Skip to content

Name und Gegenstand

12.05.2016

Oder warum semantische Theorien keine naturalistischen Theorien sind
Ein Beitrag zur Theorie der Subjektivität

Wenn der Briefträger den chaotischen Haufen unsortierter Briefe in seine Fächer nach den Auswahl- und Zuordnungskriterien von Straßennamen und Hausnummern steckt und so neu ordnet, repräsentiert oder symbolisiert beispielsweise das dritte Fach in der zweiten Reihe auf seinem Arbeitstisch dein Haus mit der entsprechenden Nummer in deiner Straße: Das Fach ist gleichsam ein Modell deiner Adresse und der vom Briefträger hineingesteckte und an dich adressierte Brief deines Freundes ist gleichsam ein Modell oder Repräsentant deiner Person, denn auf seinem Adressfeld prangt gut leserlich dein Name.

Wir können die Verwendung von Dingen wie lautlichen oder bildlichen Zeichen als Repräsentanten, Symbolen oder Modellen dadurch kenntlich machen, daß wir sie in Anführungszeichen setzen, während wir im Gegensatz dazu den gemeinten Gegenstand in seiner ungeschminkten Existenz mit demselben Begriff ohne Anführungszeichen meinen und bezeichnen. Das Fach des Zustellers, an dem der Straßenname „Musterstraße“ befestigt ist, bedeutet die Straße namens „Musterstraße“ – während die gemeinte Straße selbst, die Musterstraße, in der du wohnst, einfach sie selbst ist und gar nichts bedeutet.

Definition (1): Mit Anführungszeichen geschriebene Begriffe weisen diese als Symbole, Modelle oder Repräsentanten der Gegenstände aus, für die sie stehen, während ohne Anführungszeichen geschriebene Begriffe die Sache selbst meinen – was immer diese auch sein mag.

Der Name auf dem Adressfeld des an dich gerichteten Briefes im Verteilerfach des Zustellers steht für die Person dieses Namens, symbolisiert und bedeutet diese Person, während du selbst, der gemeinte, gar nichts bedeutest, sondern für dich dahinlebst und dir selbst ontologisch gleichsam genügst.

Dabei können wir die Bedeutungsträger oder Symbole sowohl beliebig verändern und modifizieren als auch durch andere Symbolen und Bedeutungsträger ersetzen und vertreten lassen, allerdings unter Einhaltung der notwendigen Bedingung, daß die Identität der übermittelten Bedeutung gewahrt bleibt.

Wenn ich unter „Koblenz“ die Stadt verstehe, die an der Mündung der Mosel in den Rhein liegt, kann ich das Zeichen „Koblenz“ durch die Erklärung „Stadt an der Mündung der Mosel in den Rhein“ ersetzen, denn die Identität der Bedeutung bleibt dabei gewahrt. Ich kann die verbalen Bedeutungsträger auch durch visuelle ersetzen, zum Beispiel durch ein Foto vom Deutschen Eck oder ein Bild des Stadtwappens.

Wenn ich allerdings mit dem Rucksack von Mayen in der Eifel nach Koblenz gewandert bin und auf der Wanderkarte den Namen des Zielortes am Zusammenfluß von Rhein und Mosel mehr als einmal gelesen habe und endlich lese ich am Ortseingang das Schild mit dem Namen „Koblenz“, dann bin ich in Koblenz ohne Anführungsstriche angelangt.

Definition (2): An dem Punkt der Symbolkette oder der Bedeutungsübertragung, an dem der Name als Symbolträger und Repräsentant des Gegenstandes, für den er steht, seine unsichtbaren Anführungszeichen verliert, treten wir gleichsam aus der scheinhaften Existenz der Bedeutungen in das echte Dasein der Gegenstände ein, die von ihnen bedeutet und gemeint sind – was immer dieses auch sein mag.

