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Schwelle und Grenze

03.05.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Natürlich ist ein wesentlicher Grund des Hasses auf die Juden die Erhabenheit ihres Gottes, vor dem der Mensch jenes schwankende Rohr und bald dahinwelkende Gras ist, wovon der Prediger und Pascal sprechen.

Der Antisemit hat das Manna der Wüste zugunsten der Rückkehr zu den Fleischtöpfen unter der Knute des Pharaos verworfen.

Das Ressentiment, das den nunmehr wehrhaften Verteidigern von Eretz Israel entgegenschlägt, ist dasselbe, das den Antisemiten vom Chauvinismus des Alten Testaments schwadronieren läßt.

Eine vielleicht zu wenig beachtete Wurzel des Judenhasses reicht tief in den Boden des abendländischen Gnostizismus, der von den Katharern über die sozialrevolutionären Aufstände der Reformation und den religiösen Anarchismus der Russen bis zu Autoren wie Simone Weil und Emil Cioran reicht; in dieser teils zu extremer Askese, teils zu zynischer Libertinage neigenden Weltauffassung wird das in der Genesis evozierte Schöpfungswerk als Tat eines bösen Dämons verunglimpft, der jüdische Gott als seine Maske entlarvt.

Daß er ihnen Land verhieß, ja ein gesegnetes, wo Milch und Honig fließt, nimmt man dem als Rache- und Kriegerdämon denunzierten Gott der Juden besonders übel.

Die radikale Aufklärung ist auch eine Frucht des Antisemitismus; sie predigt die totale Emanzipation, doch nach den Lehren des AT bleibt der Mensch Knecht, Mündel, Hörer Gottes.

So auch der weltanschauliche Kitsch der Verklärung des Matriarchats und der Frauenemanzipation; was sind die Mänaden und Amazonen gegen die Würde der großen Frauen, einer Sara, Ruth oder Esther, des AT.

Das rituelle Leben ist dem aufgeklärten Kleingeist ein entsetzliches Ärgernis.

Der sich in Verachtung kleidende Neid auf die Erwählung, sei es des Gottesvolkes, sei es des musisch Inspirierten.

Der heillos Verstrickte und jener, dem kein Stern der Erlösung die Nacht überhöht, mißgönnen natürlicherweise dem Volk den Segen, den seine Propheten empfingen, der Kirche das Heil und die Rettung, die ihre Priester in den geweihten Mitteln geistlicher Wegzehrung und den anderen Sakramenten darreichen.

Wenn wir die Welt und uns selbst mehr und mehr so sehen und wahrhaben, wie es uns die großen oder doch medial verbreiteten Werke der Künstler und Musiker offenbaren, dann wehe uns bei all den verdrehten und ausgerissenen Gliedmaßen, den ausgebrannten Augenhöhlen, den zerquetschten und zerschnittenen Gesichtern, dem unter Ruß- und Ascheschichten eiternden Purpur, dem mit schwarzen Warzen überzogenen Dottergelb, bei all den zersägten und gesplitterten Violinen, dem geplatzten Wanst des Blechs und der unter der Finsternis des Flügels verborgenen Höllenmaschine.

Daß Prosaisten nicht mehr erzählen, sondern essayistisch aus dem Munde ihrer Protagonisten sich ergehen, ist nicht ein Zeichen theoretischer Kraft, sondern narrativer Impotenz.

Obwohl der Popanz an Theorie über die Selbstbefangenheit des Subjekts und seine Auflösung in zeitlichen Schichten, den er seinem Protagonisten in den Mund legt, wurmstichig und soweit von Bergson entliehen nicht haltbar ist, kann man gewiß Proust schriftstellerisches Genie nicht absprechen; dennoch leidet auch er an einem Mittelmaß der Weltauffassung, die wie ein schwefliger Dunst seine Seiten vergilbt oder wie ein abgestandenes Parfum seine Salons durchzieht; mag man sie auch gerne kennerhaft als dämonisch überhöhen, sie zeugt in Wahrheit vom dekadenten Geschmack an Verfall und Verdorbenheit, Hinfälligkeit und Perversion.

