Feuer in der Nacht
Die Wolke schwebt, von zartem Hauch getragen.
Die Knospe mag vom Tanz der Biene schauern,
auf schwanken Fingers Kuppe kann sie dauern.
Uns hemmt, die Hand am Türgriff, das Verzagen.
Der Hund scheint, japsend nach dem Ball, zu fliegen.
Wie unverdrossen gurren Turteltauben,
der Amselschlag, er zeugt von tiefem Glauben.
Uns reut, daß wir vor Kummer nicht geschwiegen.
Was, Dichter, kann den Vers ans Licht dir heben,
irrst du im Dickicht blütenloser Zeichen,
Gestrüpp, wo nachts nur blinde Mücken glimmen?
Das Feuer sieh, dort, wo noch Hirten leben,
ihr trunknes Singen, eil, es zu erreichen,
bevor des Wachtraums Bilder dir verschwimmen.
Was die Katze denkt
Du dünkst, o Mensch, dich einzig hier,
und blickst voll Schwermut, ist ein Funken
aus meinem in dein Aug gesunken.
du Taggespenst, halb Geist, halb Tier.
*
Du stellst mir den zermatschten Schmaus
in einem Napf stolz vor die Nase.
Doch dämmert es. lieg ich im Grase
und fang sie mir, die ganze Maus.
*
Nichts eint dein fahriges Verlangen
mit meinem sichern Wohlgefühl.
Ich bin im Augenblick am Ziel,
dir zittert noch die Lust vor Bangen.
*
Ich bin daheim, wenn deine Hand
mich streichelt, träumerisch und mild.
Dir ist die Heimat unbekannt,
steht auch dein Name auf dem Schild.
*
Ich bin die wahre Gott-Natur,
das Stirb und Werde eines Goethe.
Im Schnee der Nacht bist du die Spur,
die hinschmilzt in der Morgenröte.
Dana Gioia, Insomnia
Now you hear what the house has to say.
Pipes clanking, water running in the dark,
the mortgaged walls shifting in discomfort,
and voices mounting in an endless drone
of small complaints like the sounds of a family
that year by year you’ve learned how to ignore.
But now you must listen to the things you own,
all that you’ve worked for these past years,
the murmur of property, of things in disrepair,
the moving parts about to come undone,
and twisting in the sheets remember all
the faces you could not bring yourself to love.
How many voices have escaped you until now,
the venting furnace, the floorboards underfoot,
the steady accusations of the clock
numbering the minutes no one will mark.
The terrible clarity this moment brings,
the useless insight, the unbroken dark.
Schlaflosigkeit
Nun hörst du, was das Haus zu sagen hat,
Rohre scheppern, Wasser, das im Dunkel fließt,
die verpfändeten Wände rucken voll Unbehagen,
und Stimmen schwellen an, ewiges Brummen
und kleines Klagen, so klingt Familienleben,
das all die Jahre du zu überhören lerntest.
Nun mußt du Dingen lauschen, die dir eigen,
für die geschuftet du die letzten Jahre,
es murmelt dein Besitz und sein Verfall,
die losen Teile, die noch unerledigt blieben,
und die zerknüllten Laken erinnern an all die
Gesichter, die zu lieben du unfähig warst.
Wie viele Stimmen dir bislang entgingen,
Ventilatoren, Knarzen, tritt wer auf Dielen,
die unermüdlichen Anklagen einer Wanduhr,
Minuten zählend, doch zählt niemand mit.
Die schreckliche Klarheit dieses Augenblicks,
die nutzlose Einsicht, Dunkel, das nicht wich.
Siehe auch Rezitation durch den Autor:
https://www.youtube.com/watch?v=6uJ6v43wrpk
Dana Gioia, The Lost Garden
If ever we see those gardens again,
The summer will be gone—at least our summer.
Some other mockingbird will concertize
Among the mulberries, and other vines
Will climb the high brick wall to disappear.
How many footpaths crossed the old estate—
The gracious acreage of a grander age—
So many trees to kiss or argue under,
And greenery enough for any mood.
What pleasure to be sad in such surroundings.
At least in retrospect. For even sorrow
Seems bearable when studied at a distance,
And if we speak of private suffering,
The pain becomes part of a well-turned tale
Describing someone else who shares our name.
Still, thinking of you, I sometimes play a game.
What if we had walked a different path one day,
Would some small incident have nudged us elsewhere
The way a pebble tossed into a brook
Might change the course a hundred miles downstream?
The trick is making memory a blessing,
To learn by loss the cool subtraction of desire,
Of wanting nothing more than what has been,
To know the past forever lost, yet seeing
Behind the wall a garden still in blossom.
Der verlorene Garten
Wenn je wir diese Gärten wiedersehen,
verging der Sommer – zumindest unser Sommer.
Und andre Drosseln singen Serenaden
in jenen Maulbeerbäumen, andre Reben
erklimmen steil die Wand, bis sie entschwinden.
So viele Pfade, die den alten Grund gekreuzt –
glanzvollerer Epochen Land der Anmut –
so viele Bäume, Zwielicht dem Kuß, dem Zwist,
die Fülle Grüns für eine jede Stimmung.
Welch ein Vergnügen, traurig hier zu wandeln.
Im Rückblick jedenfalls. Sogar der Kummer
scheint ja erträglich, betrachtet aus der Ferne.
Und sprechen wir von unserm eignen Leiden,
birgt schon den Schmerz, die gut ausgeht, die Fabel,
als handle sie von einem gleichen Namens.
Selbst dein gedenkend, spiel ich gern ein Spiel.
Was, hätt uns einmal andrer Pfad verlockt,
ein kleiner Störfall unsern Schritt gewendet,
dem Kiesel gleich, der in den Bach geschleudert,
im fernen Tal den Flußlauf ändern mag?
Trost aus Erinnerung schöpfen ist die List,
und am Verlust die Subtraktion des Wunsches
die kalte, lernen, nur wollen, was geschah,
wohl wissen, vergangen heißt für immer, und
doch hinter Mauern den Garten blühen sehen.
Siehe auch Rezitation durch den Dichter;
– https://www.youtube.com/watch?v=HMg05f7hrMI
Hoffnung für Dichter
Ist es schon Herbst, hier liegen Blätter, fahle.
Ich hab so lang geschlafen und mir war,
der volle Mond stand überm Totenmaar,
ein Blütenblatt sank in die runde Schale.
Als könnte noch ein süßes Wort mir reifen,
schien eine Frucht im dunklen Laub erglüht,
ein starrer Schatten, der umsonst sich müht,
konnt ich nach ihrer Lebensglut nicht greifen.
Duftloses Blühen wie an blauen Scheiben,
bizarres Ranken mag dich Verse lehren,
die wie der Schwermut schwarzes Blut gerinnen.
Doch sollst du, Dichter, nicht im Finstern bleiben:
Wenn ihn die Küsse jungen Lichts verzehren,
wird dir der Vers im Blumentau zerrinnen.
Proserpinas Bote
Wie Veilchenschlummer will der Himmel scheinen,
Erinnerung steigt schon im Duft der Wiesen
aus lang begrabnen Kindheitsparadiesen,
der Lerchen Jubel macht mich weinen.
Gewiß, nur Wasser sprudelt aus der Quelle,
und doch ist mir, als sänge eine Tote,
wie Proserpinas schwermuttrunkner Bote,
süß flüsternd auf des Schlafes banger Schwelle:
„Laß, Dichter, dich von meinem Schaum berücken.
Wie einst an mütterlich gewährten Brüsten
magst du Vergessen aus der Quelle trinken.
Ich will des Liedes Knospe sanft zerpflücken.
Mit weißen Blüten, still vom Mond geküßten,
sollst du in meine dunkle Schale sinken.“
The apparition of these faces in the crowd:
Petals on a wet black bow.
In einer Metrostation
Sie scheinen auf, Gesichter in der Menge:
Blüten eines Zweiges, naß und schwarz.
Siehe auch die Interpretation durch Dana Gioia:
https://www.youtube.com/watch?v=V5QGdlGAQBM ab 18:09
Der Engel des Propheten
Gleich Fenstern, wenn sie trübe Dünste flecken,
ist uns die Sicht vom eignen Hauch verschwommen.
Vom eitlen Pochen unsres Bluts benommen
kann uns der Hymnen Anruf nicht mehr wecken.
Wie jene Jünger, die am Ölberg dösten,
da bittern Trank der Meister hat getrunken,
vergaß das Herz, in fahlem Traum versunken,
die Worte, die es aus dem Banne lösten.
Hörst, Dichter, du das Knirschen nicht der Bohlen,
die Schritte auf dem Gang, die aufgewehten
nicht an die Scheibe schlagen, Efeuzweige?
Daß deine Lippen mit der Glut von Kohlen
entsiegle jäh der Engel des Propheten,
dein Haupt sich seinem Flügelrauschen neige!
Fronleichnam
„Ihr Huldigungen, Anmut der Gebärde!
Wenn Kinder Blüten streuen auf den Wegen,
den Blumenteppich breiten hohem Segen,
der Licht bringt in die Sündennacht der Erde.
Wir ziehen wie einst Wanderer durch Wüsten
dem Schimmer nach, dem Wunderprunk der Wolke.
Das Brot des Heiles flockte hin dem Volke –
daß einmal Engel uns am Tor begrüßten!“
„Siehst du am Rand den bleichen Dichter stehen,
gehüllt ins Dämmergrün der Weidenruten?
Er neigt sich wohl solch mystisch-heiterm Bildnis,
doch ist zu krank, gen Eden mitzugehen.
Ihn rufen schon im Traum der Lethe Fluten,
darauf kein Blatt mehr schwimmt, die Schattenwildnis.“
Laß Tränen sprechen
„Es war wohl Sommer, grünen Lichtes Weben,
da gläubig wir uns Blick an Blick gehalten,
die keine Schatten werfen, Traumgestalten,
schien uns ein süßer Duft emporzuheben.
Und hörten wir nicht aus der Höhe tönen
die weiße Muschel einer Waldkapelle,
als strömten Hymnen aus azurner Quelle,
uns mit der Nacht der Schwermut auszusöhnen?“
„Nun, Liebster, da der Winter uns geschieden
und zwischen uns gehäuft sind weiße Hügel,
sind nah wir uns, wenn die Kristalle tauen.
Laß Tränen sagen, ruh in Gottes Frieden.
