Begriffliche Klärungen VII – Verstehen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wenn ich dem Freund gegenüber den Wünsch äußere, die Erzählung zu lesen, von der er mir so angeregt sprach und die in dem Sammelband mit Erzählungen enthalten ist, den er besitzt, versteht er mich recht und bringt mir bei seinem nächsten Besuch das Buch mit, auch wenn ich nicht ausdrücklich gesagt habe: „Bring mir doch bitte das Buch mit.“
Ein Quadrat ist das, was wir mit der Definition meinen: geometrische Figur auf der Ebene mit 4 Seiten, von denen jeweils 2 im rechten Winkel zueinander stehen. – Für das, was wir mit „Buch“, „eine Weile“ oder „Angst“ meinen, haben wir keine Definition gleicher Art und Strenge, ohne an der korrekten oder sinnvollen Verwendung dieser Worte irgend gehindert zu sein.
Bring mir das Buch, das meint nicht: Bring mir die bedruckten und zusammengebundenen Seiten, bring mir die Wörter, die Silben, die Buchstaben auf all diesen Seiten; auch wenn, was wir mit Buch meinen, all dies impliziert.
Sagt der Freund: „Warte hier eine Weile, ich bin gleich zurück“, warte ich eine gute Weile (aber nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag), doch nach dieser guten Weile werde ich unruhig und halte Ausschau nach ihm. Freilich verstehe ich, was er meint, auch wenn eine Weile auf keiner Zeitskala exakt abgebildet ist.
Daß dir angst und bange vor der Prüfung war, habe ich dir angesehen. – Du kannst mir nicht weismachen, daß deine Blässe und das Zittern deiner Hände, das du verlegen zu verbergen trachtetest, ein Ausdruck freudiger Erregung waren.
Was wir angemessen, gut, genau verstehen, ist nicht das Ergebnis einer Interpretation, eines hermeneutischen Verfahrens, wie wir es bei der Deutung etwa schwieriger fremdsprachiger Texte anwenden, indem wir eine unklare oder lückenhafte Stelle durch Vergleich mit ähnlichen Wendungen im vorliegenden Text oder im Gesamtwerk des Autors zu klären versuchen; denn unser Versuch mag fragwürdig bleiben und von einem geschickteren Interpreten und feinfühligeren Hermeneuten durch einen besseren Vorschlag ersetzt werden. – Doch den ängstlichen Gesichtsausdruck verwechseln wir nicht so leicht mit einem freudigen, die Frage nicht mit einer Behauptung, dir ironische Bemerkung nicht mit einer Schmeichelei.
Auf deine Aufforderung hin, eine Weile zu warten, muß ich, um sie zu verstehen, nicht darüber nachgrübeln, was du mit ihr eigentlich beabsichtigst; ob du eine Sache erledigen willst, bei der ich ein unwillkommener Zeuge wäre; ob du eine Verschnaufpause einlegen und mich für eine Weile los sein willst; ob du mich auf eine Geduldsprobe stellen willst. Wie dem auch sei (oder auch nichts von alledem), ich verstehe, was du meinst.
Um eine Äußerung zu verstehen, müssen wir nicht zwingend die Absicht oder Intention, die sich hinter ihr verbirgt, kennen.
Die ältere Hermeneutik glaubte, am besten beim Geschäft der Deutung lückenhafter Texte zu fahren, wenn sie sich durch Kenntnisnahme des Gesamtwerks des Autors über dessen Haltung, Gesinnung, Weltanschauung klar geworden war und mit diesem Hintergrundwissen die Intention des Schreibers bei der fraglichen Textstelle identifizierte: So ergebe sich die Füllung der Textlücke wie von selbst, gleichsam intuitiv.
Aber wenn ich in dem Karton mit alten Briefen krame und einen mit schöner Handschrift ohne Absender herausfische, lese ich vielleicht: „Wü … ich Dir, mein Bester, anläßlich Deines Promotionsjubi … besinnliche Stunden!“, wobei die gepunkteten Lücken in der mit Tinte geschriebenen Schrift verwischt sind; es ist offensichtlich ein Leichtes, die Textlücken zu ergänzen, auch wenn ich nicht weiß und herausfinden kann, ob der Wunsch ernsthaft gemeint oder ironisch getönt war.
Freilich, sagt mir jemand, nachdem ich beim Schachspiel die Dame ohne Not geopfert habe: „Du bist doch ein wahrer Ritter ohne Furcht und Tadel!“, entgeht mir natürlich der Witz der Äußerung, wenn ich sie wörtlich und nicht ironisch verstehe. – Ironie und ihr sprachlicher Ausdruck, die spöttische Bemerkung, sind in diesem Falle die Äußerung der Sprecherabsicht, ohne deren Wahrnehmung sie mir unverständlich erschiene.
Wenn dich dein Freund auffordert, eine Weile zu warten, er wolle nur rasch zur Bankfiliale, um sich Kontoauszüge zu besorgen, und dann nicht mehr auftaucht, wird, je länger du vergeblich wartest, der Verdacht in dir geweckt, er wolle ein böses Spiel mit dir spielen. Dein Verdacht wird genährt, wenn du am nächsten Tag erfährst, daß der Pappenheimer auf unbestimmte Zeit verreist ist. – Hier mag ein Roman über Intrigen seinen Ausgang nehmen, mit Verdächtigungen, Kränkungen, Bezichtigungen und einer vielleicht überraschenden Auflösung.
Wer sagt, er habe keine Angst gehabt, als ihn ein wütender Bullterrier anbellte, obwohl er alle Anzeichen des Erschreckens zeigte, schwindelt entweder oder weiß nicht, was wir unter dem Begriff Angst verstehen.
Anzeichen von Angst zu zeigen oder zu sagen „Ich habe Angst“, obwohl man keinerlei Anzeichen von Angst zeigt, ist etwas Verschiedenes, auch wenn sie dasselbe meinen; denn Anzeichen physiognomischer Art und sprachliche Zeichen sind begrifflich zu unterscheiden.
Wir verstehen, worum es sich handelt, wenn jemand in angsterzeugenden Situationen Anzeichen von Angst zeigt; doch denjenigen, der bei heiterem Sonnenschein am Arm seiner Liebsten sagt, er habe Angst, verstehen wir nicht im gleichen Sinne.
Fieber ist ein Symptom einer Viruserkrankung; es wird zum Kriterium der Korrektheit der Diagnose, daß der Betroffene an einer Viruserkrankung leidet, wenn der Erreger im Labor isoliert und chemisch oder durch DNS-Abgleich identifiziert wird. – Das Krankheitssymptom ist als ein Anzeichen kausal mit dem Krankheitserreger verknüpft.
Die Verwendung sprachlicher Zeichen ist nicht kausal mit den mentalen Zuständen verknüpft, die ihre Artikulation begleiten. – Einer kann sagen, er habe keine Angst, obwohl er von Ängsten heimgesucht wird, etwa um sich als heldenhaft aufzuspielen.
Wir sagen, die Verwendung sprachlicher Zeichen ist im Regelfalle eine willentliche Kundgabe.
Demnach sind Interjektionen wie „O!“ und „Aua“ eine lautliche Form unwillkürlich geäußerter Anzeichen, nämlich der Überraschung oder des Schmerzempfindens.
Wir verstehen den Ausruf „Aua!“, wie wir das Erblassen des Erschrockenen verstehen. Wir müssen ihn nicht als Ausdruck des Schmerzempfindens interpretieren, sondern als solchen gleichsam deutungslos hinnehmen.
Die Äußerung „Ich habe Schmerzen“ kann, wie Wittgenstein zeigte, als Übersetzung der Interjektion „Aua!“ aufgefaßt werden; sie teilt mit ihr den eigentümlichen semantische Status von Äußerungen in der ersten Person über das eigene Empfinden, Fühlen und Beabsichtigen, deren Gewißheit wir anders als Aussagen des gleichen Typs in der dritten Person im Normalfalle nicht anzweifeln.
Der Psychiater weist auf einen Patienten, der scheinbar freudig erregt herumhüpft, und behauptet, er habe Angst; wir verstehen erst, wenn er die Erklärung hinzufügt, er leide unter einem akuten psychotischen Anfall einer Phobie. – In solchen Fällen können wir etwas aufgrund von Erklärungen verstehen.
Der Kriminalist erkennt, daß es sich bei den vorliegenden Tatmerkmalen um ein Muster handelt, das ihm schon bei der Untersuchung anderer Fälle begegnet ist; sein Ausruf „Aha!“ ist ein Anzeichen für die plötzliche Einsicht. Aber der Ausruf ist kein Kriterium ihrer Wahrheit, denn er könnte sich irren, und eine DNS-Probe belegt, daß es sich um verschiedene Täter handelt. Er glaubte zu verstehen, aber saß einem Mißverständnis auf.
Der Mythos stellt natürliche Ereignisse dar, als seien sie Willensäußerungen der Götter: Zeus regnet. – Dies ist nicht ein Mißverständnis in dem Sinne, wie wir von jemandem sagen, er unterliege einem Mißverständnis, weil er annimmt, es regne, wenn er hört, wie Tropfen auf den Fenstersims fallen, aber bloß, weil der Nachbar im oberen Stock die Blumen gießt.
Wenn wir miteinander reden, plaudern, uns verständigen, sind unsere sprachlichen Äußerungen keine kausal bewirkten, unwillkürlichen Anzeichen unseres Befindens (mögen dies auch unsere Mienen und Gesten sein), sondern nicht ohne Absicht erzeugte Zeichen. Doch bedarf die absichtsvolle Äußerung keiner bewußten Entscheidung, auch wenn wir bisweilen eine bewußte Auswahl der Worte und Wendungen oder der Beispiele und Geschichten vornehmen, die wir zum besten geben.