Während wir unter Einhaltung der Identitätsvorschrift ein Symbol durch ein anderes ersetzen können, wie das Wortzeichen „Koblenz“ durch das Bildzeichen des Wappens dieser Stadt, können wir für Koblenz nicht Frankfurt oder Köln einsetzen – der gemeinte Gegenstand ist eben der Gegenstand, nicht mehr und nicht weniger.

Wenn du mir das Stadtwappen von Koblenz zeigst, kann ich dich fragen: „Was bedeutet das?“ Doch wenn wir in den Rheinanlagen eben dieser Stadt spazieren gehen, wäre es mehr als verfehlt, nämlich sinnlos, fragte ich dich: „Was bedeutet diese Stadt?“

Anders steht es um Sätze der Art: „Rose“ bedeutet eine Blume, „Eiche“ bedeutet einen Baum, „Koblenz“ bedeutet eine Stadt, „Peter“ bedeutet einen Menschen. Hier stehen die Wörter „Blume“, „Baum“, „Stadt“ und „Mensch“ nicht für die Gegenstände, die „Rose“, „Eiche“, „Koblenz“ und „Peter“ bedeuten, sondern für die Begriffe, unter denen wir sie klassifizieren. „Städte“ an sich existieren nicht, wohl aber einzelne Städte, die wir mit den Namen „Koblenz“, „Frankfurt“ oder „Köln“ bezeichnen. Menschen an sich existieren nicht, wohl aber die Personen, die wir mit den Namen „Peter“, „Hans“ oder „Eva“ bezeichnen.

Wir verwenden Begriffe, um uns die Zuordnung zu erleichtern: Wenn wir sagen, daß wir unter „Koblenz“ die Stadt gleichen Namens verstehen, wissen wir, daß nicht der Rheindampfer namens „Koblenz“  gemeint ist, der an der Anlegebrücke der Stadt des gleichen Namens festgemacht hat.

Wir nennen die Fähigkeit unseres Geistes, mit dem Wort „Koblenz“ die Stadt dieses Namens am Zusammenfluß von Rhein und Mosel zu meinen, Intentionalität – aber dies ist nur ein Wort, das noch nichts erklärt und jener Fähigkeit die magische Aura, die ihr anhaftet, nicht eo ipso benimmt.

Wenn wir die Fähigkeit, Wörtern Bedeutungen zuzuweisen und mit ihnen Gegenstände in der Welt zu meinen, Intentionalität oder intentionale Kraft nennen, schließen wir aus, daß es sich bei diesem Vorgang um ein rein kausales Ereignis handelt, das einer naturalistischen Erklärung nach dem Kausalprinzip zugänglich wäre.

Definition (3): Bedeutungen können nicht kausal erklärt werden. Semantische Theorien sind keine naturalistischen Theorien.

Wenn wir das Geräusch fallender Wassertropfen einmal nach dem akustischen Muster des Trochäus (Hebung, Senkung; I 2 oder A b) wahrnehmen, dann wieder nach dem akustischen Muster des Jambus (Senkung, Hebung; 1 II, a B) oder wiederum nach dem Muster des Anapästs (Senkung, Senkung, Hebung; 1 2 III, a b C) oder des Daktylus (Hebung, Senkung, Senkung; I 2 3, A b c), dann ist es evident, daß diese Musterbildung bei unserer akustischen Wahrnehmung nicht kausal durch die Erregung der nervösen Bahnen bis zur Hörrinde des Großhirns verursacht worden sein kann – sonst könnten wir unser Hörmuster nicht beliebig variieren. Und dies vermögen wir ohne weiteres: Je nach Gusto oder Stimmung klimpern wir auf der Klaviatur unserer akustischen Wahrnehmung Trochäen, Jamben, Anapäste oder Daktylen, ja wir können diese Elementarmuster zu komplexen Mustern kombinieren und verschränken, bis wir die rhythmischen Höhen der sapphischen, alkäischen oder asklepiadeischen Odenstrophe erklommen haben.