Es rausche noch Gesanges sanfter Flügel,
daß meine Blüte bebt auf lichten Auen.“
Der Aufflug aus dem Lärm
„Geschrei, Gedudel, Klirren und Gepolter,
wer kann vorm Lärm des Lebens sich verkriechen,
versickert dort das Röcheln eines Siechen,
quillt Schluchzen hier in dunkler Lüste Folter.
Und wähnst du in der Nacht die Seele sicher,
als könne Traumes Talg das Ohr versiegeln,
hörst du Lemuren über Leichen flügeln,
und, dich zu foppen, Amors Wahngekicher.“
„Nur in der Dichtung Maß, der Metren Fuge,
kann sich des Lebens Wirrklang jählings lichten,
sich läutern trüber Ton zu blauer Woge.
Des Azurs Schaum teilt es im hohen Fluge,
doch auf die Heimkehr muß das Lied verzichten.
Fern tönt sie schön, die Flöte der Ekloge.“
Stäbe für die Blinden
„Das Herz, den Puls fühl ich, den Vers erlahmen,
beim Wandern, einsam, durchs Gebirg der Zeichen,
kein Helikon kann mir den Quelltrunk reichen,
kein Zion mir die Inschrift hoher Namen.
Das Beste wäre wohl nicht weitergehen,
sich hinzulegen in den Abendschatten,
den Geist in süßem Singsang zu ermatten,
im Rauch erloschner Feuer hinzuwehen.“
„Es ist zu suchen nichts und nichts zu finden,
die Zeichen sind nur schwachen Odems Brücken,
und unter ihnen strömt die graue Lethe.
Das A und O sind Stäbe für die Blinden,
ins Dunkel vorzutasten Seelenkrücken,
nie glänzt der Reim wie Tau im Blumenbeete.“
Gang ins Abendrot
Ins Abendrot, wenn sich die Schatten längen,
ist uns ein Gang zu zweien noch beschieden,
als blaue Abgrundtiefen Gottes Frieden,
als tropfe goldnes Licht in Abschiedssängen.
Das Ungesagte quillt wie Tau der Rose
in deiner Augen Dunkelglanz und Feuchte,
daß wieder mir dein sanftes Lächeln leuchte,
tut sich der Himmel auf, die Herbstzeitlose.
Hat auch die Bläue Wolke überquollen,
macht dunkles Brausen Laub und Gräser zittern,
scheint Mondes zarte Barke wie verschollen,
wir halten eins am andern uns gleich Ranken,
die fromm sich kreuzen wie zu Schweigegittern,
wenn ihre Blüten auch im Winde schwanken.
Traum im Schnee
Als könnte nie das Herz dir wieder tauen,
als wehten Flocken, tote Sporen Lichts,
stapfst du im Schnee der Nacht durchs helle Nichts,
der Heimat fern, fern von den Sonnenauen.
Da ist kein Wort, das dir noch könnte dienen
zu Stab und Stecken in der blinden Hand,
kein Bild, zu leuchten dir als Unterpfand,
daß deiner Heimkunft Rebenblätter grünen.
Und jählings hörst du im Gestöber Singen,
als würden Kinder fröhlich Blüten streuen,
dem Heil der Welt den Teppich hinzubreiten.
Du schläfst im Schnee, umhüllt von warmen Schwingen,
dir träumt, wie Sprossen sich im Licht erneuen
und Herzen sich wie Rosenknospen weiten.
Der Asphodele Widerschein
Schief sitzt der Alte auf der Bank, der schmalen,
allein und wartet, wartet auf das Abendrot,
das oft ihm schon den Trank der Stille bot.
So trinkt das Dunkel auch der Rose Strahlen.
Und in der Tiefe scheint der Strom entzündet
von dieses Sommerabends Abschiedsglut.
Ihn drängt das Herz zu sagen, es ist gut,
doch flieht das Wort ihn, das die Lippen ründet.
Erloschen ist die Sonne, ist die Rose,
und wie am Jenseitsfluß die Asphodele
geht auf die Knospe Mond, die hoffnungslose.
Ihm ist, als ob er bald den Schatten träfe,
der scheidend ihn zerschnitt, die Schwesterseele.
Schon kühlt ihm Nacht, die heiß geklopft, die Schläfe.
Der Liebe zarter Schatten
„Ich hoffte jenen Garten noch zu finden,
wenn feucht vom Abendhauch die Blüten schauern.
Verschlossen liegt er hinter hohen Mauern,
wo sich des Efeus Krüppelstrünke winden.
Als hätte deine Stimme ich vernommen,
verhielt den Schritt ich, um ihr nachzulauschen,
doch schwand sie in ein dumpfes Blätterrauschen,
das Sonnenlaub, vom kalten Mond beklommen.“
„Zu hoffen nichts und nichts mehr zu erwarten,
so klafft uns Stille auf, die dunkle Wunde.
Wie süß ist es, an diesem Schmerz ermatten.
Fern tönt ein Quell, Geschluchz aus einem Garten,
das Abendrot erlischt, die späte Stunde,
und er verschwimmt, der Liebe zarter Schatten.“
Der Träumer hinter Mauern
Nicht Hecken, rundgeschnitten, nicht Fontänen,
die im Minutentakte Gischt versprengen,
uns leuchte jählings zwischen Laubengängen
auf blauen Wassern Schnee, Gesang von Schwänen.
Kein Kies soll knirschen uns auf Sonnenpfaden,
die sich um Plastik-Amoretten winden,
die Nymphe löse unser Tagempfinden,
wenn wir im Licht von Mondsonetten baden.
Hat schon erstickt Asphalt die weichen Moose
und schwitzt das Blech vor eingezäunten Teichen,
dir hauche, Dichter, kühlen Schlaf die Rose,
es glänze dunkles Blattwerk unter Schauern,
ein Singsang tropfe hell im Wald der Zeichen,
träumst du auch hinter schwermutkahlen Mauern.
Blauer Ton von Hirtenflöten
Will der Wolke Schaum sich röten,
dunkelt es im Garten schon,
Nacht erweicht ein blauer Ton
wie von fernen Hirtenflöten.
Blieben uns auch nur die Bilder
aus Gedichten von Verlaine,
süße Stimmen von der Seine
machen unsre Trauer milder.
Hat ermattet uns sein Strahlen,
nachtwärts rollt der Feuerball,
und er taut, der Schmerzkristall,
schimmernd rinnen hin die Qualen.
Perlmutt unter Aprikosen,
goldner Schlaf im Dämmerschnee,
wie ein Vers von Mallarmé
tropft der Tau von weißen Rosen.
Einer Knospe trunknes Schweben
über schwarzen Wassern bleich,
Trost aus einem stillen Reich
bringt der Mond dem müden Leben.
Das Erblinden des Worts
Wie konnte nur, kaum angeschaut, zerrinnen
der Liebe Angesicht? Was du verehrt,
das Blumenwort, des hohen Odems wert,
ein trüber Traum mit grauem Garn umspinnen?
Die Farben auch, sie müssen endlich blassen,
als wäre schon der Knospe Tag verblüht
und unterm schweren Lid die Iris müd,
sie mag nur Schatten, keinen Strahl mehr fassen.
Wird auch das Wort im Dämmerlicht erblinden,
das mittags noch vom Blut der Rose schwoll,
kann es das Schwesterwort noch wiederfinden,
mit ihm zu wandeln über Mondes Brücken,
zu flechten Vers um Vers geheimnisvoll,
bis Reimes Blüten in das Dunkel blicken?
Auf den Tod eines Sperlings
Keiner ist, es zu hüten, ein kleines Leben, scheu flügelnd
einsam in sternloser Nacht, hat es sich blindlings verirrt.
Spät erst hast du’s gehört, das klägliche, kindliche Fiepen,
das durch das Regenvlies drang, dunkel hinströmenden Samt.
Angelockt wohl vom dunstigen Schein deiner Lampe,
stürzte das flatternde Nichts, war doch ein Fenster gekippt,
in deine Loggia. Gefangen, sucht es, sucht es vergebens
sich einen Ausweg und fliegt aufwärts, sinkt abwärts zurück.
Du aber konntest zur Flucht ihm nicht mehr verhelfen,
hat auch zerrissen das Herz wieder und wieder sein Schrei.
Jählings, wie ward alles still, so still wie die orkische Tiefe,
wenn die Schatten gestillt Lethe mit bitterem Trank.
Und du gabst es verloren, bis im grauenden Dämmer,
ach. seine Schwestern so süß stimmten ihr Morgenlied an.
Da, als wollte er einmal, noch einmal mit ihrem verschmelzen,
tönte er schwach, sehr schwach, Sperling, dein sterbender Ruf.
Mittags endlich hast du dich doch überwunden und suchtest,
suchtest, bis du es fandst: Winzig, ein flauschiger Fleck,
lag das verendete Tier, schief ragte der gelbliche Schnabel,
der das Erdreich durchwühlt, Körner gepickt und den Wurm
der noch gestern im Grünen vom luftigen Dasein gezwitschert,
doch die Kralle, sie stach rätselstarr in die Luft.
Herz, sich selber genug, eine Welt, unter Federn verborgen,
zart wie die Knospe aus Schaum, grubest ins Erdreich du ein.
Die wiedergefundene Stimme
Ward eine Stimme erstickt, wie ist voller Grauen die Stille.
Hat sie gerufen nach dir, scheinst du dir selber wie tot.
Stimme, die einst die Blüten, des Gartens Früchte besungen,
Lied von betörendem Duft, Duft einer südlichen Frucht.
Aber wenn sie im Rauschen des Wassers, im Rauschen der Zweige
unversehens erwacht, wird alle Nähe dir fern,
gehst Nachtwandlern gleich du im Zwielicht dämmernder Blätter
auf dem schwindelnden Grat Abgrund gewordener Welt.
Willst du ihr schimmerndes Fließen im schmalen Versbette bannen,
sieh, wie es blaßt und jäh sickert ins Dunkel hinab.
Willst du ihr Bild mit den Maschen zierlicher Zeichen umfassen,
Farbe des Flügels zerstäubt, geht dir der Falter ins Netz.
Selbst den du meißeln ließest in Stein, den Namen der Liebe,
schon hat verwischt ihn die Zeit, Witterung tilgt ihn und Moos.
Nein, du taste in wandernden Schatten ihr nach, wenn sie blauen
unter der Knospe des Monds, tuet sie auf sich dir ganz.