Ungrammatische Bildungen wie „Blau und aber“ oder bizarre wie „Das Fragezeichen hat Heimweh“ sind in sich unverständlich; dagegen können enigmatische Wendungen wie „Das Nichts nichtet“ oder „Die Welt weltet“ auf dem Hintergrund eines eigentümlichen philosophischen Sprachspiels entschlüsselt werden.
Wir sagen: Die Mimesis der Orchidee dient dazu, ihr ähnliche Falter anzulocken; das Murmeltier warnt seine Sippe mit einem Warnpfiff vor dem herannahenden Beutegreifer, damit sie in ihrem Bau Deckung sucht; der Hund eilt wedelnd auf sein Herrchen zu, weil er sich über seine frühe Rückkehr freut. – Unser Gebrauch von Ausdrücken der Gemütsbewegung und grammatischer Konstruktionen wie des Kausal- und Final-Satzes bei der Beschreibung tierischen Verhaltens erlaubt uns scheinbar, das Verhalten ohne weiteres zu verstehen. Indes ist es unsinnig, der Orchidee mit ihrer Anverwandlung an die Gestalt eines Schmetterlings die Absicht zu unterstellen, diesen zur Bestäubung zu reizen; ist es ethologisch unstimmig anzunehmen, daß ein Murmeltier seinen Warnpfiff in der Absicht ausstößt, seine Artgenossen zu warnen: Sein Pfiff erfolgt unwillkürlich, und die Fluchtreaktion der Artgenossen ist ein bedingter Reflex.
Gewiß freut sich der Hund über die Rückkehr des Herrchens; doch könnte er sich nicht darüber freuen, daß sie ein paar Tage früher erfolgte als angekündigt; oder gar deswegen enttäuscht sein wie seine Ehefrau, die auf weitere erholsame Tag der Ruhe gehofft hat, oder die untreue Geliebte, weil sie das Treffen mit ihrem Liebhaber absagen muß.
Wir sagen, alles, was irgend mit Sinn versehen ist, wie Gesten, Mienen, Handlungen und sprachliche Äußerungen, können wir verstehen; die Vorgänge bei der Inflation des frühen Universums, der Bildung von Atomen, Molekülen, Sternen und Galaxien oder die Evolution von lebenden Organismen können wir nicht verstehen, wie wir verstehen, daß der untreue Freund uns mit seinem Fernbleiben einen bösen Streich spielt, sondern nur mittels Theorien, das heißt wissenschaftlicher Hypothesen, zu erklären versuchen.
Wir können die Entscheidung des Machthabers, in das Nachbarland mit Truppen einzufallen, sowohl verstehen, wenn wir die Motivation seiner Handlung und ihre Absicht berücksichtigen, als auch erklären, wenn wir sie mittels Hypothesen über die Typen imperialer und hegemonialer Herrschaft und die Formen ihres Erhalts und ihrer Ausweitung analysieren. – Im Unterschied zu beispielsweise physikalischen Hypothesen können historische Vermutungen allerdings nicht verifiziert, sondern nur mehr oder weniger plausibel gemacht werden.
Die Entscheidung des Macht- und Befehlshabers, in das Nachbarland einzufallen, hat dieselben Folgen, ob er eine vermeintliche oder echte Bedrohung seines Machteinflusses durch das Nachbarland und seine Verbündeten wahrnimmt; doch unser Verständnis seiner Entscheidung ist im einen und im anderen Falle verschieden.
Cäsar traf die Entscheidung, mit dem Überschreiten des Flusses Rubikon das Herrschaftsgebiet des Senats und der Res Publica anzugreifen; wir verstehen anhand seiner Selbstzeugnisse, was er tat, doch eine plausible Hypothese zur Erklärung seines Vorgehens finden wir nicht (etwa nach dem klassischen Muster imperatorischer Machtsicherung oder dem Handlungsmodell der Eroberung der alten und ihrer Unterminierung und Ersetzung mittels Installation einer neuen Herrschaftsform).
Wir sind natürliche und sprachliche Wesen; die Grenzen unseres Verstehens werden einerseits durch die Fremdheit natürlicher Phänomene und Vorgänge wie der Singularität von schwarzen Löchern oder der Bildung des DNS-Stranges und des Einbruchs von schweren körperlichen oder geistigen Erkrankungen, andererseits durch die Fremdheit, Rätselhaftigkeit und Unzugänglichkeit anderer Kulturen abgesteckt.
Wir verstehen die Bedrohungsgefühle oder das Leiden dessen, der sich vor der Ansteckung durch ein epidemisches Virus fürchtet oder sich damit infiziert hat; das epidemische Geschehen selbst entzieht sich dem, was wir unseren Sinn- und Verstehenshorizont nennen können. Bizarre Theorien über ein göttliches Strafgericht insinuieren nur den trügerischen Anschein eines Verstehens.
Die Physiognomie des Schmerzes, der Freude, der Trauer, der Furcht und der Hoffnung sind unserem Verstehen als natürlich verankerte affektive Phänomene kulturübergreifend zugänglich.
Wir verstehen, was Shakespeare mit dem Vers „The Beauty’s rose might never die“ meinte. Doch versteht es der Bewohner einer fremden Kultur, der mit der abendländischen keinen Kontakt hatte, ein australischer Buschmann oder ein Amazonasindianer, wenn ihm die Eigenart unserer dichterischen Sprache, Metaphern und Allegorien für seelische Phänomene zu formen, und die Eigenart der europäischen Lyrik von Sappho über die Marienhymnik, die Troubadours, Dante und den „Roman de la rose“ bis eben zu Shakespeare, die Rose als religiös und metaphysisch konnotiertes Bild für Liebe und Schönheit anzusehen, vollkommen fremd sind?
Fremde Sprachen können wir übersetzen; aber nicht alle in ihrem Mutterboden eingewurzelten Konzepte, begrifflichen Strukturen und Netzwerke verstehen.
Der heidnische Römer wußte ja, was Crux heißt; doch das Mysterium des Glaubens an das Heil am Kreuz blieb ihm unverständlich, ob er nun ein einfacher Legionär im fernen Gallien war oder ein gebildeter Mann der Elite wie Tacitus oder Ammianus Marcellinus.
Wir verstehen die nichtsprachlichen Gesten, Wendungen, Abbreviaturen und flüchtigen Mitteilungen in den Quartetten und Sonaten eines Haydn, Mozart und Beethoven; aber wer versteht wirklich (und affektiert es nicht nur) die bizarren Klänge und Ausdrucksgestalten der höfischen japanischen Oper und des No-Spiels?
Welch ein rätselvoller Greuel mußten den alten Hebräern zur Zeit des Auftretens ihres religiösen Heros Moses der Tierkult der Ägypter, die Idolatrie und Mumifizierung von Katzen, Pavianen und Krokodilen sein, ähnlich grotesk und unverständlich wie hernach der Kult des Gottes Baal, den wir freilich nur in jener häßlichen und bösartigen Fratze kennen, die uns die Propheten übermittelt haben.
Freilich, die neuen Kosmopoliten und Allesversteher glauben von all den Physiognomien der ihnen im Tiefsten rätselhaften und suspekten fremden Kulturen bloß die wässrig-fade Sauce der moralischen Gesinnung des Homo novus – Egalität aller im Geiste der Ignoranz und Indifferenz – abschlecken zu können, die ihre mit Eau de Paris getauften und trotz aller Lippenbekenntnisse europhil und xenophob vernagelten „Philosophen“ gleichmäßig in einer Weise auf ihnen verteilt haben, daß jede Fuge und Falte eingeebnet, jedes fremdartige Lächeln und Zähneblecken übertüncht worden sind.
Der Liebe Inbild
Du hast an jenes Herz dein Haupt geneigt,
als wärest du dir selbst entronnen,
getrunken hat der Mund, wie süß er schweigt,
das Wort aus einem klaren Bronnen.
Und deine Hand darf einer Schwalbe gleich
im Nest der seinen träumend rasten.
Die Lider matt, der Nacken, mädchenweich,
biegt Fingern sich, die huldvoll lasten.
Er aber, königlich, gibt deiner Anmut Halt,
daß Tränen nicht in Nichts zerrinnen,
das Wort der Liebe nicht im Tod verhallt,
schmiegt sich von Schoß zu Schoß das Linnen.
Die Gesten reiner Zärten, hoher Huld,
daß wir in dieser Nacht sie fänden,
erlöst von Bitterkeit und Ungeduld,
die Herzen hielten auf den Händen.
Was wird uns halten?
Was ist es denn, was hält und mag uns tragen?
Dünn ist die Wand, klopf nur dagegen,
der Klang ist hohl, du darfst es endlich wagen,
und reißt sie ein, und wie zum Segen
erweitert sich der Raum, mehr Licht kann fließen.
Der Zierrat, die Metaphernranken,
sieh, wie in Laubes Dämmer sie verschließen
den Marmor tragender Gedanken.
Doch was wir an den Tempelsäulen sehen,
sie stemmen kühn das Dachgebälke,
sind üppige Voluten, wo Akanthusblätter wehen,
aus Stein, daß Anmut hier nicht welke.
Erblicken silbern wir im Blau die Flocken,
hält uns die Erde. Geküßt von Strahlen,
die aus dem Dunkel zarte Knospen locken,
birgt mancher sie in Blumenschalen.
