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Worte, um denkender zu atmen

17.08.2016

Dem Blinden reichen die Tastgefühle über den toten Stock bis an den Kontur des Steins, den Atem-Halt des Grases, die Bettstatt der Moose …

… so ertasten dichterische Worte das Gesicht der Dinge, die Verworrenheit ihres wilden Haars, das Wahrkraut der Dämmerung …

Der Versuch, auf dem blauen Streifen der Luft zu balancieren, die überlaufende Milch des Abends mit der hölzerne Kelle simpler Namen zu schöpfen: Schwelle, Mund, Lallen …

Die Unwirklichkeit der Afterpoesie: Tränen, die nicht salzig schmecken, Blutspuren, die aus Geisteradern sprudeln, in einer Welt ohne Messer und Zahn, Bekenntnisse, die vom Dung der Liebe qualmen, der nicht eingestreut ward in all die Furchen …

Worte, die unterhalb der Wasseroberfläche Wurzeln treiben, Worte, die am Abgrund der Zeit kurz aufblühen und gegen den Hintergrund der Dämmerung kaum mehr zu erkennen sind, Worte, die auf den Lippen eine Spur von Pollen hinterlassen oder eine Farbe wie vom Saft der wilden Beere …

Plötzlich dreht sich das Wort wie ein Mensch, der eine andere Richtung einschlägt …

Der Schatten, den sie pathetisch beschwören oder melancholisch umzirkeln, ist der Schatten, den sie selbst auf die Dinge werfen.

Schein-Gebilde, die wie Fliegenfänger von Mücken toter Worte starren.

Die Sprache nicht als Fernrohr nehmen, sondern als Landschaft.

Ein Wort, das ins Wasser der Erinnerung gestellt über Nacht zarte Sprossen ausgebildet hat.

Lyrische Dichtung ist nicht Beschreibung, sondern Evokation: Die scheinbar deskriptiven Ausdrücke, die lyrische Formen bevölkern, von den Blumennamen der Sappho bis zu den Namen der Flüsse, Heroen und Götter Hölderlins, benennen nicht, sondern rufen die mit ihnen gemeinte Wirklichkeit an, rufen sie ins Erscheinen. Die dichterisch gebrauchten Worte haben keine konstatierende Geltung, sondern performative Kraft, wie wenn jemand eine vorübergehende Person mit Namen anruft, und sie bleibt stehen und dreht sich um, zu einem Gespräch bereit, zum Verweilen.

Vielleicht meint Martin Heidegger solches, wenn er von der Sprache der Dichtung als dem Andenken des Seins spricht, das sich darin kundtut, soweit es die Gunst oder der Kairos des Augenblicks erlaubt.

Denn die Gunst des Augenblicks läßt sich nicht erzwingen – kann doch der Angerufene harthörig bleiben oder mißmutig von dannen ziehen, ohne sich umzudrehen …

… kann doch der Freund den Anruf und Namen des Freundes verweigern …

… kann doch der launische Wind die Flamme ersticken, die zarten Sprossen des frühen Jahrs zertreten, der Atem auf dem dünnen Stengel des ersten Anrufs den Namen nicht halten, den dunkles Erinnern beschwert …

… oder dem zart-flaumigen Munde gelingtʼs, wenn die Füße, gekitzelt von jungen Kräutern, den bunten Pirol aufscheuchen oder wenn am Wegrand unterm dornigen Dickicht ein Herz zu brennen beginnt …

… oder auf dem engen Lager letzten Harrens, wenn ein Windstoß den Vorhang bewegt, spricht durch den Nebel der Schmerzen ein winziges Glimmen von einst, dem fernen Einst der Kindheit, die noch kein Wort hatte für den Stern …

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