Lehne am offenen Fenster der Sommernacht, lausche den Tropfen,
fern in verwunschenem Hort quillt es noch silbern und hell.
Am Nachtsaum des Waldes
Klang eines Hornes im Dunkel und klagend wie die Oboe
ist es verhallt, unser Lied, Hauch nur im Blättergewirr.
Laß uns ein wenig noch wandeln am Nachtsaum des Waldes,
wo sich schon feuchtet das Gras, aber das Auge dir auch.
Brachte dem Herzen Dürre die gierige Flamme des Tages,
Tau schenkt die Ankunft der Nacht, Tränen vergehend dein Blick.
Was der Abgrund verhüllt, darüber wollen wir schweigen,
Wort, es reicht nicht hinab, Schaum einer Seerose gleich
treibt es träumend dahin auf ruhelos wogenden Wassern,
träumend im eigenen Duft, fleht es um Duft noch zum Mond.
Mond, er soll sie füllen auch uns, die schweigende Leere,
bis er im Dickicht versinkt, bis uns ein hellerer Schein
über dem schwarzen Samt, den seufzenden Moosen der Schwermut,
Seelen der Anmut erweckt, leuchtenden Vogelgesang.
Die übers Knie gelegte Muse
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Dum vitant stulti vitia, in contraria currunt. Horaz
Allzu Rührselige, die stets grämlich blicken.
Eitelkeit der moralisch Empörten, die ihre schwülstigen Phrasen jederzeit ins richtige Mikrophon kreischen.
Der buntfiedrige, krächzende Ara, der sich freiwillig in den Käfig der Vernunft einschließen ließ; freilich, der stets nachgefüllte Futternapf ist dem Sklaven lieber als das gefahrvolle Dasein des Freien in der Wildnis der Phantasie.
Der von gewalttätigen Impulsen Bedrängte, der schüchtern tut.
Die stinkende Seele, die sich mit Eau de Cologne besprengt.
Unglückliche, die andere auf tyrannische Weise zu ihrem Glück zwingen wollen.
Perverse, die das Reden über Normalität verbieten wollen.
Radikale Skepsis bürdet dem Packesel des Alltagsverstands eine solche Last an gewichtigen Kriterien sicheren Wissens auf, daß er darunter zusammenbricht.
Wir wissen, was wir fühlen, wünschen, hoffen oder befürchten, auch wenn der Gegenstand unseres Fühlens, Wünschens, Hoffens und Fürchtens manchmal vage, ja unbestimmt sein mag.
Können wir das Unmögliche wünschen, wie wir wider alle Hoffnung zu hoffen wagen?
In der unendlichen reflexiven Schleife verdunstet das Wissen des Wissens.
Allen das Recht auf ungehemmte Selbstverwirklichung zubilligen verunstaltet den Rest an Kultur zu einer abschreckenden Freakshow.
Bei der Gretchenfrage hüllt sich der anständige Philosoph in Schweigen.
Geistreich schreiben wie Horaz heißt einen ernsten Sinn in das leichtgeschürzte Gewand einer Sentenz stecken.
Gelehrt tuende Frauen vergällen den Eros, gebildete würzen ihn.
Sapere aude; aber der Angesprochene versteht kein Latein.
Kultur und Ethnos: dorische, ionische, korinthische Säule.
Was im Vers des Dandys wie eine glänzende Locke sich bauscht, ist nur ein künstliches Haarteil.
Die goldene Laute Apolls, die silberne Flöte des Pan; das Geheul der elektrischen Gitarre und das Quäken des Saxophons.
Die Haut der griechischen Schönheit ist Milch und Schnee, ihre wallende Locke vom Gold homerischer Sonne. Sie beliebt zu schweigen, auf daß sich die Lippe nicht kräuselt. Nur aufgeklärte Narren wollen mit ihr diskutieren.
Was einzig Atem hat und Leben, das Konkrete, wir sehen, wie es am Strick des Allgemeinen baumelt, wie es ans Kreuz des Abstrakten genagelt wird. – So hat schon Sokrates die Muse übers Knie gelegt, um aus ihr, mag sie winseln, mag sie schreien, eine allgemeingültige Definition des Schönen herauszuschinden.
Tourismus oder die Schändung und Entweihung alter Kulturdenkmäler durch stumpfe Blicke und blinde Linsen.
Der Niedergang der Malerei beginnt mit dem Bau des ersten Museums.
Erst die stählernen Muskeln des Krieges, dann der Schmerbauch des Kleinbürgers und schließlich die in einen grotesken Fummel gehüllte Schlaffheit des nonbinären Menschen.
An den löchrigen Krakelversen der Epigonen feiert man die neuen Ideale der Unentschlossenheit, Vagheit und Verzagtheit.
Die klassischen Meister wie Horaz, Vergil oder Goethe waren ihrer Sache sicher, weil sie das Boot der Sprache auch im hohen Wellengang trug.
Angesichts der fernen Schönheit der höfischen Dame hat der Verehrer seine Wildheit und Ungebärdigkeit gezähmt, das heißt, das wehende Gewand des Minnesangs in strenge Falten gehüllt.
Vulgarität will sich zeigen, zuerst maskiert oder geschminkt, dann, je häßlicher, verfallener, monströser sie im Lauf der Jahre wird, nackt.
Einsamkeit, ist sie ein Stigma der elenden, der abstoßenden Kreatur, verachten sie; mehr noch die Einsamkeit des Erwählten, der den blauen Enzian des Gipfelschnees dem Tulpenheer der Niederungen vorzieht.
Welch ein Verlust, kündet mit geschwollener Brust die Dummheit, hätte Max Brod den letzten Willen seines Freundes Kafka, seinen Nachlaß zu vernichten, nicht mißachtet. – Aber an dem, was nie ans Licht gekommen, was nie ins Bewußtsein gedrungen ist, läßt kein Verlust sich ermessen.
Man kann sagen: Wäre Mozart nicht so früh gestorben, welche erstaunlichen Werke hätte er noch hervorbringen können. Nicht aber: Wäre Mozart im Säuglingsalter gestorben, welchen Verlust an heiter-tiefsinnigen Werken hätte die Menschheit zu beklagen.
Kafka hielt die Werke, die er verbrannt wissen wollte, für unvollendet. Doch daß Vollendung ein ästhetisch-ethisches Kriterium gelungener Kunstwerke sei, gilt jenen, die das Gekritzel des Schmierenjournalisten und die Ode Hölderlins unter den Oberbegriff des Textes rubrizieren, für abwegig, skandalös, anstößig.
Das Genie wird bald von den Pädagogen und amtlich bestallten Sittenwächtern, die Hochbegabung für einen Angriff auf die Gemütlichkeit halten, wie jene monströsen Kreaturen der Kolonien in Sonderausstellungen vorgeführt, wo man sich an ihren unziemlichen Gebärden und unverständlichen Lautäußerungen delektiert hat.
Der Verfall der lyrischen Diktion: Man dünkt sich erhaben über die rhythmische Ordnung des Verses, die an den natürlichen Puls des menschlichen Herzens gebunden ist. Und jedwede Rede von Bindung, und Poesie ist im Gegensatz zur Prosa gebundene Sprache, wird von der Menge der Dilettanten, der schüchtern tuenden Zerstörer und der Wegelagerer der hastigen Impression als Maulkorb und Korsett perhorresziert.
Alle verachten den Reim; doch Eros ist es, der ihn erfand, der ihn behaucht.
Die Vorstellung, nicht geboren zu sein oder daß die Welt nicht existiere, ist absurd.
Vulgärsoziologie oder das Ende der Interpretation literarischer Werke.
Wie es philosophische Scheinprobleme gibt, so auch poetologische; ja, sie scheinen miteinander verwandt.
Die Grammatik des Wortes „schreiben“ ist nur scheinbar analog, in Wahrheit gänzlich verschieden, je nachdem, ob wir vom Schreiben eines Gedichts und Romans oder vom Schreiben eines Briefes und einer Bewerbung reden.
Der Sinn des Gedichts ist nicht die Absicht, die sein Verfasser damit verband. – Der Sinn der Bucolica des Vergil ist nur indirekt verknüpft mit der Absicht des Lateiners, den Griechen Theokrit nachzuahmen und zu übertreffen.
Der imaginäre Duft der imaginären Himmelsrose Dantes.
Wir können fragen, wie lange jemand auf den verspäteten Zug gewartet hat; nicht aber, wie lange Wladimir und Estragon auf Godot gewartet haben.
Wanderers Nachtlied ist kurz, aber hallt lange nach.
Wir sind besorgt, bekümmert, erschüttert, wenn ein Angehöriger, ein Freund, ein geliebter Mensch durch schwere Zeiten geht; aber nicht, wenn wir in Kafkas Roman lesen, daß die Familie des Boten Barnabas aufgrund der Abweisung des schamlosen Antrags des Schloßbeamten durch seine Schwester Amalia in Bedrängnis geraten ist. Nicht, weil uns das Schicksal der Figuren gleichgültig wäre, sondern weil sie keine realen in unseren Lebenskreis verwobene Personen sind, sondern gleichsam losgelöste Schatten im Schattenspiel der literarischen Zeichen.
Die immer mehr sich verdüsternden elegischen Briefe des Freundes haben uns bewogen, ihn aufzusuchen und nach dem rechten zu sehen. Die fiktiven Briefe Werthers oder Hyperions bewirken nichts dergleichen, auch wenn sie uns keineswegs gleichgültig lassen.
Kinder lernen die Bedeutung des Wortes „Blume“, wenn sie Primeln und Butterblumen auf der Wiese gepflückt, Sonnenblumen gemalt oder Blüten in ihr Poesiealbum gepreßt haben. Als Erwachsene lesen sie vielleicht die Rosengedichte von Rilke; und wissen dann, was gemeint ist, auch wenn imaginäre Blumen nicht blühen, duften oder welken.
Der Glaube an die schattenhafte Weiterexistenz eines Menschen nach dem Tod rührt auch daher, daß wir die vage Gestalt des Verstorbenen gleichsam unter Anrufung seines Namens in der Erinnerung heraufbeschwören.