Wir bemerken hier, daß nicht nur bei der Verwendung der Wortsprache, sondern auch bei der Musterbildung der Wahrnehmung intentionale Kräfte am Werk sind, die nicht auf kausale Prozesse reduziert werden können.

Definition (4): Muster der Wahrnehmung, mit denen wir das Wahrgenommene rhythmisch gliedern, sind keine kausalen Vorkommnisse, sondern Effekte intentionaler Kräfte, die den intentionalen Beziehungen ähneln, wie sie die Semantik der Wortsprache beschreibt.

Wenn du dich an Peter erinnerst, mit dem du gemeinsam die Schulbank gedrückt hast, schwebt dir dann ein wenn auch verschwommenes oder undeutliches visuelles Bild von Peter oder von Peters Gesicht vor? Oder erinnerst du dich an Peter in der Weise, daß dir der penetrante Klang seiner Stimme wieder eingefallen ist? Das könnte sein. Aber du kannst auch an Peter denken, ohne Versatzstücke aus dem visuellen oder akustischen Gedächtnis zu Hilfe zu nehmen.

Ähnlich steht es beim Wortgebrauch. Du kannst wohl, wenn du mit „Koblenz“ auf die Stadt dieses Namens hinweist, dir das eine oder andere Bild vor Augen rücken, etwa das Deutsche Eck oder die Kastorkirche am Rhein. Doch der Bezug, den deine Verwendung dieses Stadtnamens darstellt und herstellt, ist von diesem kontingenten Umstand völlig unabhängig. Auch jemand, der nie in Koblenz war und keine Gedächtnisspur auftreiben kann, um seinen semantischen Bezug auf diese Stadt sinnlich zu unterfüttern, liegt goldrichtig, wenn er mit diesem Namen die Stadt am Zusammenfluß von Rhein und Mosel meint.

Definition (5): Die durch intentionale Kraft ermöglichte semantische Bezugnahme von Zeichen auf die mit ihnen gemeinten Gegenstände bedarf keiner mentalen Vorstellungen und Vorstellungsbilder, um die Korrektheit der Bezugnahme zu stützen oder zu garantieren.

Das Gesicht Peters, an den du dich erinnerst, sieht heute gewiß anders aus, als zu der Zeit, da du mit ihm die Schulbank gedrückt hast. Und mehr noch, wir könnten auf diese Weise niemals sicher sein, daß du mit dem Bild deines früheren Schulkameraden genau die Person repräsentierst, die du meinst und korrekt repräsentierst, wenn du dich seiner als der Person mit Namen „Peter“ erinnerst, mit dem du gemeinsam zur Schule gegangen bist. Denn hier könntest du leicht in die Irre gehen und das Bild von Karl könnte dir vor Augen schweben, wenn du an Peter denkst. Und dennoch denkst du an Peter, auch wenn dir das Bild von Karl vor Augen schwebt.

Peter könnte einen Zwillingsbruder namens Paul haben, von dessen Existenz du nichts weißt. Wenn nun der korrekte Gebrauch des Namens „Peter“ an das visuelle Vorstellungsbild gebunden wäre, das du dir von dieser Person machst, könnten wir nie sicher gehen, ob du Peter oder Paul meinst. Weil du aber mit „Peter“ deinen früheren Klassenkameraden meinst, auch ohne zu wissen, wie er jetzt genau ausschaut, gehst du semantisch bei der Verwendung seines Namens nicht fehl.

Ist es also die ontologische Souveränität des Gegenstandes, die unserer Verwendung seines Namens Korrektheit und Sinn verleiht? Nein, dem scheint bloß so zu sein. In Wahrheit können wir uns einen Gegenstand wie die Stadt Koblenz nicht denken, ohne daß wir über die semantische Fähigkeit verfügten, ihn mit eben dem Namen „Koblenz“ aus der Fülle aller Weltgegenstände herauszugreifen und zu identifizieren. In gewisser Weise, können wir sagen, gibt es Koblenz nicht ohne „Koblenz“, die Stadt nicht ohne den Namen, mit dem wir sie bezeichnen, sie benennen, mittels dessen wir uns an sie erinnern.