Und wenn die schönen sich, die Blüten, neigen,
was wird uns halten, da wir fallen?
In Liedes Lichtung weht ein Nebel – Schweigen,
das hohe Wort zerrinnt in Lallen.
Die Zwillingsschwestern
Grellgeschminkt, mit Plastikbrüsten,
überhaucht von Moschusdunst,
daß betäubt sind, die sie küßten,
feilscht die Lüge geil um Gunst.
Ihre falschen Tränen locken,
wie den Falter Sonnentau,
und erschrockne Herzen stocken,
ah, sie schmatzt, die kalte Frau.
Wie erloschen, bleich und hager,
nur das feuchte Auge glänzt,
einsam auf dem Bettellager
hat kein Freier sie bekränzt.
Ihre Blicke, sie versehren,
dringen in das Herz sie ein,
Wahrheit nähret mit Entbehren,
und ihr Kuß ist herber Wein.
Begriffliche Klärungen VI – Namen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
„Peter!“ – Der Angerufene weiß sich gemeint und antwortet ohne zu zögern „Hier!“
Diese scheinbar so beiläufige und nichtssagende Kommunikation kennzeichnen wir als eine Ursprungssituation des Menschen als historische Existenz. Nur als historisch in einer Familie, einer Sippe, einem Kulturvolk Angehöriger trägt er einen Namen, nur als Namensträger geht der Mensch soziale Beziehungen ein, nämlich Beziehungen mit Personen und Bindungen zu Institutionen und Gemeinschaften, die ebenfalls einen Namen tragen und den ontologischen, diskursiven und juristischen Status von Personen einnehmen, für sich beanspruchen und geltend machen.
Der Name und seine Glorie, seine Aura, sein Ruhm begründen den Anspruch auf Herrschaft, auf daß er in aller Munde sei, ein Schrecken den Feinden, den Getreuen ein Wohlklang.
Mit der Auszeichnung des Namens der Herrschaft beginnt die Geschichte der Hochkulturen; zugleich legen die im Namen des Herrschers erlassenen Edikte und Gesetze, wie wir sie seit Hammurabi oder dem Zwölf-Tafel-Gesetz archäologisch erfassen, sowie mit den Aufzeichnungen ihrer historischen Taten, den res gestae, wie sie Kaiser Augustus im Imperium Romanum auf Stein hat meißeln und verbreiten lassen, den Grundstein der Historiographie.
Die Genealogie und der Stammbaum der Ahnen mit den Zweigen und Früchten der Namen der herrschenden Geschlechter sind, wie Herodot zeigt, die Schußfäden im Gewebe der Geschichtserzählung.
Die Macht Roms erblüht nicht an irgendeinem Fluß, sondern am Tiber, der Triumphzug der siegreichen Feldherren gipfelt nicht auf einem beliebigen Hügel, sondern auf dem Kapitol, die Gräber der großen Familien befinden sind nicht wahllos über eine Gemarkung verstreut, sondern leuchten mit ihren Marmorbildern schon von fern dem Wanderer auf der Via Appia.
Die das Dasein des Einzelnen tragenden Institutionen sind ursprünglich eine Art lebender Allegorien und haben Namen wie die den Penaten geweihte Familie, die der Göttin Roma zugehörige Stadt, die den Göttern bestimmten Kulte mit ihren Tempeln und im Festkalender vorgeschriebenen feierlichen Umzügen.
Die ungeheuren Strahlungen mythischer und heiliger Namen herrscherlicher Gebilde und Institutionen, von Heeren, Kultgemeinschaften, Staaten und Reichen erklären ihre Faszination und die Unterwerfungsbereitschaft ihrer Anhänger und Mitglieder, die bis zum freiwilligen Opfertode reichen kann. – Kultisch geprägte Terrorgruppen von den Assassinen bis zu den Dschihadisten geben uns reichliches Anschauungsmaterial.
Inhabergeführte Unternehmen tragen den Namen ihres Gründers und gelten im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches als Personen. – Die Analogie ermißt man, wenn man daran denkt, daß in Shakespeares Königsdramen die Herrscher oft im Namen und der Maske ihres Herrschaftsgebiets und Landes wie Kent, Dänemark, Norwegen auftreten; man denke auch an Wendungen wie „das Haus Hessen“, „das Haus Hannover“, „das Haus Habsburg“, womit nicht nur ihre Wohnsitze, sondern die Monarchen selbst gemeint sind.
Ein wesentlicher Zug, den das Individuum mit der als Person gedachten institutionellen Einheit verbindet, ist die Verpflichtung, die ursprünglich aus dem Verhältnis zwischen Einzelnen erwächst, wie zwischen Freund und Freund, Gastgeber und Gast, Leihgeber und Schuldner.
Die Aura der Person verschmilzt mit der Aura des Namens. – So wird aus dem Individualnamen Cäsar der Allgemeinbegriff Kaiser.
„Wo bist du Adam?“ – Adam weiß, wer ihn ruft, und schweigt und sucht sich vor Gottes Angesicht zu verbergen.
In der Flucht vor dem Anruf, sei es der Anruf Gottes, wie es der Bericht der Genesis in religiösen Bildern malt, sei es der Anruf der inneren Stimme des Gewissens, erkennen wir das Gefühl und das
Eingeständnis der Schuld. Der biblische Autor deutet sie in der Scham, aufgrund derer sich das erste Menschenpaar die Nacktheit bedeckt; der Autor von „Sein und Zeit“ deutet sie nach dem Verblassen der religiösen Bilder als Flucht vor dem Anruf zur Eigentlichkeit, nämlich zu sein, der man ist, ein der Sorge und der Angst vor dem Tode anheimgegebenes Dasein, das sich in der Entschlossenheit und dem Mut bewährt, mit welchem es beides annimmt.
Wer auf den Anruf seines Namens hört, antwortet nicht nur „Hier!“, in der Absicht, seine Position im Raum anzuzeigen oder seine Identität zu bestätigen; um „Hier!“ oder „Hier bin ich“ sagen zu können, wird ein weltbildliches Koordinatensystem vorausgesetzt, worin sich der Sprechende im Nullpunkt, dem Nullpunkt seiner Existenz, verortet und verzeitlicht; denn die Koordinaten des Systems konstituieren sowohl räumliche als auch zeitliche Dimensionen.
Wir sagen nun, nur Personen sind in der Lage sich am Nullpunkt ihrer Existenz zu individualisieren, und eine Person zu sein heißt, einen Namen zu tragen.
Der Fips genannte Hund weiß nicht, daß er Fips heißt, auch wenn er freudig wedelnd herbeieilt, wenn man ihn mit seinem Namen ruft. Der Name des Hundes ist aber ein akustisches Anzeichen, auf welches das Tier wie auf einen bedingten Reflex reagiert, dagegen kein sprachliches Zeichen wie der Name Peter, auf den der so Angerufene nicht nach Art eines bedingten Reflexes reagiert, sondern etwa mit der Frage antworten kann: „Meinst du mich?“
Das Hündchen Fips kann nicht des lieben Hundefreundes Micki gedenken, mit dem es immer so gern herumgetollt ist, wenn der Name von Micki bei einer Unterhaltung zwischen seiner ehemaligen Besitzerin und Fipsens Herrchen fällt, in deren Verlauf sie wieder einmal auf ihren schon seit langem verstorbenen Liebling zu sprechen kommt.
Wir sehen, daß ein durch eine Psychose bedingter Zerfall der Persönlichkeit mit der Unfähigkeit einhergehen kann, sich des eigenen und fremder Namen korrekt zu bedienen; so unterschrieb etwa Hölderlin etliche seiner Turmgedichte mit fiktiven Namen, so erblickte der kranke Nietzsche in der angebeteten Cosima die mythische Ariadne und identifizierte sich selbst mit Dionysos und Christus.
Wir unterscheiden tragende und nichttragende Wände; Zierrat und Schnörkel bloßer Rhetorik von den für den Gehalt des Gesagten und Mitgeteilten unverzichtbaren Bestandteilen der Rede.
Die nichttragende Wand können wir abreißen; der Raum wird großer und meist lichter. Die rhetorischen Floskeln können wir beiseitelassen; das Gesagte wird klarer, übersichtlicher, einsichtiger.
Wenn die nichttragende Wand allerdings ein kostbares Mosaik oder Wandgemälde aufweist, wie etwa in einer pompejanischen Villa, werden wir den Teufel tun und sie niederreißen. Der Wandschmuck auf einer nichttragenden Wand ist der dichterischen Sprache vergleichbar mit ihren verschiedenen Verfahren der Wiederholung, Spiegelung und metaphorischen Steigerung.
Als Beispiel diene der Gebrauch der Verdopplung der Aussage im typischen Parallelismus des Autors der Genesis: „Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist auf der Erde. Und es geschah so. Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art. Und Gott sah, daß es gut war.“ Genesis, 11–12 (Lutherbibel)
Hier besteht der Parallelismus in der Spiegelung des schöpferischen Befehls Gottes (zur Erschaffung der Pflanzenwelt) und seiner Verwirklichung („Und es geschah so“). Der formelhafte Abschluß des dritten Schöpfungstages („Und Gott sah, daß es gut war“) wird am Ende eines jeden Schöpfungstages wiederholt.
Die semantische Relation, die sich darin manifestiert, daß der Name Cäsar den Mann meint, der am 10. Januar 49 v. Chr. den Rubikon überschritt, ist gleichsam das Fundament des Hauses der Sprache; wir sehen und betreten das Haus, das Fundament ist unsichtbar.
