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Im Zwielicht

07.04.2016

Das Zwielicht bezeichnet die Atmosphäre unserer Existenz. Denn in der Dimension der conditio humana wird es niemals vollständig hell, aber auch nicht gänzlich dunkel.

Die radikalen Aufklärer wähnen, alles beleuchten und alles ins klare Licht rücken zu können. Der Wahn der Aufklärung entspringt der Verwechslung des Begriffs der Vernunft im Sinne des Abwägens und Erwägens von überschaubaren Gründen mit dem Begriff der rechnenden Rationalität im Sinne der deduktiven Ableitung von Sätzen aus gegebenen Annahmen. Wir können aber nur in einem zeitfreien Systemkontext wie dem der Zahlen oder logischen Operationen rechnen, in den zeitlichen Kontexten, in denen wir unsere Entscheidungen zu fällen genötigt sind, können wir nur vernünftig abwägen – denn das Kommende sehen wir nicht oder nicht vollständig voraus.

Die radikalen Skeptiker wähnen, unsere Existenz sei gänzlich in die Finsternis der letzten Unerforschlichkeit der Gründe und der Folgerungen aus unseren unerfindlichen Annahmen getaucht. Doch stehen wir auf dem rutschigen Untergrund unserer Annahmen nicht vollständig im Dunkeln. Wenn wir auch nicht wissen, ob morgen die Sonne aufgehen, ob wir morgen noch leben werden, tun wir allem menschlichen Ermessen nach gut daran, so zu tun, als werde dies wie heute auch morgen der Fall sein. Radikale Skepsis fruchtet nicht im alltäglichen Weltumgang: Das Kind bleibt das Kind seiner Eltern und kann sich darauf verlassen, wenn auch nicht unbedingt und für alle Fälle, daß das Mittagessen auf dem Tisch stehen wird, wenn es von der Schule nach Hause kommt. Der Bauer sät seinen Weizen, nicht ganz ohne begründete Erwartung, daß er aufgehen wird, der Liebhaber stellt sich zum Rendez-vous ein, auch wenn es regnet oder schneit, denn er setzt auf den Liebeswunsch der Geliebten, der sie mit einem Regenschirm bewaffnet und mit Handschuhen versieht, um wie er selbst sich einzufinden zum Stelldichein.

Um seiner quälenden Eifersucht zu entrinnen, bestach er einen Bekannten, seines Zeichens ein Beau und Bonvivant, seine Freundin zu verführen. Teil der finanziell gut unterfütterten Abmachung war auch ein ausführlicher, kein Detail auslassender Bericht des Frauenhelden über das gelungene erotische Abenteuer. – Ob seine schreckliche Unruhe danach verflogen war und seine Liebschaft wie erhofft in ein harmonisches Fahrwasser geriet, ist uns nicht zu Ohren gekommen.

Im Zwielicht zu leben heißt, in steter, nie zu beseitigender Unsicherheit und Ungewißheit über das Kommende zu existieren, es heißt, unter dem lautlos zitternden Damoklesschwert der ungewissen Ereignisse zu existieren, die die nächste Stunde, die nächste Nacht, der nächste Tag bereithält.

Es gibt nur ein Mittel, ein für allemal dem Leben das Zwielicht der Ungewißheit und Unsicherheit zu nehmen: es zu beenden.

Alle Versuche, sich einen weiten Überblick zu verschaffen oder eine bleibende Ordnung in den Niederungen des Wankelmuts zu stiften, dienen dazu, die Quellen der Beunruhigung auszutrocknen und unser Herz wenn auch nur für kurze Frist zu befrieden. Doch gerade dann erfüllt uns Freude, wenn die über Nacht aufgesprossenen Blüten die im Schlaf gedämpfte Unruhe des Herzens wieder erwecken, seinen eingeschlummerten Teich das Kräuseln sanfter Wellen wachruft.

Wir wären nicht, was wir sind, ohne das Zwielicht, das unsere Seelen nährt. So setzt du manches, vieles, alles daran, dein Versprechen zu erfüllen, dem Bekannten, dem Verwandten, dem Geliebten am ausgemachten Tag die geliehene Summe Geld, das überlassene Auto, das versprochene Geschenk auszuhändigen, auch wenn dir an jenem Tag eine Laus über die Leber laufen mag, auch wenn es donnert und blitzt, auch wenn die Welt untergeht.

