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Logische Schneisen XVI

12.02.2014

Von der kleinen Zeltstadt am Rande der Wüste machten sich die Mutigen, die Kühnen und die Tollkühnen, Abenteurer, zwielichtige Gestalten, die nichts zu verlieren hatten, von Forscherdrang und von Gier nach dem schnellen Reichtum Getriebene, in einer kleinen verschworenen Expeditionsgruppe eines Tages auf, zu suchen und zu sehen, ob wohl die Welt jenseits der spiegelnden und flirrenden Ebene der großen Wüste zu Ende sei oder ob die Welt dort jenseits des Sandmeeres weitergehe – welche Schätze dort verborgen sein mochten, welche seltsamen Wesen dort hausten, fratzenhafte Ungeheuer oder Wesen von übermenschlicher Schönheit und Erhabenheit, von denen in den alten Mythen schon immer die Rede war.

Auf die Rückkehr des ersten Expeditionscorps hatte man vergebens gewartet, keiner kam zurück. Wieder rissen sich nach geraumer Zeit die Verwegenen und Mutigen vom sicheren Hafen am Rande des großen Sandmeeres los – und diesmal kehrte einer zurück, ein einziger Mann, augenscheinlich verstört und wahnsinnig geworden unter der das Hirn ausdörrenden Sonne – so musste man jedenfalls aus seinen wirren Erzählungen schließen, in denen es nur so wimmelte und zischte, sich schlängelte und sang von Wüstengeistern und Dämonen aus dem glühenden Sand.

Erst die dritte Expedition war von Erfolg gekrönt. Die Rückkehrer wussten von erstaunlichen Dingen zu berichten, grünen Zonen der Fruchtbarkeit und üppiger Vegetation um freundlich leuchtende grünblaue Seen, in denen es von Fischen glitzterte. So brachen die Kinder der Wüste auf und eroberten sich eine bessere Bleibe in der Fremde, eine Kolonie des Glücks.

Menschen scheinen gemischten Sinnes, zu siedeln gewillt, wo sie dank natürlicher Umstände wie schützender Täler oder gedeihlicher Bäche und Flüsse und der friedsamen Verwandtschaft ihrer Anrainer ein Unterpfand des Bleibens finden, zu wandern gestimmt, wenn aromatische Winde, goldene Sagen oder aufmunternde Explorationen in exotische Gegenden locken, die nach ausgestandenen Abenteuern Zukunft verheißen.

Betrachten wir die Wüste und das Sandmeer als sprechende Allegorie des Unbekannten und Ungewissen, dem wir uns schon seit unvordenklichen Zeiten benachbart und ausgesetzt sehen, von dem wir aber auch angelockt und zu gefährlichen Expeditionen, Ausschiffungen und Abenteuern verlockt werden. Sehen wir das grenzenlose Meer als die sprechende Allegorie der Zahlen und der Zahlentypen, der Gedanken und der logischen Formen des Denkens: Ist nicht der Entdecker der irrationalen Zahlen in seiner Kühnheit und logischen Konsequenz einem Kolumbus, einem Kopernikus oder Galilei zu vergleichen? Und verrät sich nicht die tief eingewurzelte Angst vor dem Unbekannten in der obskuren Geschichte von Hippasos von Megapont, der, ein Schüler des Pythagoras und seinem Geheimbund zugehörig, das Geheimnis der irrationalen Zahlen verraten oder gar die Existenz dieses Zahlentyps selbst entdeckt haben – und kurz darauf im Meer ertrunken sein soll?

Sind nicht Begriffe oder Pseudo-Begriffe, Sätze oder Pseudo-Sätze, die unkontrolliert oder unwillkürlich den Plan unseres Denkens zu durchqueren scheinen, wie „die Menge aller Dinge“ oder „das Unendliche“, „Das viereckige Dreieck existiert nicht“ oder „Ein rechteckiger Kreis ist undenkbar“, jenen Wüsten-Dämonen zu vergleichen, die den Wanderer heimsuchen, der sich zu weit über die Grenzen der bekannten Welt hinausgewagt hat? Sind solche Begriffe und Sätze nicht Vexierbildern gleich, die unseren Verstand mit unlösbar scheinenden Rätseln zu bannen und zu verhexen scheinen?

Denken wir an Sätze wie:

„Der jetzige König von Deutschland trägt einen Bart“
„Die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, enthält sich selbst.“
„Mir träumte, du hättest geträumt, dass ich träumte, du hättest geträumt.“
„Dieser Satz ist unwahr.“
„In meinem Gesichtsfeld gibt es mehr rote Flecken, als ich wahrnehmen und zählen kann.“
„Die Wegstrecke zwischen der Alten Oper Frankfurt und der Hauptwache hat unendlich viele Abzweigungen.“
„Der fliegende Pfeil ruht in jedem Moment.“
„Wenn die Zeitstrecke zwischen 20 und 21 Uhr unendlich teilbar ist, dauert diese Stunde eine Ewigkeit.“

Können wir solcher monströsen Gebilde nicht anders als die sogenannten Primitiven einzig durch Gegenzauber Herr werden, der die Wahrscheinlichkeit ihres Wiedererscheinens in dem Maße verringert, in dem wir uns von den unheimlichen Orten entfernt zu halten nötigen, an denen sie sich gewöhnlich aufhalten und die uns mit der Fata Morgana von Wunder-Blumen und Unsterblichkeit oder Allwissenheit verleihenden Früchten unwiderstehlich reizen? Doch wissen wir: Durch geduldige logisch-semantische Analyse können wir die Paradoxien bannen und die Vexierbilder zum Verschwinden bringen.

