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Nächtliche Blitze

05.04.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Fremdheit und Ausgesetztheit erfuhren wir beim Gewitter in der Nacht – oder war mit den Blitzen die sie intensivierende Nacht selbst hereingebrochen? –, dort auf dem Feld, als schon schwere, dunkle Tropfen auf die Blätter klatschten, doch die weißen, aufzuckenden Sicheln und Farne des Lichts dünkten uns seltsam trocken, und es war der nachbarliche Bauer und sein Knecht, die uns Kinder unter die Plane steckten, und schon rumpelte der Karren unter dem Schnauben des Kaltbluts. Wir lugten aber bang und vor Kälte oder dem Schauer der Bilder zitternd unter der Plane hervor in das stumme Drama der nächtlichen Blitze, denen noch lange der Donner nicht folgte, der uns, bei stärker einsetzendem Regen, wie ein erlösendes Zeichen erschien.

Plötzlich verirrt im Traum, man kennt noch jenes Fenster, dieses Tor, jene Kirchturmspitze, aber weiß nicht mehr, in welcher Stadt man gelandet ist, ist es eine Stadt am Rhein, an der Küste der Normandie, der Bretagne, aber wüßte man auch um die Nähe des Meeres, sein Rauschen hört man nicht – und wie kommt man zurück, doch was heißt zurück, nach Hause, aber welches Zuhause; doch nie geht die Fremdheit soweit, daß man sich seines eigenen Namens nicht mehr erinnerte; oder darum nicht, weil man schon namenlos ist?

Die knirschende und knackende Stimme aus dem Sprechapparat, den man dem an Kehlkopfkrebs Erkrankten eingebaut hatte, Stimme, die klang, als würde sie aus einem phonographischen Archiv jeweils die zur Situation passenden stereotypen Wendungen abgreifen und wiedergeben. – Der Gedanke, daß auch wir, könnte man sagen, über einen solchen Apparat verfügen, nur organischer Bauart, und was ist das korrespondierende Hirnareal anderes als das akustische Archiv, in dem die über viele Jahre aufgezeichneten Wendungen und Phrasen, zu beständigem Abruf bereit, niedergelegt sind.

Was läßt uns sagen, jene vor Dezennien auf Tonträger gebannte Stimme des Kameraden sei dieselbe oder jener ähnlich, die wir kürzlich am Telefon vernahmen. Aber, hören wir genauer hin, ist die Ähnlichkeit nur eine Vermutung und ginge ganz verloren, wüßten wir nicht um die Identität der Person. – Doch was ist die Identität der Person, außerhalb einer gleichsam juristischen Rhetorik, wenn sie sich aus solchen Bestandteilen wie dem Aussehen, der Mimik, der Gestik, der Gangart, der Stimme und Sprechweise und anderem dieser Art zusammensetzt, Bestandteilen, die wie es scheint einem bis ins innerste Mark vordringenden und es aufzehrenden Vorgang der Verwandlung ausgesetzt sind?

Wohl ist, was wir fühlen, denken, uns vorstellen und woran wir uns erinnern, ähnlichen Prozessen der Verwandlung ausgesetzt wie unser Aussehen, unsere Mimik, unsere Stimme; wohl, was wir sagen und wie wir es sagen, doch die Bedeutung dessen, was wir sagen, was wir meinen, bleibt als eine gleichsam unkörperliche Form und Struktur relativ konstant. Die Konstanz gewährleistet nicht das Gedächtnis, das heftigeren Schwankungen und Auszehrungsprozessen unterliegt als unsere Gesichtszüge, sondern der soziale Zwang, der von außen auf uns ausgeübt wird und bekanntlich in den semantischen und syntaktischen Tiefenströmungen Epochen überdauert, mag auch das Gekräusel an der Oberfläche ephemer schwinden und sich erneuern.

Die semantische Relation von Wort und Sinn ist das soziale Korsett, von dem wir uns nur unter der Gefahr völliger Vereinsamung oder des Wahnsinns befreien können.

Wenn wir schnell lesen, entwischen uns optisch etliche Buchstaben und Silben; dennoch verstehen wir das Gemeinte.