Aber der Mond ist doch der kosmische Gegenstand, der er nun einmal ist, unabhängig davon, ob wir an ihn denken, ihn Mond oder Moon oder Luna nennen? In gewisser Weise müssen der Gegenstand, dessen trübes Seelenlicht Trakl in seine Gedichte einfließen ließ, und der Gegenstand, auf den ein amerikanischer Astronaut als erster Mensch seinen Fuß setzte, identisch sein. Aber die Tatsache, daß wir den Mond „Mond“ nennen, gibt diesem kosmischen Gegenstand eine eigentümliche ontologische Färbung, die ihm im Auge des Orang-Utan, der ihn von seinem Schlafplatz im Baumwipfel aus sieht, abgeht.

Dieser singuläre Umstand scheint daher zu rühren, daß sich in unserem sprachlichen Weltumgang die Einwirkung natürlicher Kausalkräfte und die Einwirkung nichtnatürlicher, rein semantischer intentionaler Kräfte die Waage halten.

Wenn wir die Einwirkungen natürlicher Kausalkräfte auf unseren Organismus mittels der Rezeptoren der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer autonomen zentralnervösen Verarbeitung Erfahrung nennen, bemerken wir, daß die semantische Elementarrelation von Name und Gegenstand weder der Erfahrung entspringt noch selbst ein Element der Erfahrung darstellt. Sie ist vielmehr das Konstituens oder Aufbauprinzip unserer Erfahrung im Kontext unseres sprachlichen Weltumgangs. Das aus Lichtpunkten zusammengesetzte visuelle Bild deines Freundes Peter auf der Retina deines Auges, das über dein zentralnervöses System mit den Gedächtnisspuren früherer Wahrnehmungen ähnlicher Art verarbeitet und verschaltet wird, ist nicht der ontologische Gegenstand, den du meinst, wenn du auf der Straße deinen Freund mit Namen rufst.

Definition (6): Der Wahrnehmungsgegenstand ist nicht der semantische Gegenstand, und der semantische Gegenstand ist nicht der Wahrnehmungsgegenstand. Das visuelle Bild einer Person ist nicht die Person, die wir meinen, wenn wir sie mit Namen rufen oder uns ihrer erinnern (auch wenn Fragmente visueller Vorstellungsbilder in unsere Erinnerung hineinspielen).

Der Gegenstand der Wahrnehmung bietet uns eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit von Aspekten, die wir beschreiben, aber nicht abschließend festschreiben können. Schon die farblichen Aspekte der Wahrnehmung sind unendlich nuanciert und differenziert. Wir kämen an kein Ende, wollten wir das Gesicht Peters in seinem Aspektenreichtum durch die Zeit und alle Alterungsprozesse hinweg minutiös beschreiben. Dagegen erfassen wir mit dem Namen oder Begriff die Identität des Gegenstandes, den wir meinen, ohne alle Umstände und ohne viel Federlesens. Was immer Peter gerade für ein Gesicht schneidet, wir wissen, Peter ist eben diese Person und keine andere.

Definition (7): Wahrnehmungsgegenstände sind eine im Raum-Zeit-Kontinuum sich differenzierende Mannigfaltigkeit von Aspekten der sinnlichen Wahrnehmung ohne eindeutige Identitätsgrenzen. Mittels semantischer Gegenstände verfügen wir über eine eindeutige Zuschreibung von Identität, die freilich in eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit von Kontexten eingehen kann, ohne sich deshalb zu verlieren und aufzulösen, vergleichbar den festen Knotenpunkten eines unbegrenzten Netzwerks.

Kommentar hinterlassen

Note: XHTML is allowed. Your email address will never be published.

Subscribe to this comment feed via RSS

Top