Was wir Bedeutung, Bezugnahme, Wahrheit nennen, sind gleichsam die unsichtbaren Tiefenschichten, auf denen das Haus der Sprache errichtet ist. Doch ist, was sie meinen, nicht darstellbar, erklärbar oder ableitbar, sondern nur indirekt zu ermitteln; denn am Ende können wir über das, was wir beispielsweise mit Bedeutung und Wahrheit meinen, nur sagen: Der Satz: „Es regnet“ bedeutet, daß es regnet, und er ist wahr, wenn er ausgesprochen wird, wenn es regnet.
Die historische Person, die mit dem Namen Cäsar gemeint ist, kann eindeutig mittels der Angabe identifiziert werden, daß es der Mann ist, der am 10. Januar 49 v. Chr. mit einem Heer den Rubikon überschritt.
Natürlich können wir den Mann, der mit Cäsar gemeint ist, auch dadurch identifizieren, daß wir sagen, es sei der Mann, der am 15. März 44 v. Chr. in der römischen Kurie ermordet wurde.
So wie wir wissen, daß der Morgenstern und der Abendstern der Planet Venus sind, wissen wir, daß der Mann, der am 10. Januar 49 v. Chr. den Rubikon überschritt und am 15. März 44 v. Chr. ermordet wurde, Cäsar ist.
Es kann nicht sein, daß der Morgenstern Venus und der Abendstern nicht Venus ist; aber es hätte sein können, daß Cäsar am 10. Januar 49 v. Chr. den Rubikon überschritten hätte, aber nicht am 15. März 44 v. Chr. ermordet worden wäre. Die Bedeutung des Namens Cäsar wäre in diesem Falle eine andere als diejenige, die wir aktuell mittels der genannten beiden Daten festgelegt haben.
Wir ermitteln den rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Träger eines Namens, anhand der Identifikation der Person, indem wir beispielsweise eine DNA-Untersuchung durchführen, die es uns ermöglicht, dem Usurpator die Verwendung des Namens zu untersagen. – Wenn wir dagegen den legitimen Gebrauch des Namen „Wasser“ anhand von Kriterien wie trinkbare Flüssigkeit und Flüssigkeit, die bei bestimmten Temperaturen ihren Aggregatzustand modifiziert, festlegen, müssen wir ihn all jenen nicht absprechen, die nicht wissen, daß Wasser H2O ist.
Es ist bezeichnend, daß die Hervorbringungen und Geschöpfe Gottes im Bericht der Genesis mit den trivialen Allgemeinbegriffen (Wasser, Erde, Pflanzen, Tiere) benannt werden und nur die Menschen Eigennamen tragen.
Mit dem Eigennamen beginnt die Geschichte des Menschen, konstituiert sich die menschliche Lebensform.
Die mythischen Namen sind in ein Zwielicht von Eigenname und Allgemeinbegriff getaucht: Zeus oder die Macht des Gewitters, Aphrodite oder die Macht der Liebe, Ares oder die Macht des Krieges.
Die Namen der mythischen Götter verblassen zu Allegorien, wenn sich das Zwielicht auflöst und der Allgemeinbegriff gleichsam den Eigennamen des Gottes absorbiert: Statt zu sagen „Zeus regnet“, sagt man einfach „Es regnet.“
Der Name des biblischen Gottes ist kein mythischer Name; der Name des biblischen Gottes ist nicht in das Zwielicht von Mythos und Allgemeinbegriff getaucht. Streichen wir den biblischen Gottesnamen, bleibt kein Allgemeinbegriff zurück; auch wenn dies die an der aristotelischen Ontologie geschulten christlichen Theologen des Mittealters, ja noch Descartes und die Deisten glaubten.
Der begrifflichen Konfusion und Verwechslung des Eigennamens Gott und des Begriffs von Gott verdanken wir den ungeheuren Aufwand der Theologen und Philosophen des Mittelalters, ja noch eines Descartes und Leibniz, die Existenz Gottes aus seinen begrifflichen Eigenschaften ableiten zu wollen, und ebenso ihr notwendiges Scheitern.
Die Nachtigall, wenn sie uns denn noch zu hören vergönnt ist, sie ist die gleiche wie die Nachtigall, die Sophokles im Hain bei Kolonos gehört hat.
Der alten Dame ist ihr Hündchen Micki gestorben; sie kauft sich ein neues, das dem alten ganz ähnlich sieht und nennt es Micki.
Wir existieren sowohl als anonyme Natur- und Gattungswesen als auch als Personen, die einen individuellen Namen tragen; unsere natürliche Existenz reicht von der Geburt bis zum Tod, unsere personale Existenz reicht über das Gezweig der Namen unserer Ahnen weit in die Vergangenheit zurück, vermag sich aber auch über die Träger unseres Namens, unsere Kinder, in eine unbestimmte Zukunft auszudehnen.
Der Dichter Fernando Pessoa entwarf fiktive Dichterpersönlichkeiten mit eigener Biographie und eigenem Namen (etwa Alberto Caeiro und Ricardo Reis), um seine Ausdrucksmöglichkeiten zu vermannigfachen. Doch was die fiktiven Personen geschrieben haben, hat natürlich Pessoa geschrieben.
Wird der Scheckbetrüger, der unter falscher Identität gehandelt hat, entlarvt und vor Gericht gestellt, kann er sich nicht auf die Taten seines Doppelgängers herausreden, sondern wird unter seinem Klarnamen angeklagt und verurteilt.
In Samuel Becketts trostlos-grotesker Welt jenseits des Menschen tragen die Protagonisten entweder clowneske Namen (wie Lucky und Pozzo, gleichsam tragikomische Inversionen der Namen der Commedia dell‘arte), oder sind schlicht namenlose Figuren.
Die Lebenswelten können in Tafeln und Stammbäumen von Allgemeinbegriffen wie der Systematik der Pflanzen und Tiere von Linné erfaßt und klassifiziert werden; die vom Menschen überschaute natürliche Welt und die von ihm geprägten Daseinsbereiche und Lebensformen können in Listen, Registern, Musterbüchern und (illustrierten) Katalogen mit ihren jeweiligen Namen als Lemmata dargestellt werden: Flüsse, Berge, Länder, Kontinente, Orte und ihre Straßen und Plätze, Bauwerke, Brücken, Schiffe, Tage und Monate und manches andere haben wir mit Eigennamen versehen und ausgezeichnet.
Die riesige Tafel mit den Klingeln und den verschmierten, überklebten, zerfledderten Namensschildern neben dem Eingang des heruntergekommenen Hochhauses in einem sogenannten sozialen Brennpunkt, dieses Sinnbild der Häßlichkeit, des Chaos und des kulturellen Verfalls, spricht uns vom Scheitern der liberalistischen, globalistischen und sozialistischen Utopien.
Es gibt die vielen Berge der Alpen, aber nur einen Montblanc, es gibt die vielen Gipfel des Himalaya , aber nur einen Mount Everest.
Mit der Benennung oder Taufe tritt das Kind in eine profane oder sakrale Gemeinschaft ein.
Den Protagonisten und Helden von Dramen und Erzählungen verleihen allererst ihr meist fiktiven Eigennamen das Gewicht und die Plausibilität ihrer Scheinexistenz.
Manche Namen genialer Künstler saugen die Seele des Toten auf, sodaß sie noch posthum ihre Aura mittels ihrer Namen auszustrahlen scheinen: Mozart, Beethoven, Schubert, Goethe.
Nur Menschen leben in der Welt der Namen, Tiere und tierische Gemeinschaften in einer namenlosen, anonymen Welt.
Schon dieser begriffliche Unterschied zwischen dem vorsprachlichen und namenlosen Dasein der Tiere und der auf die Bedeutung des Personennamens gegründeten menschlichen Existenz taucht alle Versuche neurowissenschaftlich orientierter „Philosophen“, das soziale Leben von Tiergemeinschaften und dasjenige des Menschen über einen Leisten zu schlagen, in ein flackerndes und trübes Licht, das jedenfalls nicht das stille und klare der philosophischen Besinnung zu sein scheint.
Der Name ist wie ein Faden, der uns mit der Existenz der anderen, der Lebenden und Toten, verknüpft, manchmal lose verbindet, manchmal aufs schmerzlichste fesselt.
Der Name der Geliebten kann den Liebenden begeistern oder entsetzen, ins Offene locken oder in Verliese bannen, beflügeln oder zu Boden schlagen.
Die Namen der Verstorbenen, die auf Grabsteinen und Gedenktafeln uns entgegenblicken, sind ein bedeutsames Zeugnis menschlicher Lebensform und ein Zeichen der Pietät, die uns von der Barbarei trennt.
Das Grab zu schänden, den Namen des Verstorbenen zu entstellen und zu entehren gilt zurecht als schweres Sakrileg. – Doch müssen wir dies in Umbruchszeiten wie diesen, da eine neue Generation die Sitten der alten zynisch oder von einer höheren Moral besessen von sich abschüttelt, oft bis zu einem Maß und einer Form der geistigen Entfesselung erleben, die uns empört oder sprach- und ratlos zurückläßt.
Als würde im Namen der Toten jenes Moment der Seele weiterexistieren, das sich in der Andacht und hymnischen Gewalt manifestiert, von der die Widmungs- und Totenbilder der Dichter und Maler, aber auch ein Totengedenken wie das Violinkonzert von Alban Berg künden.