Erst erscheint uns die Erinnerung wie ein Schatten der vergangenen Ereignisse; dann der Name wie der Schatten seines Trägers; schließlich, wie Wittgenstein in den subtilen grammatischen Analysen im Blauen Buch aufgezeigt hat, das Wort als Schatten des Gegenstandes und der Satz als Schatten der Tatsache. Indes können wir uns von Verirrungen dieser Art lösen, wenn wir, wie Wittgenstein ebenfalls klarmacht, einsehen, daß die Tiefengrammatik der hier relevanten psychologischen Prädikate nur scheinbar analog ist: „sich an etwas erinnern“ hat nicht die Struktur von „etwas wahrnehmen“, „etwas meinen“ nicht die Struktur von „etwas sagen“.
Ein auf seinem Fachgebiet ausgezeichneter Latinist bekennt sich coram publico zum Anflug eines peinlichen Schamgefühls bei der Lektüre der 2. Satire, in der sich Horaz unter vielen anderen Fehlhaltungen auch über effeminiertes Gebaren von Männern mokiert, die ihre Toga länger übers Knie wallen lassen, als es nach römischer Sitte den Frauen anstand. Wir diagnostizieren die Symptome einer Ansteckung mit dem Zeitgeist-Virus, der selbst Männer von überdurchschnittlicher sprachlicher Begabung – wie es scheint: wider ihren Willen – befällt.
Der Vorgang des Denkens und der Niederschrift des Gedachten gibt uns kein Kriterium zur Beurteilung des literarischen Werts und der Gültigkeit des Geschriebenen an die Hand. – Die meisten Dokumente der Ècriture automatique der Surrealisten sind gedankliche Nebel, in die dann und wann ein poetischer Blitz einschlägt, doch die rauschhafte Niederschrift der Erzählung Das Urteil durch Kafka oder (zumindest des als Eingebung erfahrenen Anfangs) der ersten Duineser Elegie durch Rilke besticht durch gedankliche Klarheit.
Eine farblose Welt, eine Schwarz-Weiß-Welt, können sich die Bewohner der Farbwelt leicht vorstellen; indes, umgekehrt könnten sich die Bewohner einer Schwarz-Weiß-Welt eine farbige niemals ausdenken. – Ersetzen wir nun den Sinn von „Schwarz-Weiß-Welt“ durch den Sinn von „nichtverbalen Gesten“ und den Sinn von „Farbwelt“ durch den Sinn von „Sprache“.
Wie es keinen Übergang gibt zwischen der Grisaille-Malerei zum farbigen Gemälde, so keinen Übergang von der nichtverbalen Verständigung mittels Gesten zur sprachlichen Verständigung.
Wenn wir die Entstehung der verbalen Sprache als einen Teil der natürlichen Evolution betrachten, müßten wir folgerichtig den Satz „Natura non facit saltus“ bestreiten.
Wer überlegene literarische Vorbilder nachzuahmen, angesichts ihrer originell zu sein versucht, gleitet bald ins Abstruse, Übertriebene, Verrenkte und Monströse ab.
Der Götze der Gleichheit und Vernunft trieft vom Blut des hingerichteten letzten französischen Königs.
Die Hinrichtung Ludwigs XVI. war der Abbruch einer sakralen Linie, die in der Taufe Chlodwigs anhebt.
Der sakrale Leib des Königs war ein exterritorialer Körper, der Nullpunkt in der Gaußschen Ebene komplexer symbolischer Zeichen.
Das Verliegen der Troubadoure
Wo helles Wasser in die Nacht geflossen
und eine weiße Blüte schwamm dahin
der Mond, hast du gerufen: „Rinne, rinn,
bis diese weiße Blüte sich geschlossen.“
Wo dunkles Wasser zum Opal gefroren
und schwarzen Mohn als Grabtuch um sich schlug
die Nacht, da schrie ich auf: „Genug, genug,
den Tod zu feiern sind wir nicht geboren.“
Laß, Dichter, dich vom trägen Sinn nicht narren,
dich weich zu betten, als wär Moos dein Wort,
gedenk, daß Rosen deiner, Lilien harren.
Gedenk, wie Troubadoure sich verlagen,
dann aber riß ein hoher Geist sie fort,
der Liebe Mundes Blume hinzutragen.
Der Tau der Psalmen
„Was mußt du stöhnend diesen Rucksack schleppen,
du torkelst, scheinst für solche Last zu schwach.“
„Süß ist die Bürde, Schmerzen halten wach,
und meiner harren Jakobs steile Treppen.“
„Da trägst du Dinge wohl von hohem Werte,
die dir am Ziel vergelten den Verzicht!“
„Aus Stein sind Tafeln es, beschrieben dicht,
die sterbend mir ein Rabbi einst verehrte.“
„Hast du entziffert denn die fremden Zeichen?“
„Es sind die Lieder, die ein Frommer singt,
soll ihm der Stern im Dunkel nicht verbleichen.“
„Lad ab die tote Last bei grünen Halmen,
den Rest des Weges gehe leicht-beschwingt,
im Laub der Nacht glimmt dir der Tau der Psalmen.“
Der hohe Wurf
Ein schöner roter Ball, in hohem Bogen,
geradewegs, als wärst nur du das Ziel,
schon Mittelpunkt in einem leichten Spiel,
kommt er zu dir, zu dir kommt er geflogen.
Du wirst nicht feige weichen, nicht dich wenden,
aufspringend fängst du ihn mit etwas Glück.
Die Kinder winken: Du wirfst ihn zurück.
Dein scheues Lächeln, wenn sie Beifall spenden.
Doch schwirrt ein fremdes Wort dich an, o Dichter,
aus rätselschönem Feenland-Idiom,
wie wird der Schwermut Auge dir schon lichter.
Mit eignen wirst du es im Kranz verwinden
und hebst auf Wellen ihn am Heimatstrom.
Mag frohe Liebe, trauernde ihn finden.
Die Rückkehr des Dichters
Liegt nun der alte Garten auch verwildert,
den Gärtner lähmte Schwermut übers Jahr,
wohl gurrt ihm noch das weiße Taubenpaar,
Gewächs der Nacht hat Schlehenschnee gemildert.
Die Rosen wird er wieder aufwärtsrichten,
vom Teiche schöpfen das verweste Laub,
bald glimmt im Moose golden Pollenstaub,
des Dickichts wirres Dunkel wird er lichten.
Kehrst, Dichter, du zurück nach bangem Schwanken,
ob dir vergönnt noch sei ein Herbstgedicht,
und siehst verworren du die Schatten ranken,
des Liedes Halme, die vertrocknet scheinen,
gießt wie verklärend dir der Mond sein Licht
auf bleiche Veilchen, die im Schlafe weinen.
An einen künftigen Dichter
Ein Trank, geschöpft aus jungfräulicher Quelle,
der eines Wandrers müden Sinn belebt,
erquickend sei dein Wort, wenn vor der Schwelle
der Mond schon Träume um die Ranken webt.
Wem aber ward die Waldnacht nicht geheuer,
er kennt den Weg nicht mehr, vergaß das Ziel,
da winkt durchs Dickicht traulich ihm ein Feuer,
und seine Schwermut hüpft, ein Kind zum Spiel.
Dein Vers, er sei der Trank, dem Freund zu reichen,
wenn ihn der Durst zu deiner Quelle lenkt,
dem Lodern ferner Flammen mag er gleichen,
das Irrsal heim, zum Hort die Angst zu leiten.
Bedenk, den Trank hat fremde Gunst geschenkt,
dein Feuer zehrt an dunklen Wachstums Scheiten.
Losgewunden
Verschlungen ineinander seufzen Seelen
wie Ranken, hat verwirrt sie dunkler Wind,
und ihre Blüten sind wie Augen blind,
ihr Duft weht nur, die Leere zu verhehlen.
Trifft sie ein Tropfen von den Schwesterblättern,
wie schmecken sie des Lebens Bitterkeit.
Es drängt sie, über Schatten, fremdes Leid,
ins fahle Grabeslicht des Monds zu klettern.
Du aber, Dichter, hast dich losgewunden,
schon knirscht in deinen Vers der Gipfelschnee,
in hoher Einsamkeit mag er gesunden.
Der Enzian schenkt ihm die blaue Hülle
und in des Azurs grenzenloser See
die Wolken Inseln unberührter Stille.
Chimären
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Einer der Jahrzehnte dem Prager Versicherungsangestellten und Tuberkulosekranken Franz Kafka hinterhergeschnüffelt und sogar seine fleckigen Unterhosen unter die Lupe genommen hat, weiß über seine Literatur, von der jener behauptete, sie einzig sei sein Leben, nur die üblichen Platitüden wiederzukäuen wie, das Romanfragment Der Prozeß lese sich als Prophetie der totalitären Herrschaft oder die Erzählung Die Verwandlung bilde Zerwürfnisse und Lebensverfehlungen der Mitglieder kleinbürgerlich-patriarchalischer Familien ab.
Die Gesichter Kafkas tragen stets die Schminke und die Maske des Zeitgeistes; vor ein paar Dezennien sah es noch bleich aus, überspannt und verhärmt, Typus Märtyrer der Kunst à la Baudelaire und Van Gogh; jetzt riecht man förmlich das Rasierwasser am gestrafften Hals, sieht den Anhänger der Lebensreform nackt sich vor offenem Fenster verrenken oder pfeifend zu den Huren gehen. Form und Gehalt seiner wie heiße Lava erstarren Sätze kommt man auf diese amusische Manier um keinen Deut näher.
Toleranz ist nur mehr ein Codewort für Furcht und Selbstaufgabe; Buntheit und Vielfalt ein Euphemismus für das grelle Cabaret der Perversion und die Uniformität der Geschmacklosigkeit.
Die heitere Ruhe der Gleichgültigkeit und die höfliche Abweisung des Noli me tangere sind das Kennzeichen des souveränen Geistes.
Die Hysterie des enthemmten Moralismus heuchelt Kompassion und Empörung über Bilder des Schreckens, die sie sich im Paket mit pornographischen Darstellungen aus dem weltweiten Netz heruntergeladen hat.
Karikatur des Mitgefühls in seiner exhibitionistischen Zurschaustellung.