Es muß eine Grenze der Wahrnehmung wie der von Buchstaben und Silben geben, unterhalb derer wir die Vollständigkeit des Gemeinten verlieren oder verpassen.

Würden morgen alle stottern, kämen wir bis zu einer bestimmten, vielleicht vagen und verschwimmenden, Grenze der Artikulation mit der Verständigung noch einigermaßen klar; darunter bräche sie jäh ab.

Würde aus der Minorität der Nicht-Stotterer von der Majorität der Stotterer ein König oder Anführer gekürt?

Das im Wirrwarr von Ranken versteckte Gesicht erscheint plötzlich.

Das Sonnenklare wird spät oder nie begriffen.

Was wir uns nicht vorstellen können, scheint nicht zu existieren.

Da wir uns nicht vorstellen können, nicht zu existieren, denn dies wäre anomisch und paradox, glauben wir zwar an den Tod der anderen, aber nur ziemlich unbestimmt an den eigenen.

Die Psychopathologie des philosophischen Denkens wird, vor allem bei den Meisterdenkern, eine Fülle von Befunden ausmachen, etwa wahnhafte Ideen von angeblichen, aber chimärischen Wesenheiten wie Gegenstand und Ding, Materie und Geist, Bedeutung und Bewußtsein.

Der Kult der Wesenheiten gehört zu den spirituellen Sonderangeboten, die säkulare Philosophie jenen macht, denen der Boden der religiösen Tradition unter den Sohlen bröckelt oder weggebrochen ist.

Die Vulgarisierung des Christentums mündet in Gesinnungsheuchelei und Herz-Jesu-Sozialismus.

Alchemie der Schmerzen: Pascal, Baudelaire.

Schauen wir uns die botanisch, architektonisch und ästhetisch sinnreich und harmonisch angelegten, mit malerisch komponierten Beeten, plätschernden Brunnen und aus mythischen Schatten jählings hervorlächelnden Figuren belebten Parke des Ancien Régime, des kaiserlichen und königlichen Hofs oder der großen Familien wie jener der Medici an, die nach dem Wort Baudelaires Schönheit, Ordnung und Luxus ausstrahlen; da erblicken wir sie noch unter schattigen Lauben und blumenbunten Sonnenschirmen mit halb entblößter, porzellanfahl wogender Brust Arm in Arm daherschlendern und sich dabei Seifenblasen schillernder Bonmots oder leichtgeschürzter Plaisanterien zuhauchen, Madame La Beauté, Madame La Grâce und Madame La Noblesse, während ihnen schokoladenbraune kleine Buben in cremefarbener Livree unter die lässig gerafften Röcke purzeln. Wir sehen die eine ihren zierlichen Fuß in das köstlich-kühle Naß des Brunnens tauchen, in dessen Gischt der Regenbogen ihrer müßigen Träumerei langsam verweht, während die zweite der dritten, wohlig an den breiten Rücken eines muskulösen, in eine pompöse Admiralsuniform gesteckten Negersklaven von den ozeanischen Inseln gelehnt, die Fingernägel anmalt. – Vergleichen wir diese Gärten grünenden Charmes, die nur für das Blaue Blut und jene, denen statt seiner eine adelige Gesinnung Noblesse verlieh, zugänglich waren, mit dem wüsten, kloakenhaft verhunzten und von krakeelendem, tätowiertem und mit verbranntem fauligem Fleisch die blaue Luft verräucherndem Gesindel aus aller Herren Länder okkupierten Wahrzeichen zeitgenössischer Lustbarkeiten, dem Krethi und Plethi offenstehenden Volkspark, fällt uns spätestens wieder ein, warum es uns schon aus rein physiologischen und ästhetischen Gründen verwehrt ist, dem Kult der Trikolore zu huldigen.

Sie kämpfen leidenschaftlich für die Freiheit der Meinung, die ihnen mittels schulischer und medialer Abrichtung eingetrichtert worden ist.

Jenes Welttheater, für dessen Aufführungen wir auf ein Dauerabonnement gerne verzichten.