Die Schreckensherrschaft beraubt die Opfer ihrer Namen (und ersetzt sie zynischer- oder diabolischerweise gar durch Nummern).
Die jüdische Religion ist der Kult um Gottes heiligen Namen, der nicht geschrieben, nicht (außer einmal im Jahr beim Jom Kippur durch den Hohepriester) ausgesprochen werden darf.
Der Ruhm ist an das Echo des Namens im Munde zukünftiger Generationen geknüpft; wie die Ode des Horaz an Melpomene „Exegi monumentum aere perennius“ bezeugt.
Verspottung mittels Verkleinerung: „graeculi“ wurden die Haussklaven und Hauslehrer der römischen Aristokraten genannt.
Der Gebrauch von Diminutiven und Kosenamen unter Liebenden, mit dem sie sich bei stürmischem Wetter in die gute und gut geheizte Stube des Hauses der Sprache zurückziehen, um von dort aus dem Fenster wie kleine Kinder dem Flockentreiben zuzuschauen.
Die römischen Namen zeigen die Bedeutung des Vaterrechts in der indogermanischen Kultur, denn ihr zweiter Bestandteil nach dem üblichen praenomen (unserem Rufnamen) ist das nomen gentile, das die Herkunft aus der väterlichen Linie angibt, sowie das inschriftlich verwendete patronymium (Marci filius). Das noch hinzutretende cognomen (sowie der Ehrenname, das agnomen) dienten der Vereindeutigung der Benennung: Gaius Julius Caesar, Publius Cornelius Scipio Africanus.
Der Niedergang der patriarchalisch geprägten Hochkultur, wie wir sie seit den Schüben der großen Revolutionen und im Gefolge der Industrialisierung, Technisierung und Vermassung erleben, zeigt sich in der Inflation fremdstämmiger Namen und der Degradierung und weitgehenden Tilgung oder zumindest Verächtlichmachung des Namens des Vaters und der Namen der Väter.
Staatliche Inschriften wie die römischen sind Dokumente des Willens zur Macht, private wie die intime Grabbilder auf der Via Appia sind beredte Zeichen der Mnemosyne.
„Dem unbekannten Soldaten“ – diese Inschrift ist ein echtes Kennzeichen vaterländischer Gesinnung.
Der Eigenname und die Sprachhandlungen, mit denen wir ihn verleihen, gehören ebenso zum Fundament der Sprache wie die Sprechakte des Zusagens, Versprechens, Beeidens und Vereinbarens, die wir durch namentliche Bezeugung oder unsere Unterschrift besiegeln. Nur aufgrund der Tatsache, daß die anderen wie wir selbst Namen tragen, sprechen wir ihnen ein Dasein als Personen zu, denen wir Reden und Handlungen als Willensäußerungen zuerkennen.
Nur Helga kann Peter ihr Wort geben, nur Peter kann Helga beim Wort nehmen, namenlose Tiere und anonyme Roboter können dies nicht.
Verlorenes Leben
Kein Wasser war, um uns zu taufen,
wir sind der Liebe Foltergluten,
die Hexe und der Scheiterhaufen –
ins Dunkel laß, o Gott, uns bluten.
Es stillt uns nicht in Wälder fliehen,
in uns der Lärm, das Schreien, Greinen,
und Schwärme wirrer Stimmen ziehen,
und Kinder, die im Abgrund weinen.
Was ließe helle Nerven dämmern,
auf bangen Geist gespannte Saiten,
wenn Finger wilder Musen hämmern,
auf ihnen hin- und widergleiten?
Uns hilft nicht knien vor Madonnen
in kühlen Liliendämmerungen,
wenn durch die Adern rollen Sonnen,
der Rose Duft uns hat bezwungen.
Was könnte löschen Durst und Feuer,
die Traumes Funken neu gebären,
was sättigen die Ungeheuer,
die sich von unsern Herzen nähren?
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
„Es regnet“ – einer der merkwürdigen Sätze indogermanischen Typs, die sich nicht weiter analysieren und in Subjekt und Prädikat aufspalten lassen. Sie sagen, was sich ereignet: Es schneit. Es blitzt. Es donnert. Es wird wärmer. Es zieht.
Sätze mit dem Schein-Subjekt „es“ muten an, als seien sie ursprünglich Phänomenen der Witterung zugedacht; und wirklich sagte man im Altgriechischen auch „Zeus regnet“, bevor man sagte „Es regnet.“
Einfache Aussagen wie „Tropfen fallen“ haben die logisch-grammatische Form a (P), wobei die Variable a für ein Objekt der Welt, P für ein Prädikat steht, das man ihm zuschreiben kann. „Tropfen steigen empor“ ist gewiß ein ebenso sinnvoller Satz wie „Tropfen fallen“, doch nicht in der Welt, in der wir leben.
Der Satz „Es regnet“ hat, außer den gewöhnlichen Zeichen, die wir in ihm vorfinden, kein Sonderzeichen, an dem wir erkennen könnten, daß er eine Aussage über die Welt ist, in der wir leben. Würden wir das Ausrufezeichen mit der neuen Bedeutung verwenden, daß der mit ihm versehene Satz wirklich etwas über die Welt sagt (wie es Frege mit dem Behauptungszeichen vorgeschwebt haben mag), läsen wir etwa: „Es regnet!“ oder einfach „Regen!“ – Doch könnten wir ebensogut im Märchenbuch von dem Zwerg lesen, der aus einer Baumhöhle klettert und ausruft: „Es regnet!“ oder einfach „Regen!“
Wir können nicht sagen, Aussagen wie „Es regnet“ müßten von demjenigen, der sie versteht, in bedeutungsgleiche Ausdrücke übersetzt werden können; denn jemand könnte wissen, was der Satz „Es regnet“ bedeutet, ohne zu wissen, was der Satz „Tropfen fallen“ bedeutet, oder von den Prämissen „Wenn es regnet, fallen Tropfen“ und „Es regnet“ den Schluß folgern zu können „Es fallen tropfen.“
Der Ausruf aus dem Munde des Zwergs „Es regnet!“ bedeutet im fiktionalen Kontext des Märchens augenscheinlich etwas anderes als derselbe Ausruf aus dem Mund des Gastgebers, der aus dem Fenster schaut. nachdem er mit seinem Gast vereinbart hat, noch einen Spaziergang zu unternehmen. Denn im Kontext dieser Situation stellt er nicht nur die deskriptive Aussage über ein Ereignis in der Welt dar, sondern zugleich die präskriptive Äußerung „Bleiben wir lieber hier!“
Die Äußerung „Es regnet“, die bedeutet „Bleiben wir lieber hier“, sagt nicht „Bleiben wir lieber hier“; wer situationsgemäß versteht, was die Äußerung besagt, kann es ihr nicht anhören oder ansehen, denn sie sagt ja nicht, was sie meint.
Das Bild der Wolke mit den fallenden Tropfen, auf das die Wetterfee in der Nachrichtensendung weist, sagt, daß es in dieser Region regnet (oder bald regnen wird). Das Bild mit der ikonischen Figur eines Mannes oder einer Frau an der Tür, sagt nicht, daß wir auf Vertreter des jeweiligen Geschlechtes treffen, wenn wir die Tür öffnen, sondern daß nur Vertreter des jeweiligen Geschlechts sie öffnen und eintreten sollen. – Das Bild mit der Regenwolke ist deskriptiv (oder prognostisch), das Bild mit der ikonischen Figur an der Toilettentür ist nicht deskriptiv, sondern präskriptiv.
Das Bild mit der Regenwolke ähnelt dem, was es meint, der Satz „Es regnet“ nicht. – Die ikonischen Figuren auf den Toilettentüren sind dem, was sie darstellen, ähnlich, doch nicht dem, was sie meinen („Du kannst eintreten, wenn du mir ähnlich bist“).
Der frühe Wittgenstein glaubte, Sätze seien Bilder von möglichen Sachverhalten und Gedanken seien sinnvoll nur, wenn sie in solchen Sätzen ausgedrückt werden; es bestehe eine logische oder strukturelle Ähnlichkeit und Isomorphie zwischen dem Gedanken und dem ihn ausdrückenden sinnvollen Satz und dem möglichen Sachverhalt, den der Satz darstellt. Demnach wäre der Satz „Peter sitzt links von Petra“ sinnvoll und der Ausdruck eines sinnvollen Gedankens, weil seine logische Form mit der logischen Form des Sachverhalts, nämlich der Relation a (S) b übereinstimmt, wobei a und b für die Namen der Personen und S für die Relation des geordneten Nebeneinandersitzens steht und die Tatsache, daß der Name „Peter“ links von dem Namen „Petra“ steht, die Tatsache abbildet, daß Peter links von Petra sitzt.
Aber welche logische Form hat der Satz „Es regnet“? Was sind seine logischen Bestandteile und was bildet er strukturell ab? Der Satz „Es regnet“ läßt sich augenscheinlich nicht so analysieren, daß die Analyse die grammatisch-semantischen Subjekte aufdeckt, deren Relation der Satz zum Ausdruck brächte; denn der Satz druckt keine Relation aus, auch keine einstellige wie etwa der Satz „Tropfen fallen.“
Strukturelle Ähnlichkeit und logische Isomorphie zwischen Sätzen und möglichen Sachverhalten sind demnach kein notwendiges semantisches Sinnkriterium.
Mit der Äußerung „Es regnet“ oder der Aussage, daß es regnet, meinen wir ein mögliches Weltereignis, ein Ereignis, das stattfindet oder nicht stattfindet. – Findet das Ereignis bei der Äußerung des Satzes, der es meint, statt, nennen wir ihn wahr, findet es bei der Äußerung des Satzes nicht statt, nennen wir ihn falsch.