Die mehr oder minder triebhaft-kriminelle Natur des Menschen bedarf des Korsetts der Sitte, der Aufsicht einer weitblickenden Führung und der harten Hand der Züchtigung; gewiß, auch jener, dem die Tradierung und das Eintrichtern sittlicher Formen, die weise Führung und die unbestechliche Gerichtsbarkeit überantwortet wurden, ist ja vom selben Schrot und Korn, wie jener aus krummem Holz geschnitzt; er kann moralisch erblinden, sadistische Neigungen in Strafexzessen austoben, korrupt und bestechlich werden. Keiner ist gänzlich frei von den Anfechtungen des Dämons, jeder kann ohne den Influxus des höheren Lichts zu seinem Stellvertreter und Affen herabsinken. Dies ist der dialektische Knoten, den kein philosophischer Alexander zerschlägt.
Die scheinbar edelmütige Forderung egalitärer Meinungsfreiheit ist insofern ein Zeichen von Dummheit, als sie dem Ochsen zubilligt, was nur Juppiter gebührt.
Der erste Sproß des Goldenen Zeitalters lächelt, gemäß der 4. Ekloge des Vergil, da er sie gleich erkennt, seine Mutter kurz nach der Geburt schon an; die Zöglinge des Eisernen Zeitalters tun dies Wochen später. Den Figuren Kafkas scheint dies Lächeln, das die urtümliche Verwurzelung des Lebens anzeigt, verwehrt zu sein.
Der Nebel des zweideutigen Geredes verdichtet sich endlich unter dem Strahl der Abendsonne zu einem Tropfen bitteren Schweigens.
Kafkas zwitterhafte Wesen und Zwielichtkreaturen – die Frauen, die vom Arkanum der Macht zugleich erhoben und erniedrigt sind, Frauen, deren Umarmungen den Umarmten entgeistern, die Gehilfen des Landvermessers K., Halbwesen, Gespenster des Erhabenen und kindliche Narren des Gewöhnlichen.
Chimären der Schrift, die aus einer Ferne blicken, die keine Interpretation näherbringt.
Blinde Zeichen, denen keine Deutung die Nährlösung gewährt, in der ihnen Augen wüchsen.
Vergleiche, die den Nebel nicht erhellen, sondern auf beunruhigende Weise schimmern machen.
Dem Sterbenden wird durch einen atemlosen Boten die Nachricht überbracht, daß er ein Wechselbalg sei und seine Identität auf einer geschickt verwobenen Fabel beruhe.
Die mythischen Heroen, die erfahren daß ihre Mutter eine Nymphe oder ihr Vater ein Adler war.
Thetis, die Meeresgöttin, die ihrem Sohn Achill den glorreichen Untergang prophezeit.
Josef, der wußte, daß Jesus nicht sein leiblicher Sohn ist; der junge Jesus, der nach der Legende in der Schreinerwerkstatt des Vaters, und als Vater sah er ihn noch an, ein Kreuz gezimmert haben soll.
Hölderlins Chimäre, Frucht der vom heiligen Geist geschwängerten antiken Muse.
Wittgenstein war zuversichtlich, die Bedeutungen alltäglicher Begriffe, die wie Dunstglocken über der Erde schweben, mittels raffinierter Kondensationsprozesse sprachlicher Analyse auf den Boden des normalen Gebrauchs tropfen lassen zu können; aber auch dieser Boden schwankt, auch in ihm können Tropfen spurlos versickern.
Chimären der Hoffnung, Zeitenwende, Umbruch, Advent; aber dann gähnt wieder der graue Abgrund des Alltags.
Die subtile Hermeneutik sprachlicher Kunstwerke, verludert und verlottert zur Vulgärsoziologie und einem voyeurhaften Biographismus.
Die Epoche, an deren Strand uns die Welle des Schicksals gespült hat, als Land der Verheißung ganz in sich aufzunehmen, ist ein Zeichen geistiger Schwäche.
Nicht zu sehen, was da ist, sondern was man sich einredet oder vorsagen ließ; den Schatten, den man selbst auf die Dinge wirft, ihrer Unzugänglichkeit und Vagheit zurechnen.
Alles in Zweifel ziehen statt die Universalität seiner Anwendung.
Es kann keine Kritik der (reinen) Vernunft geben, denn die Annahme der Existenz von Entitäten wie Vernunft, Geist und Bewußtsein ist eine von der Philosophie des Altertums (Platon, Aristoteles) und der Neuzeit (Descartes) aus sprachlichen Schattenspielen projizierte Chimäre; dies gilt entsprechend auch für ihre Negationen Unvernunft, Materie und Unbewußtheit.
Das Denken oder der Geist ist nicht etwas, was (in virtueller Weise, gleichsam in Wartestellung) übrigbleibt, wenn man von gewissen Tätigkeiten absieht, die wir mit psychologischen Begriffen wie sprechen, rechnen, sich erinnern oder erwarten identifizieren und benennen.
Bewußtsein oder das Ich ist nicht etwas, was (in virtueller Weise, gleichsam wie die Kasperlpuppe in der Kiste, die herausspringt, sobald wir sie antasten) übrigbleibt, wenn wir von allen geistigen Zuständen und Tätigkeiten absehen, die wir mit psychologischen Prädikatsadverbien wie wach, aufmerksam, konzentriert oder fahrig, unaufmerksam, zerstreut qualifizieren und näher beschreiben.
Vernunft (Geist, Bewußtsein) ist keine Entität, sondern eine sprachliche Chimäre.
Wir sagen zurecht: „Es war unvernünftig von ihm, bei Nebel und Schneewehen den Vordermann zu überholen.“ Aber wir können damit nicht meinen, daß es ein Mangel an einer geistigen Substanz namens Vernunft war, die ihn so handeln ließ, wie er es nun einmal tat. Denn wäre dem so, könnten wir nicht sagen, und wir können es ja: „Er hätte Vernunft walten lassen (können), wenn (indem) er unter solch widrigen Umständen kein Überholmanöver ausgeführt hätte.“
Chimären wie DIE Vernunft, DER Geist oder DAS Denken, aber auch DAS Bewußtsein und DAS Ich gehören samt ihren Negationen auf den Operationstisch der philosophischen Sprachkritik. – Wir können nicht einmal sagen, daß sie die Operation der Sprachkritik nicht überlebt haben; denn sie haben nur ein chimärisches Scheinleben vorgetäuscht.
Was es mit der Vernunft auf sich hat, erschließt sich uns, wenn wir den gewöhnlichen Gebrauch von adverbiellen Bestimmungen wie „dumm“, „geistesabwesend“, „unbedacht“, „planlos“, „verblendet“ oder „von Sinnen“ beschreiben.
Vernünftiges Handeln ist nicht an die Präsenz und Strahlkraft des Bewußtseins und Selbstbewußtseins gebunden. – Denn wir sagen, einer handelte vernünftig, als er spontan, ohne noch zu überlegen, vor dem abbiegenden Fahrradfahrer gebremst hat; aber auch jener, der, ohne sich seiner subtilen Ausweichmanöver bewußt zu sein, sich seinen Weg durch die andrängende Masse der Passanten in der Einkaufspassage bahnt.
Von der dem Liebeswahn anheimgefallenen Dido könnte man nur sagen, sie handelte unvernünftig, wenn sie sich das Leben nahm, um sich von ihm zu befreien, insofern wir die Maxime der Selbsterhaltung als allgemeingültiges Vernunftprinzip unterstellen; aber das können wir angesichts der heroischen Selbstopfer von Eltern für ihre Kinder oder von Patrioten und Freiheitskämpfern für ihre Ideale mitnichten tun.
Wir führen das chimärisch aufgeblasene Begriffswort auf die bescheidene Anmutung des prädikativen Adverbs zurück; bescheiden, weil es ein unselbständiges Anhängsel des Tätigkeitswortes ist.
„Er ist nicht bei Sinnen“ meint: Wir können nicht voraussehen, zu welchen unschönen, gewaltsamen, scheußlichen Handlungen er sich noch hinreißen läßt.
Es ist unvernünftig, ein Unternehmen zu beginnen, das aller Voraussicht nach unsere Kräfte übersteigt. – Dagegen ist es unsinnig (widerspricht dem Sinn des Begriffs), von einem Versprechen zu reden, wenn jener, der es abgibt, nicht willens oder nicht in der Lage ist, es zu erfüllen.
„Sinn“ ist im Schachspiel des Redens der König, „ Vernunft“ nur ein gewöhnlicher Bauer, wenn er auch in seltenen Fällen die Grenze des Gewöhnlichen überschreiten und sich in eine Dame, einen Turm, einen Springer verwandeln kann.
Die Grammatik von Verben wie sehen, hören oder schmecken verleitet uns dazu, die Grammatik von Verben wie denken, glauben, meinen oder vernünftig urteilen analog zu konstruieren. – Aber denken, meinen, urteilen beziehen sich anders als sehen, hören und fühlen nicht auf einen Gegenstand, sondern auf einen Sachverhalt. – Ich sehe den Zweig, der sich im Wind bewegt. – Aber: Ich glaube (meine, denke), daß sich der Zweig im Wind bewegt.
Die Annahme, das Sich-im Wind-Bewegen sei eine Art Entität, ist das Tor zur platonischen Welt chimärischer Ideen.
Epikur schon nahm an, der Gipfel des Olymp sei verwaist und die entflohenen Götter hausten in uns gänzlich unzugänglichen Intermundien. – Doch was für uns gänzlich unzugänglich ist, davon können wir nicht einmal sinnvoll reden.
In den Satiren des Horaz sind die Götter nur noch metaphorische Zierpuppen.
Wahrnehmungsprädikate wie sehen, hören, schmecken beziehen sich auf Ausschnitte der Realität; psychologische Prädikate wie glauben, meinen, denken auf Modelle der Realität, mögliche Sachverhalte.
Der Gebrauch von Wahrnehmungsprädikaten setzt eine natürliche Skala von graduellen Unterschieden im Wahrnehmungseindruck voraus, sehen den Unterschied von Nähe und Ferne, Vordergrund und Hintergrund; hören den Unterschied von Tonhöhen und Lautstärken; schmecken den Unterschied von süß, sauer und bitter.
Anders der Gebrauch psychologischer Prädikate: Wir glauben etwas oder nicht, wissen etwas oder nicht, erwarten etwas oder nicht, hoffen auf etwas oder nicht.
Wir können sagen: Es ist unvernünftig, zu glauben, zu erwarten, zu hoffen oder zu befürchten, daß der Verstorbene morgen wieder auf der Schwelle stehen wird.
Vernünftig oder unvernünftig nennen wir demnach die plausible, sinnvolle und begründete oder die unplausible, sinnlose und unbegründete Anwendung von psychologischen Prädikaten wie glauben, erwarten, hoffen und befürchten.
