zusätzlich ein eigenes Spielzeug als Dreingabe. Wuschel wird vielmehr, im Reiz-Reaktions-Mechanismus seiner Hundenatur eingeschlossen und befangen, sogleich dem diebischen „Freund“ nachsetzen und ihm seine Beute abzujagen versuchen.

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