Der Stotterer, der Paranoiker, der Invertierte sind in den Maulwurfsaugen der Schwatzbuden-Intellektuellen keine pathologischen Fälle, sondern „anders begabt“; was aber ist mit dem Kleptomanen, dem Vergewaltiger, dem Kinderschänder? Schon sind sie mit ihrem Latein am Ende? Ach nein, die Zeitgeist-Kretins philosophieren weiter.

Die Übergangszone zwischen dem normalen oder gesunden und dem kranken Zustand mag noch so diffus sein; aber sind wir einmal von einem zum anderen gelangt, wird die Sache klar, gibt es kein Zurück, sind wir ein Krüppel oder liegen im Sterben.

Konformismus: die Verleugnung kultureller und natürlicher Unterschiede durch hochtrabendes Geschwätz, blutleere Rhetorik, moralbetäubte Euphemismen.

Die Frau ist nicht nur diejenige, die gebären kann, sondern in allen wesentlichen Hinsichten vom Mann verschieden: Motorik, Hautempfindung, visuelle und olfaktorische Ansprechbarkeit, Präferenz sensorischer Reizquellen, seien es Farben, Düfte, Klänge.

Was der Kerl längst verdaut hat, daran würgt ein Mädchen noch etwas länger.

Die Voraussetzung dafür, etwas nicht zu verstehen, liegt in dem Umstand, vieles schon verstanden zu haben.

Welche Naivität und geistige Blindheit bezeugen jene, die angesichts eines gestern hereingebrochenen Krieges heute bekunden, in einer neuen Welt aufgewacht zu sein oder eine Zeitenwende zu erleben.

Scheel angesehen, beschimpft, diskreditiert zu werden erscheint den meisten noch besser, als ignoriert und mit Schweigen übergangen zu werden.

Dämonen, die uns necken oder zwicken, ziehen wir den Engeln vor, die leise mit den Flügeln rauschen, wenn wir schlafen wollen.

Die Weltseele und der Weltgeist der idealistischen Philosophie sind das Surrogat des väterlichen Gottes, der lächelnd oder grimmig auf die Schar seiner Erwählten hinabblickt, Surrogat, das hinter der Intensität des familiären Bezuges auf enttäuschende Weise zurückbleibt.

Der Trick, sich der so sehnlich vermißten Aufmerksamkeit zu vergewissern, besteht darin, in die Opferrolle zu schlüpfen.

Am Typus des Propheten und des Dichters versagen moralische Maßstäbe; Moses und Paulus waren Totschläger, Verlaine beging einen Mordversuch an Rimbaud, Celan an seiner Frau.

Verlaine, der schmutzig lebte, soff und herumhurte, verfaßte Verse von kristalliner Reinheit; er, der dem Laster der Unreinheit frönte, legte der jungfräulichen Madonna betörend duftende Lilien schneeiger Verse auf den Altar.

KZ und Gulag sind kein Bruch der Zivilisation, sondern die Hölle, in der ihre fortschreitende Linie mündet.

Was sagt die Meereswelle? Ich komme, ich gehe, ich kehre wieder.

Was sagt die Nacht? Ich bin tiefer als das Dunkel in dir, denn dies gebiert keinen Stern, mir aber glänzen Augen, mir glänzen Tränen.

Was spricht der Wind mit dem Blatt? Wir sind verschworen, nur wo du rauschst, nur wo du flatterst, bin ich zu finden.

Der Auswurf der See am einsamen Strand, Qualle, Seestern, Muschel und Treibholz, ist wie der Traumrest zwischen den Zeilen, den keiner zu deuten vermag.

Ballen, häufen, verklumpen sich die Zeichen, verschwimmt der Sinn. Ein Sturm muß kommen, damit sich das tote Laubwerk lichtet und frisches Blau durch die Zweige tropft.

Über der Geborgenheit des Wohnens der Menschen, der Sprache, zucken nächtliche Blitze.

Der Dichter geht nach draußen in die Nacht, bis der Schimmer der heimatlichen Fenster, ja die Erinnerung an diesen Schimmer, sich mit dem glänzenden Schaum des Grenzenlosen vermischt.

 

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