Dem Satz „Es regnet“ sehen wir nicht an, ihm steht es nicht an der Stirn geschrieben, ob er wahr oder falsch ist. Dagegen zeigt der Satz „Es regnet oder es regnet nicht“ und der Satz „Es regnet und es regnet nicht“, daß sie wahr beziehungsweise falsch sind; den ersten nennen wir eine logische Tautologie, den zweiten eine Kontradiktion.
Wahrheit und Falschheit sind Eigenschaften von deskriptiven Sätzen; logische Wahrheit und logische Falschheit sind Eigenschaften von mindestens zwei deskriptiven Sätzen, die durch die logischen Konstanten „und“ beziehungsweise „oder“ verknüpft sind.
Wolken ziehen sich zusammen, der Himmel verdüstert sich. Einer sagt „Es gibt Regen“; die Wettererscheinungen dienen uns als Anzeichen künftiger Ereignisse, der Satz aber bedient sich keiner Anzeichen, und sprachliche Zeichen sind autonom (und keine Anzeichen).
Der Ausruf „Aua!“ kann ein Anzeichen für Schmerzen sein; aber der Satz „Ich habe Schmerzen“ ist es nicht. Doch kann die Aussage „Ich habe Schmerzen“ als Übersetzung des Ausrufs „Aua!“ aufgefaßt werden; aufgrund des Umstands, daß in diesem Falle die sprachlichen Zeichen eine vermíttelte oder indirekte Wiedergabe nichtsprachlicher oder unartikulierter Anzeichen sind, begreifen wir leichter die Sonderstellung von Äußerungen der ersten Person über ihre mentalen Zustände, die anders als Aussagen in der dritten Person wie „Er hat Schmerzen“ oder „Es regnet“ meist von Zweifeln ausgenommen sind.
Der Maler eines Selbstporträts mag während des Malvorgangs über sein Leben nachgrübeln, und die Intensität seiner Selbstbetrachtung kann sich in den Zügen des Porträtierten, dem physiognomischen Ausdruck und der Farbgebung kundtun; doch was wir die Ähnlichkeit des Bildes mit dem Dargestellten nennen, ist keine Widerspiegelung solcher mentalen Vorgänge, sondern die Wirkung eines projektiven Malverfahrens.
Die Ähnlichkeit des Porträtbilds mit dem Porträtierten können wir nur feststellen, wenn wir das Bild mit dem Gesicht des Malers vergleichen. – Aussagen können mit nichts verglichen werden, es sei denn mit anderen Aussagen, beispielsweise ihrer Umformung mittels synonymer Ausdrücke wie etwa „Es schüttet“, „Es rieselt“, „Es schauert“ oder ihrer Übersetzung in andere Sprachen wie beispielsweise „It is raining“, „Il pluit“, „Piuve“.
Einer, der sagt „Es regnet“, mag hören, wie Regentropfen aufs Dach fallen, oder aus dem Fenster auf die fallenden Tropfen schauen; doch der Satz „Es regnet“ ist keine Beschreibung eines akustischen oder visuellen Eindrucks.
Nehmen wir an, die Vorstellung von fallenden Regentropfen sei durch einen Komplex feuernder Neuronen im Gehirn repräsentiert: Der Neurologe könnte mittels eines Gehirnscans nicht ausfindig machen, daß ein solches neuronales Geschehen dem Sinn des Satzes „Es regnet“ äquivalent ist.
Wir können von der Wüste reden und dabei an Regentropfen denken, wir können vom Regen reden oder sagen „Es regnet“ und dabei an die ausgetrocknete Sahara denken.
Die semantischen Eigenschaften von Sätzen können wir nicht auf der Grundlage der Vorstellungen (Phantasiebilder, Erinnerungen) erfassen, die sie begleiten.
Semantische Eigenschaften sind keine mentalen oder psychologischen Eigenschaften.
Semantische Eigenschaften und die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke können nicht aus neuronalen Zuständen oder Ereignissen abgeleitet werden.
Die Bedeutung einer Aussage befindet sich nicht im Gehirn dessen, der sie äußert.
Die Semantik ist weder auf Psychologie noch auf Neurophysiologie reduzierbar.
Die Falschheit der Äußerung „Es regnet“, wenn es nicht regnet, mag die Wirkung einer auditiven Halluzination sein; doch dieses neuronale und psychotische Ereignis begründet nicht die Falschheit der Äußerung – jemand könnte die auditive Halluzination herabprasselnder Regentropfen haben, während es tatsächlich regnet; seine Äußerung „Es regnet“ wäre zwar wahr, aber ihre Wahrheit wäre nicht durch die zufällige Koinzidenz seines seltsamen Erlebens mit der Wirklichkeit begründet, sondern durch die Tatsache, daß es regnet.
Die wahre Äußerung „Es regnet“, wenn es regnet, wird nicht falsch, wenn der Sprecher glaubt, daß es gar nicht regnet, aber seinen Gast mit der scheinbar falschen Äußerung zum Bleiben nötigen will.
Der bequeme Gastgeber will den Gast dazu verleiten, auf den geplanten Spaziergang zu verzichten und gemütlich in der warmen Stube noch weiterzuplaudern, und sagt, während es auf den Balkon tropft (freilich, weil der Bewohner der oberen Wohnung die Balkonpflanzen gießt) „Es regnet“ – er mag es nun selbst glauben oder flunkern. Ob er Falsches annimmt oder lügt, beidemal ist die Aussage unwahr.
Die Äußerung „Ich weiß, daß es regnet“, wenn es regnet, ist keine wahre Äußerung über den Regen, sondern über die Überzeugung des Sprechers; und sie ist sinnvoll nur, wenn sie beispielsweise den Zweifel des Gesprächspartners ausräumen soll. – Denn aus dem Fenster zu schauen und es regnen zu sehen und dann zu sagen „Ich weiß, daß es regnet“ ist unsinnig.
Die Äußerung „Ich fürchte, es gibt Regen“, wenn sich Wolken zusammenziehen und der Himmel sich verdüstert, ist keine Wetterprognose, sondern der Ausdruck der Bedenklichkeit des Sprechers und seines Wunsches, lieber daheim zu bleiben.
Die Semantik deskriptiver Sätze wie „Es regnet“ ist keine Funktion mentaler Zustände oder Dispositionen, die wir mit Wendungen wie „Ich glaube, daß p“, „Ich weiß, daß p“, „Ich fürchte, daß p“ oder „Ich hoffe, daß p“ zum Ausdruck bringen.
Die Bedeutung der Aussage „Es regnet“ ist keine Funktion des Wissens, daß Regentropfen aus Wasser und Wasser aus H2O besteht; denn der Bewohner der Putnamschen Gegenerde mag sagen „Es regnet“, auch wenn er weiß oder nicht weiß, daß die Regentropfen, die auf der Gegenerde niedergehen, nicht aus H2O bestehen.
Gleichgültig, ob wir die neuronalen Ereignisse in unserem Gehirn deterministisch oder probabilistisch deuten, die Tatsache, daß wir auf ihrer Grundlage den Satz bilden „Es regnet“ und damit meinen, daß es regnet, ist weder eine neurophysiologische Tatsache noch ein rein phänomenaler Bewußtseinsinhalt.
Von Neuronen und neuronalen Ereignissen (ebenso wie vom Regen und von Regentropfen) sprechen zu können setzt die semantische Relation zwischen Sprache und Welt schon voraus, kann sie demnach nicht begründen.
Wenn die semantische Beziehung zwischen der Äußerung „Es regnet“ und dem Ereignis, daß es regnet, weder aufgrund der Ähnlichkeit, der Abbildungsfunktion oder der logischen Isomorphie des Satzes mit dem Wetterphänomen noch aufgrund der psychologischen Zustände und mentalen Dispositionen des Sprechers besteht, worin gründet sie dann?
Sagen wir einmal, was naheläge, die semantische Relation gründe in den Kontexten der Äußerung von Sätzen, die uns ermöglichen, sie zu bestätigen oder zu widerlegen (beziehungsweise ihre Annahme nahezulegen oder in Zweifel zu ziehen).
Die Äußerung „Es regnet“ lassen wir gelten, wenn uns der Blick aus dem Fenster bestätigt, daß Tropfen fallen.
Somit würde die semantische Relation in der Wahrheitsfähigkeit (oder Widerlegbarkeit) von Sätzen gründen, mit Hilfe welcher Prüfverfahren ihre Bestätigung oder Widerlegung auch immer erfolgen mag.
Aber drehen wir uns nicht im Kreise? Offensichtlich. Denn Wahrheit ist ja trivialerweise die semantische Fähigkeit von Sätzen, einen Bezug auf bestehende Sachverhalte nehmen und durch diese bestätigt werden zu können.
Daraus folgern wir, daß die semantische Relation zwischen Sprache und Welt, die Conditio humana schlechthin, insofern wir uns als Homo loquens definieren, nicht erklärt oder abgeleitet werden kann; jede Erklärung und Ableitung setzt sie bereits voraus.
Der Heidegger von „Sein und Zeit“ tat demnach gut daran, die Welterschlossenheit des menschlichen Daseins nicht als philosophisches Problem zu behandeln, sondern als Existential vorauszusetzen. Nur daß sie sich nicht bloß im zeughaft-technischen und künstlerischen Weltumgang oder in existentiellen Stimmungen wie der Angst und der Sorge kundtut, sondern, wie er in seinem Spätwerk selber darlegt, um sich auf solche Weise manifestieren zu können, das Sprachvermögen und die semantische Kraft der sprachlichen Darstellung zur Grundlage hat.