Wir suchen Sicherheit im Aufspüren und Ableiten von Gründen für unsere Handlungen und die unserer Mitmenschen, um uns die Tür zur Zukunft zumindest um einen Spaltbreit zu öffnen – auf dass wir nicht ganz im Dunklen und Ungewissen tappen. Wir gehen davon aus, dass es nach der Nacht und dem Schlaf wieder Tag wird um unser waches Bewusstsein – warum sollen ich nicht davon ausgehen, dass du mich morgen im Büro, im Seminar oder auf der Straße wiedererkennen und freundlich grüßen wirst? Wir können nicht mit dem beängstigenden Gedanken leben, dass morgen wahrscheinlich alles ganz anders sein wird, du mich nicht nur nicht wiedererkennen, sondern aus heiterem Himmel mir feindlich gesinnt sein und mir nachstellen wirst.

Gewissheiten indes finden wir nur im Grab der Vergangenheit: In den Grüften, Archiven und Museen des untergegangenen Lebens wird die Sicherheit der Funde vergolten mit der Erstarrung und der Maskenhaftigkeit ihrer Formen. Doch in der Stickluft der Archive und den Bastionen der sicheren Dauer können wir nicht atmen. Leben heißt für uns, das Leben steigern, das Leben steigern und um neue Erkenntnisse, Farben, Melodien bereichern, verlangt uns ein hohes Maß an Mut, Passion und Opferbereitschaft ab. Im Bestreben, das Dasein zu erhöhen, zu intensivieren, zu verklären, hat dieser und jener Dichter und Denker, Forscher und Forschungsreisende seinen Verstand oder das Leben selbst verloren.

Dass wir uns morgen wiedersehen, ist nicht ganz ungewiss. Gewiss aber, dass wir uns irgendwann nicht mehr wiedersehen. Wir können mittels Induktion nicht auf die unbegrenzte Fortdauer der Reihe der Ereignisse schließen, die wir in der Vergangenheit beobachtet, erlebt oder ins Werk gesetzt haben.

Doch wie steht es um die Schlussregeln und das korrekte Schlussfolgern in Logik und Mathematik? Stehen wir hier nicht auf unerschütterlichem, erzenem Boden? Umweht uns hier nicht gleichsam Klarsicht eingebende Ewigkeitsluft? Ist nicht das „Und-so-weiter“ in trockenen Tüchern, wenn wir die Reihe einmal begonnen, einmal die Prämissen festgelegt, einmal die Axiome klar definiert haben?

Es bleibt ein unwägbarer Rest. Womit wir was auch immer beweisen und ableiten, können wir eo ipso nicht beweisen und ableiten, es ist der unser „Und-so-weiter“ ermöglichende unerweisliche und unausdenkbare Rest. Oder vielmehr: Das ganze Gebäude unseres Denkens schwebt in der Luft – nur was wir in seinen Gemächern tun und treiben, reden und handeln, ist mit Sinn erfüllt oder wird alsbald als Unsinn aus den Fenstern gekippt.

Unser Haus oder unsere Welt oder das ganze System unserer Erfahrung, der logische Raum, haben kein echtes Fundament: Wir können das Haus nicht aus Mutwillen oder um konsequent von Neuem zu beginnen und diesmal alles richtig zu machen bis auf die Grundmauern abreißen und auf solider Basis wiedererrichten. Ja, das Haus hat nicht einmal wirkliche Fenster, aus denen wir in die umliegende Landschaft blicken und uns vergewissern könnten, ob es da oder dort noch andere Gebäude unserer Art gibt oder ob wir gar Anwesen entdecken, deren Baustil dem Baustil unseres Hauses gänzlich unähnlich und unvergleichbar ist.

Aber gemach! Was nützte uns das? Würden wir in unserer näheren oder ferneren Umgebung andere Häuser mit unvergleichlich anderem Baustil entdecken, könnten wir doch davon ausgehen, dass sie uns in der einen und entscheidenden Hinsicht wie ein Ei dem anderen ähnlich sind: Sie alle ruhen nicht wie echte Häuser auf echt soliden Fundamenten, sie alle schweben vielmehr, exotischer als die hängenden Gärten der Semiramis, in der Luft. Wir brauchen demzufolge auch keine Fenster oder höchste Aussichtstürme und Wunder-Teleskope, mit denen wir vorgeblich uns und den Rest der Welt überblicken könnten, um gleichsam von außen zu erspähen, wo wir sind: Wir wissen genug, um zu wissen, wo wir uns aufhalten. Doch zugleich fühlen wir, wie der Sand tief unter unseren Füßen leise, sehr leise rieselt.

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