Wir nennen die ethische Form oder die moralische Fassung, die uns im Dasein unterm Zwielicht ansteht und menschlich auszeichnet, Haltung. Wir bewahren die Haltung angesichts der Ungewißheit der Zukunft, angesichts des dunklen Gewölks aus dem Abgrund, angesichts des Todes.

Wäre alles licht und klar, könnten wir die Zukunft voraussehen, wären wir nicht die Menschen, die wir sind, windschief geworden gegen die Stürme der Zeit, wankend wie das Schilfrohr, aber so biegsam, daß wir auf lange nicht zu brechen gedenken.

Nur unter der trüben Sonne unseres Daseins gedeihen die Blumen, die unsere Pfade zieren, allen voran die königliche, die Treue. Wären wir unsrer selber vollständig gewiß, bedürfte es nicht der Schwüre und der Verpflichtung, den Anfechtungen mit offenem Visier zu begegnen. Wären wir des anderen vollständig gewiß, bedürfte es nicht der Hoffnung auf seine Standhaftigkeit und die Erfüllung seiner Zusage.

Auch wenn Ärgernisse nicht ausbleiben und wir angesichts der Treulosigkeit der Welt die Fassung und den Kopf verlieren mögen, werden wir doch, aus dem Gewirr der Stimmen jene freundliche, gebietende, himmlische heraushörend, die uns zu uns zurückruft, die Haltung nicht ganz aufgeben oder wiedergewinnen.

Hüten wir uns vor den Parolen der Radikalen, den radikalen Parolen, die eine utopische Welt ohne Zwielicht, eine Welt der Gewißheiten und der blendenden Durchsichtigkeit in Aussicht stellen, eine scheinbar befriedete und glückselige Welt, in der wir nicht mehr wanken und schwanken, nicht mehr sündigen können! Denn schwach zu sein und der Sünde ausgesetzt, ist nicht nur die Bedingung für unser Unglück, sondern wenn Bedingung des Unglücks, so auch Bedingung unseres Glücks.

Wenn die Sonne im Zenit steht und wir keinen Schatten mehr werfen, erstarrt die Seele im Augenblick des Pan. Nur wenn die Schatten wachsen, nur wenn die Schatten wandern, schreiten wir den schillernden Farbkreis des Gemütes ab, werden uns die Dinge im Claire-obscur rätselhaft und verwandt.

Und auch kein Glück, keine Wonne, keine Beseligung ohne das Zwielicht der Angst. So das Kind, dem die gute Hand der Mutter die Gespenster vertreibt, so der Wartende, dem ein Blatt, ein plötzlich hervortretender Schatten, der Ruf eines Vogels die Ankunft bezeugt.

Der radikale Skeptiker, der im Zwielicht nur die Abwesenheit der platonischen Sonne gewahrt, hat keine Haltung und ist der Verräter, der mit sardonischem Lächeln und geschürzten Lippen von der Hoffnung redet wie vom verfaulten Apfel, vom Versprechen wie vom Kopfsprung in die Styx, von der Treue wie vom Knüpfen des eigenen Stricks.

Im Zwielicht leben heißt das Abenteuer der Zeitlichkeit zu wagen.

Abenteuer der Zeitlichkeit: Die Haare wachsen nach, der Dreck unter den Fingernägeln kehrt wieder, die Worte, die nachdrücklich gesprochenen, die Psalmen und die Flüche verwehen, du sitzt vor den unentzifferbaren Kreidezeichen auf der Tafel, da schrillt die Schulglocke und du erwachst.

Wir gehen die ausgetretenen Pfade, hier tritt kein Gespenst aus dem Dickicht, wir nehmen die Abkürzung, um nicht zu spät zu kommen. Doch nur wenn wir beherzt den kindlichen Schritt ins jungfräuliche Grün tun, schwebt uns der Paradiesvogel über den Weg. Nur weil wir heute einen Umweg entlang trödelten, stießen wir auf das längst vergessene, moosüberwachsene Denkmal, das uns an die Jugendzeit gemahnte.

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