Der sinnvoll klingende philosophische Satz, wonach die Aussage „Es regnet“ die Tatsache bedeute, daß es regnet, ist ein Scheinsatz; denn es gibt keine Tatsachen in dem Sinne, wie es Regentropfen oder Dinge der Welt gibt. Wir reden von Tatsachen, aber eigentlich reden wir von der semantischen Kraft der Sprache, also von einer begrifflichen Struktur.
Wasser, sagen manche, habe die Bedeutung von H2O; doch Dinge, Substanzen und Ereignisse haben keine Bedeutung, sondern nur Sätze, die von ihnen reden.
Von Dingen, Substanzen und Ereignissen zu reden ist schon zweideutig; denn eigentlich sind sie begriffliche Formen der Sätze, mit denen wir von Tropfen, Wasser und Regenfällen sprechen.
Die Äußerung „Es regnet“ über den bestehenden Sachverhalt, daß es regnet, ist ein Konstituens der Tatsache, daß es regnet, nicht freilich der Regentropfen.
Die seltsame, aber gnomisch-stimmige Äußerung Heideggers „Es weltet“ ist ein Hinweis auf die gleichsam sprachähnliche Ereignisstruktur der Welt, in der wir leben, und auf die welterschließende semantische Kraft der menschlichen Sprache, die von ihr Zeugnis gibt. Ohne die semantische Kraft der Sprache könnten wir das Bestehen des Sachverhalts und also die Wahrheit der Aussage „Es regnet“ nicht erfassen.
Ohne das Dasein des Homo loquens und die darstellende Funktion der menschlichen Sprache fielen wohl Regentropfen auf die Erde nieder, doch wäre es unsinnig, von einem möglichen Sachverhalt zu reden, den wir mit der Aussage „Es regnet“ meinen und deren Wahrheit wir mit einem flüchtigen Blick aus dem Fenster bestätigen.
Über die Jahrhunderte und die Länder verteilt könnte man Einträge in Tagebüchern finden wie „Es regnet“, „It is raining“, „Il pluit“, „Piuve“, und statt zu sagen, dann und dann hat es geregnet, können wir auch sagen, im Tagebuch des N. N. vom xx.xx.xxxx steht „Es regnet.“
Vorkommnisse eines natürlichen Ereignistyps wie Regen, Gewitter, Schneefall können wir auf einer beliebig langen Zeitstrecke anhand des jeweiligen Protokollsatzes „Es regnet“, „Es blitzt“, „Es schneit“ datieren; dies gilt nicht für singuläre und historisch einmalige Ereignisse. Der Meteorit schlug nur einmal auf; Cäsar überschritt nur einmal den Rubikon.
Da wir die natürlichen Ursachen des Regens kennen, können wir voraussagen, daß sich dieses Wetterphänomen unter den gleichen kausalen Umständen wiederholen wird; dagegen kennen wir keine natürlichen Ursachen, aus denen sich das Handeln einer Person gesetzesförmig ableiten ließe.
Der Mythos, gemäß dem es der Wettergott Ist, dem das natürliche Ereignis Regen als willensmäßiges Handeln zugeschrieben wird, ist eben aufgrund dieser poetischen Illusion ein Mythos.
Des Verses wilde Ranken
Die Wellen, die ans Ufer rollen,
umschäumen noch den bleichen Tand
von Inseln, die im Meer verschollen,
und kein Homer hat sie benannt.
Wovor zurück wir ängstlich weichen,
im Zwielicht finden wir den Halt,
wo dumpf wir hin im Nebel schleichen,
glänzt sie hervor, die Wohlgestalt.
Der Wurzel gilt es nachzufühlen,
die sich ins Hadesdunkel streckt –
wo Klagen sickern, Geister wühlen,
hat sie den sichern Grund entdeckt.
Die Blüten, die auf Wassern schwanken,
zu träumen sind sie aufgetan,
Tau tropft von Verses wilden Ranken,
geschüttelt jäh vom Stab des Pan.
Die Anmut lernen wir vom Schaukeln
der Schönen, die am Hochseil schwebt,
wenn Gong und Pauke sie umgaukeln –
sie fliegt, ein Schwanenfittich bebt.
Die Landschaft will ins Ferne rücken,
reißt auf die Nacht ein Schreckensstrahl,
wie zittern wir, die Frucht zu pflücken,
und schmecken süß der Liebe Qual.
Bürger und Genie
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Das künstlerische Genie muß sich in aesteticis nicht den Regeln und Konventionen des bürgerlichen Geschmacks unterwerfen, den moralischen Regeln und sittlichen Konventionen aber schon. Es muß mit ihnen wie alle sein Dasein fristen, aber hat an ihnen darüber hinaus eine Maske, hinter der es das Außeralltägliche, Unheimliche und Ungeheuerliche seiner Erfahrung, seines Glücks und seines Elends, verbergen kann.
Mephistopheles ist die Artíkulation des Außeralltäglichen, Unheimlichen und Ungeheuerlichen der Erfahrung Goethes. – Freilich trug Goethe, um diese Dimension seiner Persönlichkeit im täglichen Umgang zu verdecken, sowohl die Schelmenmaske des Bürgers als auch die blendende des Aristokraten, jener Spezies, die schon von Haus aus an Scharaden und Maskeraden gewöhnt ist.
Das Leben wurzelt im Dunkel, der Sphäre des Unheimlichen, Ungeheuren und Rätselhaften schlechthin; und gerade dort, wie der im dunklen Grund der Erde wurzelnde Baum zeigt, findet es paradoxerweise den sicheren Halt. – Es reckt sich nach dem Licht, will es denn blühen, will es Früchte hervorbringen. Aber die Frucht muß, auf daß der Baum nicht an seinem Übermaß ersticke und die Frucht mit ihren Lebenskeimen nicht verfaule, ihrerseits hinabfallen und ins Erdreich dringen.
Man könnte sagen, das künstlerische Genie leide beständig an erhöhter Seelentemperatur.
Ein Thermometer zur Messung der seelischen Temperatur steht uns nicht zur Verfügung.
Der an dieser Art Fieber Erkrankte zeigt nicht die üblichen Symptome wie eine heiße Stirn, rote Flecken und feuchte Hände, und die Virusinfektion, an der er leidet, ist nicht ansteckend. Kühlen Kopfes und wachen Auges wird er von Fieberträumen heimgesucht.
Im Verhältnis zur gemäßigten Temperatur und dem gleichmäßigen Puls des Bürgers weisen fatale Symptome am Genie auf eine krankhafte Devianz vom Normalfall; aber sie sind nur die Folge einer grundlegenderen Abnormität oder Enormität, nämlich seiner über das Gewöhnliche herausragenden Sensitivität, Feinfühligkeit, Hellsichtigkeit und Hellhörigkeit.
Freilich, wer das Gras wachsen hört, Sirenengesänge im Rauschen des Wasserfalls oder geheime Mitteilungen im Gesang der Vögel, mag im trivialen Sinne verrückt sein; erwächst seiner Hellsinnigkeit allerdings eine Dichtung im Stile und vom Rang eines Verlaine oder Trakl, scheinen wir in eine denkwürdige Dämmerzone zwischen Pathologie und Genialität entrückt, von der die nervösen Gemüter des Fin de Siècle viel Wesens machten, die heute aber als erschlossen angesehen werden kann: Der Fall Hölderlin ist dafür exemplarisch.
Wir können Hölderlins unter der psychotischen Krankheit, unter der er zweifellos litt, entstandene Turm-Gedichte als psychiatrisch aussagekräftige Dokumente eines schizophrenen Sprachzerfalls lesen, ohne uns indes in der Beurteilung ihrer künstlerischen Qualität irritieren zu lassen.
Der wahnsinnige Hölderlin hauste als wahrer Biedermann und anständiger Bürger im Tübinger Turm, stand in aller Herrgottsfrühe auf, erledigte seine Post (aber unterschrieb Widmungsgedichte mit erfundenem Namen und fingiertem Datum), machte seine regelmäßigen Spaziergänge (aber klopfte mit dem Taschentuch auf die Pfosten des Zauns), empfing überaus höflich und zeremoniell Besucher (aber sprach Hinz mit Exzellenz und Kunz mit Hochwürden an), pflegte wie in gebildeten Pastorenfamilien gang und gäbe zu musizieren (aber die Violine flehte panisch, das Klavier dröhnte dionysisch) und blickte des Abends versonnen aus dem Fenster auf die Neckarauen (aber sah auf den Hain von Kolonos, wo dem Ödipus die Nachtigallen sangen).
Die wilden Kunstgenies bemühen sich, ihr mangelndes Talent mittels der Verachtung des Bürgers und der Übertretung der Regeln und Konventionen bürgerlicher Sittlichkeit zu kaschieren. Dabei bedienen sie geschickt den Voyeurismus des Bürgers und machen einen guten Reibach.
Kafkas bürgerliches Dasein wurde durch sein Büro in der Versicherungsanstalt zu Prag bestimmt; doch wuchsen hinter seinem Rücken, während er sorgfältig Formulare und Policen ausfüllte und neue Versicherungsfälle bearbeitete, die Korridore zu dunklen, unentrinnbaren Gängen im Labyrinth des menschenfressenden Minotaurus, und aus dem Zimmer nebenan hörte er Wimmern, als würde ein Verhör unter Anwendung einer albtraumhaften Folter durchgeführt.