Die natürliche Entsprechung zum erwählten Volk und der allein selig machenden Kirche ist das davidische Königtum und das Gottesgnadentum der Monarchie.

So steht Jesus als der Gesalbte in der Ahnenreihe von König David.

David und der Psalter. Doch Jesus, der Sänger? – Das mußte die Passion durchkreuzen.

Wie kam das Christentum zur Musik oder wie wurde die abendländische Musik getauft? Zunächst durch die Leihgabe des Synagogengesangs, dann durch die Christianisierung der im Kaiserkult üblichen hymnischen Anrufungen des Herrschers, die nun, eine Erbe des Ostens, dem Christus Pankrator galten.

Das Singuläre an der christlichen Musik ist das Singuläre seiner Liturgie: die Mischung von hohem Ton und Volkstümlichkeit, so daß die Feste ihren je eigentümlichen musikalischen Ausdruck und ihre individuelle Sangesweise erhielten.

Der Individualcharakter christlicher Sangesweise geht auf die Erfindung des Reims in den Hymnen des Ambrosius zurück.

Was ist deutsch an großer deutscher Dichtung? Die Innigkeit.

Goethe charakterisiert die Musik Beethovens durch Innigkeit, neben den bestimmenden Mächten der Energie und Konzentriertheit („inniger, energischer und zusammengeraffter“ als seine Musik habe er keine andere empfunden).

Die Zeit ist nichts rein Subjektives. Der Tod markiert objektiv das Ende einer Biographie. Doch kann er kein intentionaler Inhalt des subjektiven Bewußtseins werden, denn wie Wittgenstein sagt: „Der Tod ist kein Teil des Lebens.“

Wir können von den letzten Werken Mozarts oder Beethovens reden, weil ihr Tod, der die Werkreihe abgeschlossen hat, uns als objektives Datum bekannt ist. Aber die letzten Werke Mozarts oder Beethovens waren nicht die letzten Werke FÜR die Komponisten.

Die als berüchtigt-enigmatisch notierten letzten Worte bedeutender Personen, waren sie für sie selbst gleichsam Voces mortis?

Wir erreichen die Grenze des Sagbaren, die Grenze der Sprache, nicht, und würden wir sie erreichen, wir wüßten es nicht. Die Grenze bildet für uns jene semantische Form, die wir nur erfüllen (oder verfehlen), aber nicht gleichsam von außen betrachten und beschreiben können.

Keine Geste kann die Quintessenz aller vorausgegangenen Gesten enthalten.

Die letzte Spielanweisung beendet das Spiel, aber sie enthält nicht die Quintessenz des Spiels.

Wir wissen, was jenseits der Schwelle unseres Hauses liegt; nicht, was jenseits der Grenze des Sagbaren liegt.

Eine Reihe von Selbstporträts mag je nach seelischer Beleuchtung Wesenszüge des Dargestellten gleichsam durchdeklinieren; aber alle Bilder aufeinandergelegt, böte sich uns nur ein trüb verschwommenes Grau in Grau.

Die Schwelle können wir überschreiten, die Grenze des Sag- und Denkbaren nur gleichsam von innen berühren.

Wir können nicht in der Luft gehen; ebensowenig im Unartikulierbaren reden und im Undifferenzierbaren denken.

Die Form, wie der Sonatensatz oder die Ode Sapphos und die Hymne Pindars, gibt uns die Struktur des Inhalts, gleichsam seinen Schatten.

Im Rahmen einer Situation sind nur bestimmte Handlungen und Sprechakte möglich.

Mit den ersten Takten einer Klaviersonate Mozarts, einer Sinfonie Beethovens sind wir in einer musikalischen Situation, das heißt einer Stimmung.

Die Diabelli-Variationen Beethovens breiten ein Panorama möglicher musikalischer Situationen und Stimmungen vor uns aus, vom Erhabenen bis zum Komischen, vom Profanen bis zum Mysteriösen. Die ersten Takte bilden gleichsam die Schwelle, über die wir in den Raum oder die Atmosphäre einer musikalischen Stimmung treten. Die ersten Takte der auf eine Diabelli-Variation folgenden Variation bilden die Grenze zwischen unterschiedlichen musikalischen Stimmungen. Die letzten Takte der 33. Diabelli-Variation, die das Ende der Reihe darstellt, bilden nicht nur ihre äußere, sondern auch ihre innere Grenze.