Vernünftig und unvernünftig sind adverbielle Bestimmungen von psychologischen Prädikaten zweiter Stufe.
Das religiöse Weltbild des frommen Christen läßt ihn glauben, erwarten und hoffen, dem Verstorbenen im Jenseits wiederzubegegnen. – Der Ungläubige kann diese Annahme nicht als unvernünftig verwerfen oder diskreditieren, auch wenn sie im Rahmen seines Weltbildes keinen Platz findet.
Vernunft ist also kein universaler Begriff, der unabhängig von allen Weltmodellen anwendbar sein könnte.
Eine Vernunft, die gleichsam jenseits aller sprachlich strukturierten Lebenswelten auf dem Richterstuhl transzendentaler Autonomie thront, ist eine Chimäre.
Einer geht hin, verschenkt all sein Hab und Gut, lebt irgendwo als Einsiedler von Gottes Odem, Milch und Käse, und sein Name ist verschollen. Die Großherzigen bewundern seine Lebenswende, die Engherzigen nehmen sie ihm übel, die Vernünftler reden von Verschwendung und Mißbrauch der eigenen Kräfte und Talente.
„Er ist endlich zur Vernunft gekommen!“, ruft aus, wer den verbummelten Lebensgang des Freundes mit Bedauern beobachtet hat und sich daran erfreut, daß er die Anstellung als Versicherungskaufmann angenommen hat. – „Er vergeht sich an seinem Talent!“ ruft ein anderer aus, der sich an den poetischen Blüten und Köstlichkeiten delektiert hatte, die am Rand des verschlungenen Lebenspfades seines Freundes ins Kraut geschossen waren.
Embleme der Unvernunft und der Narretei hat der komische Schriftsteller Franz Kafka in den Zwillingsfiguren der Gehilfen im Schloß-Roman aufgerichtet; auf zwielichtig-zwinkernde Weise erhellen und erheitern sie die Düsternis des Verhängnisses, den metaphysischen Nebel, den der Protagonist trotz all seiner dialektischen Landvermesser-Finessen nicht zu durchdringen vermag.
Die Rasierklinge der Ratio kann den Nebel und das Dunkel der menschlichen Existenz nicht zerschneiden.
Es ist keine Einladung, dem Irrationalismus zu huldigen, wenn man bemerkt, daß die tieferen, geheimeren Quellen, aus denen menschliche Sehnsucht schöpft, und sollte sie ihren Durst daran auch nie gänzlich stillen können, weder von der Vernunft gefunden und freigelegt noch von ihrem trockenen, nüchternen Geist je gespeist werden können.
Mißtrauisch gegen die Einflüsterungen schlangenhafter Zungen, die uns von der endlich vernünftig eingerichteten Gesellschaft zu prophezeien vorgeben, neigen wir unser Ohr den Sibyllen und Propheten, die von einem imaginären Arkadien, einer aurea aetas der reinen Dichtung künden.
Hat die enthemmte, zügellose Vernunft erst ihren großen Plan zur Erneuerung der Welt vom Zentralkomitee der Diskurspolizisten und der Avantgarde der Erwachten verabschieden lassen, dann wehe den Beglückten!
Vernunft ist per se nicht schöpferisch; daher sind unschöpferische Kleingeister ihre oft fanatischen Apologeten.
Die Eule der Minerva hockt im Laub der Dämmerung und beäugt die schalen Überbleibsel des Fests oder die riesigen Haufen abgenagter Knochen und bleicher Schädel der Großen Zeit.
Fahrt ins Abendrot
In Abschiedsstrahlen glänzt der Strom rotgolden,
die Wolke schwebt, bis sie ins Blau sich löst.
Ein Schauer hat der Rose Herz entblößt,
im Laub des Dämmers blassen Sternendolden.
Es kräuselt sich die graue Stirn der Tiefe,
ihr nehmt, das eurer harrt, das alte Boot
und laßt es treiben hin ins Abendrot,
als ob euch ein Geläut von jenseits riefe.
Magst du in deinem Schoß das Haupt ihm betten,
wenn ihre Veilchen streut die blaue Nacht.
Ist denn ein Fittich noch, emporzuretten?
Es ist das Rauschen nur der schwarzen Wogen.
Fern ist die Heimat, fern die Blumenpracht,
woraus ihr süße Träume einst gesogen.
Kains Sproß
O Mensch, Kains Sproß, unheilbarer Verbrecher,
dir ziemt zur Züchtigung die Vaterhand.
Der Wüstling aber schlürft den Schaum vom Becher,
hat seine Wut den bleichen Mund verbrannt
Das Maul, das maulende, wär ihm zu knebeln,
daß nie der Phrase Rachen wieder klafft.
Und die Grimassen schwänden wie in Nebeln,
wenn sie erst Masken trügen, blassen Taft.
Wo aber noch die weisen Herrscher finden,
die Dämme bauen vor der dunklen Flut?
Selbst Platons Sittenwächter muß erblinden,
sieht auf er Satans Purpurrosen gehen.
Und welche Seele ist so voller Glut,
der Windsbraut heißem Pfiff zu widerstehen?
Das Rufen der Taube
Das monotone Rufen dieser Taube,
kaum graut der Morgen. fängt es wieder an,
schief dreht sich in der Kehle eine Schraube,
bis sie sich selbst blockiert, nicht weiterkann.
Und manchmal ist es nur ein dumpfes Stöhnen,
als ob ein Fieberkranker mit sich spricht.
Dann recken Fühler sich aus fahlen Tönen,
ein Steg ins Nichts, der jäh zusammenbricht.
Es scheint beschämt zu schweigen vor der Gnade,
die goldnes Licht dem Abendsang ergießt,
doch tropft sie hin, die schöne Serenade,
und Gurren ist, was mit ins Dunkel fließt.
Stumm ist die Nacht, kein Mond weckt süße Kehlen,
nur selten schreckt des Uhus hohler Schrei.
Kaum wärmt das Morgenrot die Flatterseelen,
ist auch die unermüdliche dabei.
Wir glauben es bisweilen zu verstehen,
was dunklen Drangs es ruft, das arme Tier,
wie Worte, die schon Duft der Dichtung wehen:
„Hier bin ich, bin am Leben, ich bin hier.“
Der Verworfene
Wie Schatten wandern über Sonnenuhren,
kehrt auch dein Schreiben in sich selbst zurück.
Kein Punkt stach dir den Star zum lichten Blick
auf blaue Wogen und das Gold der Fluren.
Hat jenen Sängen, die zum Azur stiegen,
der Iris Fächer Farbentau gesprüht,
sind deine Knospen nur, die abgeblüht,
im Schnee der Blüten zittern schwarze Fliegen.
Und der sich längt, dein Schatten läßt erahnen,
daß dich der Geist, der hohe, schon verließ.
Dein Vers treibt hin auf Lethes trüben Bahnen,
bald hat im Uferschilf er sich verfangen,
wie eine Leiche, die von Bord man stieß,
indes obszöne Lippen Shantys sangen.
Sonett für einen kranken Dichter
Nur schlafen, schlafen will der Sinnverstörte,
ein Lichtgekränkter, der ins Dunkel flieht,
daß er die leeren Augen nicht mehr sieht,
vergißt, was er aus rohem Munde hörte.
Liegt er wie waidwund hinter Traumes Gittern,
ist ihm, er sei ein Stein, der fällt und fällt
in eine Brunnenacht, das Herz der Welt,
und er erwacht, wie Wasserspiegel splittern.
Du sollst nicht schlafen, Dichter, sondern wandern
in stiller Zeichen ferne Sonnenauen,
wo Verse Flüsse sind, die sanft mäandern.
Dort magst du pflücken und in Kränze winden
die roten Knospen, Veilchen auch, die blauen.
Vergil nimm mit, Arkadien zu finden.
Fall ins Nichts
Flüchten wir auf Flügeln, Taubenflaum,
Wolken wollen, Seufzer sanft uns tragen,
Rauschen dunkler Tiefe hört sich kaum,
Lied des Lichts, es darf von Liebe sagen.
Flüchten wir, wo hell die Quelle singt,
zu Arkadiens veilchenblauem Saum.
Auch wenn Dämmerung uns kühl umringt,
wollen wir umschlungen warm uns halten,
Trübsinn in die müden Herzen dringt,
winken ferne uns schon Lichtgestalten,
die ein frommer Dichter Engel heißt,
Dichter, der vom Paradiese singt.
Doch im Dunkel sind wir wie verwaist,
sternenlose Nacht läßt uns erschauern.
Wenn der Sturm dich grausam mir entreißt,
soll mein eitler Flug nicht länger dauern.
Fall ins Nichts, wenn Liedes Brücke bricht,
Flut ist noch, wo Schaum des Mondes gleißt.
Fall ins Nichts, wenn Liedes Brücke bricht.
Flüchte, Dichter
Flüchte, Dichter, ostwärts zu Mongolen,
wo du fliegen lernst von Traum-Schamanen,
Psalmen klatschen im Geflirr der Fahnen,
dort, wo Flammen singen, Herzen tauen.
Flüchte, Dichter, ostwärts zu Mongolen.
Bei den Herden und den braunen Frauen
magst du unter weißen Wolken zelten,
wandern mit dem Mond zum Tor der Welten.
Schluchzen darf dein Lied, wie Schnee zerronnen,
bei den Herden und den braunen Frauen.
Dort, wo Knospen scheinen Purpursonnen,
in der Stille meeresgrüner Matten,
liegt dein Herz entrückt im Wolkenschatten,
und dein Vers erglüht wie Gladiolen,
dort, wo Knospen scheinen Purpursonnen.
Flüchte, Dichter, ostwärts zu Mongolen.
Im Halbschlaf gesungen
Im nächsten Besten uns die Augenweide,
ein schmaler Streifen nur von Gelb und Grün.
Die Wolke mag durch hohe Bläue ziehn,
ihr Schatten weicht, ein letztes Bild vom Leide.
Und stillumhüllt ist sich das karge Leben,
versunknen Falters Puppe, kaum bewußt,
wie con sordino süß erstickte Lust
mag einsam dunklen Fühlens Saite beben.
So auch dein Singen, Dichter, halb im Schlaf,
als reichtest du im Traum die Anemone,
o süßer Blick, der in dein Grauen traf,
der Liebe, die dir hold entgegenschreitet,
daß sie im Abendrot noch bei dir wohne,
bis über euch die Nacht den Fittich breitet.