Im Anschluß an ein scheinbar triviales und belangloses Geplauder mit dem Nachbarn sieht der eine der Beteiligten das Gespräch in einem anderen gleichsam paranoid getrübten Licht; er fühlt sich ausgehorcht, durchmustert, entblößt.

Die nicht geschrieben haben, die Propheten und Jesus, schielten nicht auf eitle Wirkung und rhetorischen Effekt; daher die Wucht und Intensität des von ihnen Überlieferten.

Das Wort, nicht mehr nur Ausdruck, sondern Spur einer Verwundung, einer Verwerfung, ähnlich derjenigen urzeitlicher Gesteinsschichten, von seelischen Formationen.

Das Fremde und Befremdliche kann man durch Exotenkitsch harmlos und gefügig machen.

Die Griechen gönnten sich nach der Tragödie ein Satyrspiel; hier hat uns der Monotheismus verengt, versauert, verklemmt.

Immerhin kennt die eucharistische Liturgie neben dem ungesäuerten Brot auch den Wein; doch Dante hat den Dionysos in seine Hölle gesteckt.

Die pfingstlichen Zungen polyglotter Begeisterung waren Flammen, die lebendige Herzen verzehrten; an den Aschenflöckchen, die sich als Versgekringel aufs trockene Papier niederlassen, mag kein Brand sich entzünden.

Der tragische Kothurn ist das einfache, aber hoch wirksame dramaturgische Mittel, den Eindruck des Außeralltäglichen und Erhabenen zu erwecken.

Der Schritt ins Lächerliche; der Kothurn knickt ein.

Stefan George, der Übersetzer Baudelaires und Dantes, pflegte sich im alltäglichen Geplauder mit seinen Jüngern und Auserwählten in einem penetranten rheinfränkischen Dialekt zu ergehen.

Geschichte und Schicksal sind in Gestalten wie Alexander, ohne den die Kultur des Hellenismus von Ägypten bis zum Himalaya nicht entstanden wäre, und Cäsar, der immerhin die Heraufkunft der Romania ins Werk setzte, untrennbar verwoben. Dies läßt sich allerdings auch von den Agenten der Zerstörung ganzer Reiche und Kulturen sagen.

Der Streit um die Abgrenzung oder Assimilierung der westlichen Kultur ist so alt wie die Kiewer Rus und er endet nicht mit den Fehden zwischen den Westlern und Slawophilen, Turgenjew und Dostojewski oder dem Krieg um die Ukraine.

Wer Moskau in der Nachfolger von Byzanz sieht, kann die Legitimität einer eigenstaatlichen Ukraine natürlich nicht anerkennen. – Es gibt kein ARGUMENT gegen eine solche Haltung, sondern nur eine andere Haltung.

Freilich, Alexander und Cäsar vermochten nicht abzusehen und konnten demnach nicht beabsichtigen, daß ihr Lebenswerk sich in jenen großen historischen Linien verlängerte, die es tatsächlich nach sich zog.

Die Ironie der Geschichte spricht geradezu aus dem Verfehlen hochmögender Absichten im Verfolg ihrer Verwirklichung. – „Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören“, wie das Orakel dem Krösus prophezeite, nur daß es sein eigenes war.

Der Verliebte, der mittels und infolge überschwenglicher Liebesrhetorik die Angebetete in die Flucht schlägt.

Der Versuch der Wiedererweckung der antiken Götter, der bei Hölderlin auf den deutschen Parnaß hymnischer Gesänge gestiegen war, versandete im Kitsch des Jugendstils.

Verdunkelt sich das Licht des Schöpferworts, ermattet auch der Glaube an den Sinn der Geschichte, wirkt alles Menschheitspathos, selbst in der Neunten Beethovens, blechern und hohl.

Chlodwig konnte um die historischen Implikationen seiner Taufe in der Kathedrale von Reims nicht wissen. – Und dennoch, kein Racine, kein Ludwig XIV., kein Robespierre ohne diese Tat.

 

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