Vom Sinn der Rede
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die Begriffe, mit denen wir vom Maßstab sprechen, seinen Umfang, seinen Wert, seine Mächtigkeit beschreiben und festlegen, sind kategorial verschieden von den Begriffen, mit denen wir über das Gemessene sprechen.
Als Lineal können wir kein weiches Wachs verwenden.
Zeitliche Phasen lassen sich auf räumliche Dimensionen projizieren. – Die im hölzernen Türrahmen eingekratzten Linien, die das Wachstum des Kindes anzeigen. – Die Ziffern der Uhr, über die der Stundenzeiger streicht.
Wir können die Farbskala beliebig fein nuancieren; die Farben in Zahlenwerten für Lichtfrequenzen darstellen, die selber farblos sind.
Er hat allzu lange auf den Freund gewartet; woran messen wir die Länge – an der Uhr oder der Intensität der Erwartung?
Das Adagio schien zu schleppend vorgetragen. – Messen wir unseren Eindruck anhand des Metronoms?
Den zeitlichen Rhythmus von Versen messen wir an der durchschnittlichen Frequenz des menschlichen Herzens; so sagen wir, ein rein daktylischer Hexameter ist schnell, ein aus Spondeen zusammengesetzter langsam, doch können wir von der durchschnittlichen Herzfrequenz nicht sagen, sie sei schnell oder langsam.
Könnten Tiere dichten, der Kolibri sänge keine Epen, der Wal spuckte keine Epigramme aus.
„Statische Gedichte“ ist eigentlich eine contradictio in adiecto.
Ist Zeit die Woge, sind wir ihr ephemerer Schaum.
Das dämmernde Zimmer der Verwaisten oder Liebenden, die flackernde Kerze des bangen oder intimen Gesprächs.
Begriffliche Verwirrung entsteht, wenn wir den kategorialen Unterschied zwischen Rede und Schrift nicht berücksichtigen oder verwischen. – Das lyrische Gedicht bedarf des genauen, rhythmisch nuancierten Vortrags; die Druckseite täuscht über seine Wirklichkeit.
In der direkten, lebendigen Rede sind wir anwesend und spannen den Schirm unserer raumzeitlichen Gegenwart über dem Nullpunkt des Ich-Sagens auf.
Ich zu sagen impliziert zu meinen: „Ich bin jetzt hier.“
Die Angabe räumlicher und zeitlicher Stellen und Bezüge erfolgt in der direkten Rede mittels deiktischer Hinweise, deren Ursprung die Null-Koordinate des sprechenden Ich darstellt.
Die Zeit des Redens ist die Zeit der vergehenden Gegenwart. Die Zeit vergangener oder zukünftiger Ereignisse, über die wir sprechen, ist von der Redezeit prinzipiell verschieden.
Sage ich: „Reich mir doch bitte die Karaffe!“, erwarte ich, daß der Angesprochene tue, worum ich ihn gebeten habe. Lese ich in einer Erzählung: „Er bat den Gastgeber, ihm die Karaffe zu reichen“, erwarte ich gar nichts; jedenfalls bin ich nicht enttäuscht, wenn ich weiterlese: „Der Gastgeber tat aber nicht, wie ihm geheißen, sondern lächelte maliziös, denn der Gast war schon reichlich angetrunken.“
Sage ich: „Morgen gehen wir wie abgemacht in den Park!“, drücke ich eine Absicht aus oder mache eine Zusage. Lese ich in der Erzählung, daß die Freunde verabredeten, am kommenden Tag in den Park zu gehen, bin ich nicht enttäuscht, wenn ich weiterlese und erfahre, daß einer der beiden die Verabredung nicht eingehalten hat.
Wie Architektur keine gefrorene Musik, ist geschriebene Sprache keine Kristallisation der gesprochenen.
Der Brief scheint der gesprochenen Sprache noch nahe; doch kann jemand in einem Brief nicht auf das Bild an der Wand zeigen, sondern muß den Maler und das Motiv eigens nennen. Auch wenn er eine Abbildung beifügt, kann er die selbstgefällige Geste nicht vorführen, mit der er auf die Original-Radierung von Barlach zu zeigen pflegt.
Nur in der direkten Rede können wir Aufforderungen machen wie „Mir ist lieber, du gehst an meiner rechten Seite!“ oder bindende Feststellungen treffen wie: „Die Sitzung ist eröffnet!“
Begrüßungen und Verabschiedungen sind integrale Bestandteile gesprochener Sprache, die durch rituelle Gesten wie Händeschütteln, Umarmung oder Abschiedskuß verstärkt zu werden pflegen.
Lyrische Dichtung ist das blühende Reis, das auf den Stamm der gesprochenen Rede gepfropft worden ist.
Akustisch aufgezeichnete Gespräche weisen Lücken der Verständlichkeit auf, insofern wir der sie erhellenden Sichtbarkeit der Gesten, der Blicke, der Mimik ermangeln.
Die Situation und die wesentlichen Eigenschaften des menschlichen Lebens wie Geschlecht, Alter, ethnisch-kulturelle Herkunft und soziale Position sind gleichsam Verengungen oder Buchten im Fluß der mündlichen Rede, die ihren Verlauf verlangsamen oder beschleunigen.
Aber die Bedeutung der Rede ist keine Funktion der natürlichen und sozialen Eigenschaften des Sprechers, sondern der Worte, die er gebraucht, auch wenn solche Eigenschaften ihnen Kontur und Kolorit verleihen.
Wir können sagen: Der Zweck der Rede ist die Steuerung des Willens und Verhaltens, die Beeinflussung des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens des Angesprochenen; ihr Mittel die Art und Weise der Sprachverwendung.
Wir denken an einen der Ursprünge lyrischer Dichtung im magischen Zauberspruch; der altgermanische Vers verwendet zur Intensivierung seiner Beeinflussungsmacht die Assonanz und die stabreimende Alliteration.
Die vollkommene Form des lyrischen Gedichts will bezaubern und entrücken, wenn es wie Goethes Wanderers Nachtlied ineins mit der Stille der Natur die Stillung der Seele beschwört: Warte nur/balde/ruhest du auch. – Es ist zu bemerken, daß in diesen vollendeten Versen die rhythmischen Einheiten, die Kola, mit den Verseinheiten kongruieren.
Urformen der Rede sind die Aufforderung (Befehl, Bitte) und die Frage. Die deskriptive Aussage und die Mitteilung sind konsequente Zuwächse an diesen Urformen. – „Vorsicht, dort ist der Weg abschüssig!“ – „Aber das ist doch nur eine harmlose Mulde!“ – „Gehen wir hinüber zu dem Fichtenwäldchen!“ – „Aber das sind keine Fichten, sondern Tannen!“
Die Rede dient der Bahnung des Wegs durch das Dickicht und die Fährnisse des Lebens.
Erst wenn wir unterwegs eine Rast einlegen, kommt die expressive Funktion der Rede rein zur Geltung. – „Puh, war das ein steiler Anstieg!“ – „Wie gut, im Schatten zu verweilen!“
Nach schwerem Aufstieg gemächlich auf der Hochebene wandeln – und alsbald läßt die geistige Spannung nach und die Rede ergeht sich in sentimentalem oder zänkischem Gewäsch.
Ohne Fühlung der immer lauernden Gefahr, ohne Bewußtsein der wesentlichen Not, des unaufhebbaren Mangels oder wie der Psalmist sagt, die Furcht des Herrn verdampft die geistige Spannung, verlottert, verludert und verlallt die menschliche Rede.
K., der Protagonist in Kafkas Schloß, ist auf beschämende Weise fasziniert, angezogen und abgestoßen von der Spannung und Gefahr, die ihm aus dem Dunstkreis und dem Nimbus eines gewissen dekadenten Herren und Schloß-Bürokraten namens Klamm wie Stromstöße anfallen; von ihnen wird er wachgehalten, erregt, gehetzt und dazu verleitet, die immer sich entziehende Quelle der Macht und der Gnade doch noch zu erreichen.
Substanz der Rede: vergehende Zeit.
Sklaven der Zeit atmen und wandeln wir, reden und denken wir.
Folgt in der Rede Wort auf Wort, folgert das Denken aus der gegebenen Voraussetzung und einer irgend angenommenen Regel.
Rede und Gedanke sind in die zeitliche Struktur der Aufmerksamkeit, des wachen Sinnes, der Vergegenwärtigung, Erinnerung und Ahnung eingesenkt.
Der Gedanke, der sich nur vom Gängelband der Worte leiten läßt, ist ohnmächtig, chimärisch und blind, der Gedanke, der nicht von der Fülle und dem Reichtum der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zehrt, ist matt, farblos und leer.
In Büchners Drama Dantons Tod spricht die Geliebte des Protagonisten, über dem das Fallbeil schon blinkt, das große Wort, das tödlich-schöne, das sie mit ihm auf immer vereint: „Es lebe der König!“
Wir sprechen, wie Heidegger sagt, vorlaufend in den Tod – wenn denn unser Wort Gewicht haben soll.
Der entzündete Blinddarm des Kulturbetriebs, die wabernde Adipositas des Geredes in Foren, Talkshows und Seminaren.
Wir könnten uns zum Behaghelschen Gesetz der wachsenden Glieder der Rede auch ein umgekehrtes denken, ein Gesetz der Verknappung, Verdichtung und Verwesentlichung der Rede – zum tragischen Ende hin, wenn der aufgesparte Atem sich für das kaum noch Sagbare verhaucht. – Aber nein, es gilt vielmehr, das Nichtsagbare, um das wir wissen, unangetastet zu lassen und zu schweigen.
So wäre der Sinn der Rede, alles zu sagen, was klar und deutlich zu sagen ist, um am Ende über das Wesentliche zu schweigen.
Wir kennen aber neben der alltäglichen Rede den rituellen Gebrauch der Sprache in heiligen Zeremonien und Gottesdiensten. Hier ist das Wort dichterisch erhöht und rhythmisch gesteigert, ja es streift alsbald die in das Gemurmel ihrer Litaneien Versunkenen der Flügel des hymnischen Gesangs.
Im mystischen Ritus der Eucharistie tritt das Wort, gereinigt von den farbigen Schatten des kreatürlichen Lebens, als reines schöpferisches Licht entgegen, um in Brot und Wein verwandelt in den dunklen Kreislauf des verweslichen Leibes einzugehen; das inkarnierte Wort des Heils aber soll nicht heidnisch kräftigen, sondern das Gedächtnis an eine paradiesisch-surreale Existenz wecken, in der die Blume des Worts noch Lebenskraft aus reinen Quellen gesaugt hat.
Das Gedächtnis, dies vom Krebs des Zeitgeistes zerfressenste Organ.
Die so geschichtsblind sind, daß sie überall aufgehen wollen, im Fortschritt zum Abgrund, in Europa ohne Nationen, in der Menschheit ohne Individualkulturen, können vom Volk nicht reden, weil in ihnen die gesichtslose Masse schon emporgequollen ist.
Der Schmerz starb nicht
Das Wasser schwarz, darüber graue Hügel,
kein Stern, kein Mond, der Abgrund grenzenlos.
Ein lichter Tau verrinnt im dunklen Moos,
es zittert schon des Morgens banger Flügel.
Dort bist gelegen du im Sterbezimmer.
Dein Mund war leer. Ob er ins Herz noch floß,
als ich den schweren Vorhang auf dir schloß,
der Kindheit weicher Schmelz, der süße Schimmer?
Ein Blasebalg hat dumpf die Brust gehoben,
ist, müder Knecht, bald aus dem Takt gefallen.
Da hielt er still. Die Sonne schwamm im Rhein.
Der Schmerz, der unsre Seelen hat verwoben,
starb nicht, er lebt und leuchtet auf kristallen
wie Gläser, die hell tönen, schenkt man ein.
Sonett von den Fahrenden
Die Flamme war’s, sie zog mich aus der Tiefe,
als hätte treue Liebe sie entfacht.
Es sang kein Vogel mehr im Laub der Nacht,
doch war mir , eine süße Stimme riefe.
Sie saßen um das Feuer, Fahrtgenossen,
vom Glutgesicht des Holzes schon betört,
und Schatten, wie vom Singsang aufgestört,
umtanzten sie und wogten und zerflossen.
Da schmeckte ich das Salz auf meiner Lippe,
und trank vom Krug, der mit dem Mond gekreist,
ich fand den Ton und hielt ihn, goldnes Siegel,
das mich erhob, Geblüt von ihrer Sippe,
doch er zerbrach. Ich blieb wie eh verwaist,
und ihre Augen waren leere Spiegel.
Fahrt ohne Ziel
Die Welle klatscht an umgestürzte Bäume
und seufzend leckt sie über Vogelkot,
der Tag ist Dämmer, kalt das Abendrot,
Dunst näßt die Luft, ein Wölken leerer Träume.
Wie eine Leiche glänzt auf braunen Fluten
und sich im Schilf des Uferschlamms verstrickt,
hat trüb das Aug des Monds hervorgeblickt
aus dürrer Halme Gittern, Schattenruten.
Dein Kahn ist ruderlos dahingeschwommen,
du träumtest, Dichter, dunkler Wogen Spiel,
von dumpfer Wasserelegie benommen.
Da sahst du auf zur Nacht voll blinder Funken,
und wußtest heimatlos dich, ohne Ziel.
O wär der morsche Kahn doch gleich versunken.
Trostloses Veilchen
„O Wolke, hohe, sanfte, gnadenreiche,
die selig durch die tiefe Bläue schwebt,
sieh doch, wie ich vor heißem Durst erbleiche,
wie geisterhaft schon meine Knospe bebt.
Magst, Grazie, du nicht deinen Lauf verhalten
und milde Tropfen, wenig Tröpfchen bloß
mir sprengen auf den ausgedörrten Schoß,
daß wieder sich die Blüten mir entfalten?“
„Du dauerst mich wohl, kümmerliches Veilchen,
gern möcht ich, die belebt, dir Feuchte regnen,
daß sich die Wangen röten , die so bleich.
Doch kann verweilen ich nicht , nicht ein Weilchen,
ich bin befugt, Erwählte nur zu segnen,
die Rosen fern in Venus’ Gartenreich.“
Unter Wolken schlafen
Die monotone Brandung nur zu hören
von einem fernen, rätselbittern Meer
in Nächten, endlos und gestaltenleer,
und keiner Muschel Mund, uns zu betören.
An einem süßen Namen zu ersticken,
der uns der Liebe Odem eingeschreint,
und in den Tränen, die wir ihr geweint,
nur schalen Tau der Schwermut zu erblicken.
Das Rauschen hat vergittert uns das Ohr
für Töne kristalliner Himmelssphären,
die einst das Herz erwählter Dichter trafen.
Das Wort, das sich im Schaum der Nacht verlor,
es kann als Stern, es kann nicht wiederkehren.
O unter stillen Wolken traumlos schlafen.
Der Rang der Seelen
Wie wunderlich sie sind, der Seele Ränge:
Die anmutvolle schwebt heran und gleich
bricht sich ein Lichtstrahl aus dem Feenreich,
die tumbe hinkt verzagt durch düstre Gänge;
die königliche läßt den Ring sich küssen,
woran ein Stern aus Edens Nächten sprüht,
das kalte Herz, von ihr behaucht, erglüht;
die niedre feixt vor Wappen, die zerrissen.
Sie spiegeln Götter, äffen die Dämonen,
wie Blinde mußten sie einst Lose ziehen,
wie Platon schrieb und dunkel Orpheus sang.
Wenn Pöbelseelen feist im Lichte thronen
und zu den Schatten scheu die edlen fliehen,
weißt du, daß wahre Ordnung nicht gelang.
Dido
… lacrimae volvuntur inanes.
… die Tränen, sie rollen ins Leere.
mortem orat: taedet caeli convexa tueri.
Tod erfleht sie: der Aufblick zum Azur ist ihr zuwider.
… concepit furias evicta dolore
… in der Ohnmacht des Schmerzes ward sie schwanger vom Wahne
Verlassen, irr, gehetzt von Eumeniden.
wie geht sie nah uns, die sich ausgesehnt,
o Liebe, Angst ans Efeublatt gelehnt,
hintaumelnd, Seele von sich selbst geschieden.
Der Sonne feind, faßt sie vorm Dunkel Grauen,
wie des zerschellten Schiffes hohlen Rumpf
durchbebt sie Abgrunds Stimme, orphisch-dumpf,
ein öder Schoß, die Kränkung edler Frauen.
Vergil, der dich aus keuschem Geist geboren,
hat selbst den Totenvogel hören schreien,
den Opferbrand aus eignem Mark entfacht,
und war zum Mund der Stummen auserkoren.
Was sind wir, denen lose Worte schneien
wie blasse Blüten in der Frühlingsnacht.
Unerreichtes Thule
Ein weher Duft wogt noch um weiße Dolden,
ein Schatten bist du mir vorangeschwebt.
Das Lid der Nacht hat wimpernscheu gebebt,
kaum floß der Sonne Kuß ihm zu, rotgolden.
Und haben wir die Heimat auch verloren,
sie hüllt ein Dunst, vertaner Liebe Traum,
am Verse grünte fernen Eilands Saum,
als wär ein Jenseits-Thule uns erkoren.
Auf Schwingen bist du mir vorausgezogen,
zu nisten dort im Laube des Gesangs,
den Unbehausten bald, o bald zu trösten.
Mich macht das Rauschen bang, der Schaum der Wogen,
mein Vers erstickt im Sog des Untergangs.
Du singe, Nachtigall, sing den Erlösten.
Das Trugbild
Ein Tropfen bloß, in kühlem Hauch gefallen,
und Kreise pulsen, weichen Wassers Falten,
ihr Schimmern ist im späten Licht verhalten,
sie laufen aus wie müden Mundes Lallen.
Als wehten Düfte heller Blütensterne
uns Bilder ferner Sommer, lang versunken,
sie stieben auf, bacchantisch-wirre Funken,
verlöschen in der bilderlosen Ferne.
Und wähnst du deine Zeichen treue Siegel,
inständig wie ein keuscher Kuß gedrückt
auf der Geliebten Stirn, der hingeneigten:
Schon in der Luft erblinden sie wie Spiegel,
das süße Antlitz ist im Dunst entrückt,
Trug war, Gespinst, was dir die Musen zeigten.
Mann bleibt Mann
Wort wird Dichtung, wenn sich paaren
jäher Blitz der Mythennacht
und Selene, laubumdacht –
schon singt Bacchus frohen Scharen.
Wenn sie auch dem Zerrbild trauen,
Komödianten schrill wie schlecht
jährlich wechseln das Geschlecht,
Mann bleibt Mann – Frauen Frauen.
Wahre Zwiefalt nur zeugt Leben,
Doppel, das die Eins gebiert,
Licht, das sich in Nacht verliert,
Nacht, in die Gestirne schweben.
Einsam siechen die Sterilen,
auch wenn Drohn an Drohne klumpt,
Schoß, der sich die Frucht gepumpt,
Samen, die ins Dunkel fielen.
Mütterlich nur wird sie reifen,
Seele, die sich rein bewahrt,
nährt den eignen Keim sie zart,
Göttliches kann sie umgreifen.
Die da wähnen, zu bestimmen,
was der Geist der Ahnen leiht,
sind zur Narretei befreit,
Namen, die im Dunst verschwimmen.
Väterlich nur wird sie blühen,
Seele, die am Stab der Pflicht
höher rankt ins Abendlicht,
Frucht, sie wird dem Dank erglühen.
Doch die statt zu dichten schwätzen,
Harlekine der Moral,
Schaum das Maul, die Herzen kahl,
die Erinnye wird sie hetzen.
Bildnis des Dichters
In schlaflos-öder Nacht, am grauen Tage
schleppt sich der Pilger ohne Stab und Steg,
kein Stern weist noch, kein Zeichenmal den Weg,
ihm quillt kein Tau, schluchzt keiner Quelle Klage.
Was singen, die an Lichtes Strömen gehen,
von Bildern der gezähmten Flut betört,
der Uferlose hat es überhört,
nur was ihm dunkel rauscht, kann er verstehen.
Bist, Dichter, du das Meer, das brückenlose,
magst du ins Schilficht helles Schäumen hecheln,
doch deine Muscheln tönen Tiefsee-Schrecken.
Bist du, die einsam glüht, die Purpurrose,
macht uns ihr Duft wie Kinder manchmal lächeln,
die Glocken sanft aus bangen Träumen wecken.
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