Was wir weinen nennen, ist nicht die Absonderung einer Drüsenflüssigkeit.
Der Roboter-Mediziner und der Roboter-Chemiker können die Absonderung und chemische Zusammensetzung der Tränenflüssigkeit feststellen, aber nicht sagen: „Der Mensch hat geweint.“
Die Anamnese ergibt das Gerüst der Krankengeschichte; die Erinnerung die Etappen und Wendemarken auf dem Lebensweg. – Die Untersuchung des Patienten resultiert im aktuellen Befund als vorerst letzter Station seiner Krankengeschichte; die Betrachtung der gegenwärtigen Situation wirft ein erhellendes Licht auf die Lebensstadien, die zu ihr geführt haben.
Ein Teppich wird in Handarbeit gewebt; scheinbar wiederholen sich Reihe für Reihe dieselben Muster, dieselben Farbtöne; doch dann gewahrt man gewisse Abweichungen, Nuancen, Variationen.
Ein Geschichte wird von Mund zu Mund, von Generation zu Generation weitererzählt; scheinbar wiederholen sich der Plot, dieselben Ereignisse und Charaktere; doch dann gewahrt man Abweichungen und Variationen, neue Begebenheiten und Figuren tauchen auf, die Atmosphäre der Erzählung nimmt aufgrund unverhofft einfließender Nuancen andere Farben und Töne an.
Das dichterische Genie erfindet weder die Webkunst – die Sprache – noch das Geschichtenerzählen: Die von Mund zu Mund und Generation zu Generation überlieferten Erzählungen vom Kampf der Griechen um Troja und den Abenteuern des Seefahrers Odysseus sind älter als Homer. Das Genie erfindet allerdings neue Muster und florale Motive für den Teppich der Sprache. – Ein Volksgeist im Sinne Herders kann es aber nur sein, wenn er sich in einem genialen Einzelnen inkarniert.
Das mimisch und gestisch mehr oder weniger bewußt ausgestrahlte Gefühl, etwas Besonderes zu sein, kann achtungsgebietend oder lächerlich, selbstbildnerisch oder deformierend sein.
Philosophie oder sinnvoll denken zu lehren ist eigentlich, wie Wittgenstein wußte und aussprach, obwohl er es zu seiner Zeit in Cambridge selber tat, lächerlich.
Die meisten Dozenten an philosophischen Instituten käuen geistlos wieder, was die Klassiker meist in luziderer Diktion von sich gegeben haben. Andere, die eigentlich nichts zu sagen haben, verbergen dies hinter einem grellen Flickenteppich gestelzter Wendungen, enigmatischer Metaphern und geschraubter Manierismen.
Das Interessante bei den männlichen Dichtern ist ihre Fähigkeit, in weibliche Masken zu schlüpfen.
Das betuliche, stirnrunzelnde oder clowneske Bemühen, sein Stigma zu verbergen, enthüllt es.
Die sich mit Rätseln und Mysterien schmücken, dem Rätsel des Bewußtseins, dem Rätsel der Zahlen, dem Mysterium der Existenz, kassieren ihre Tantiemen auf Kosten der Verblüffung und Verhöhnung des gesunden Menschenverstands.
„Philosophen“ rühmen sich einer unerhörten Einsicht, wenn sie weitläufig und langatmig erklären, die Neuronen seien von ganz anderer Beschaffenheit als die Bewußtseinsinhalte, denen sie korrelieren; ja, sie gerieren sich als Conférenciers im Schauerkabinett pseudoradikalen Denkens und tun so, als führten sie den Hörer oder Leser an einen schwindelerregenden Abgrund, den Abgrund zwischen Gehirn und Bewußtsein, Physischem und Mentalem, Natur und Geist.
Freilich, es sind keine Philosophen, sondern Philosoph:innen.
Aber der Zusammenhang zwischen Welt und Bewußtsein, Natur und Geist zeigt sich in der Darstellungsfunktion der menschlichen Sprache: Tropfen fallen, es regnet; ob ich es sehe oder nicht. Doch die Tatsache, daß es regnet, hat, ungeachtet der Tropfen, die niederfallen, eine interne semantische Beziehung zu dem Satz, der sie konstatiert. Der Satz konstituiert die Tatsache, freilich nicht die Regentropfen, nicht die Dinge der Welt.
Wie das künstlerische ist auch das kriminelle Talent angeboren, und manchmal sind sie genötigt, unter einem Dach, unter einer Schädeldecke zu hausen; da gibt es Streit, doch kann das eine Talent das andere nicht vor die Tür setzen.
Friseusen können sich bevorzugt der Vertiefung ihrer Menschenkenntnis widmen, begegnen sie doch täglich den unterschiedlichsten Charakteren, Menschentypen, Schicksalen, normalen, außergewöhnlichen, tragischen, grotesken; nicht unähnlich dem Priestermönch Sossima in den „Brüdern Karamasow“ von Dostojewski, der nach Jahren seelsorgerischen Umgangs mit verstörten, bedrängten, kranken Seelen ihre Gebrechen, ihre Stigmata und ihre noch so schwachen Hoffnungsschimmer von der Mimik ihrer Gesichter und dem Ausdruck ihrer Gesten abzulesen vermochte.
Wir könnten manche Träume so deuten, als kämen in ihnen die spitzfindigen, dialektischen Unterredungen zwischen einzelnen von Krankheit befallenen Organen wie dem Herzen und der Lunge, der Lunge und der Leber , der Leber und dem Magen zur Sprache.
Wer liebt, muß im selben Maße, wie er es tut, hassen können. Wie könnte er sonst Feinde, die was er liebt angreifen und vernichten wollen, seinerseits angreifen und vernichten wollen, ohne sie zu hassen?
Elementare Wahrheiten, die bereits Heraklit und Empedokles in lapidaren Wendungen niedergeschrieben hatten, wurden, wie Nietzsche diagnostiziert, von einem rousseauistisch-romantischen, christlich-sozialistischen Menschenbild überkleistert und zugunsten sentimentaler Lügen verdrängt.
Das künstlerische Talent kann man nicht einpflanzen oder aufpfropfen, aber mit nährendem Humus versorgen und mit weckenden, neckenden Tropfen beträufeln und zum Blühen bringen.
Die Anlagen aller im Namen angeblich universaler Menschenrechte gleichsinnig zu fördern, also auch die Neigung zur Rücksichtslosigkeit, Gemeinheit und Kriminalität, ist die Losung der Ignoranz und der Bosheit, die sich hinter humanitären Phrasen verstecken.
Kein Stern des Übermenschen schwebt leuchtend empor, wenn wir allen die Fesseln der bürgerlichen Moral und des biederen Anstandes lockern, sondern, wie gesehen, die finstere Fratze des Untermenschen.
Ernst Jünger suchte das Feuer des Ersten Weltkriegs aus Abenteuerlust, Wittgenstein mit dem Wunsch, sich in der Nähe des Todes zu bewähren oder rechtens darin umzukommen.
Die Sitte des Grüßens hüllt nicht feindselige Antriebe in die Maske der Höflichkeit und Freundlichkeit, die Zusage, das geliehene Gut zurückzuerstatten, nicht den Wunsch, es ohne Gegenleistung einzusacken, in die Zwangsjacke einer lügnerischen Konvention.
Die Dramatis personae des Götz, des Tasso, der Iphigenie und des Faust sind veritable Masken des dichterischen Genies. Die konventionellen Gesten und Sprachhandlungen des Bürgers summieren sich zur Sittlichkeit der bürgerlichen Welt; die Maskeraden des Dichters indes ergeben nicht die Quintessenz seiner wahren Überzeugung oder religiösen und politischen Weltanschauung; Goethe ist weder Faust noch Mephistopheles, schon gar nicht die Mißgestalt ihrer Hybridisierung.
Das Eheversprechen, der Treueid, der Vertragsabschluß sind, unter den adäquaten Umständen vollzogen, verbindlich; das Jawort des Bräutigams wird nicht brüchig oder ungültig, wenn er post festum deklariert, er habe es ironisch gemeint oder höhere Mächte hätten es ihm souffliert.
Dagegen ist Goethes Spiel mit allegorischen Masken und urtümlichen Symbolen a priori von der heiteren oder salzhaltigen Luft der Ironie umweht.
Der bürgerliche Geist ist frei von Ironie und tragischem Zwang; das zugesagte Wort gilt, und sein Bruch wird durch Ehrverlust oder Schadensersatz sanktioniert; doch hätte es auch ungesagt bleiben können.
Die Figuren des Liebesspiels und der erotischen Metamorphose in Goethes „Wahlverwandtschaften“ gehorchen einem schicksalhaften Chemismus und Mesmerismus der Leidenschaften.
Die bürgerliche Moral ist das Geranke und Geflecht, das aus dem Mutterboden der Verpflichtung sprießt und sich schattenhaft-unfühlbar um die gestischen und sprachlichen Formen des zivilen Umganges schmiegt.
Die Dichtung und ihre Symbolik sind das Geranke, das Goethe ein Geflecht der Minne nennt; es sprießt aus dem dunklen Erdreich der Leidenschaft und kann gleich sanften Schatten den Trost einer durchsummten Dämmerung vor dem allzu blendenden Strahl der Sonne spenden, aber auch wie die Schlangen des Laokoon würgen und ins Verstummen ziehen.
Die höchste Form moralischen Handelns ist die Rettung fremden Lebens unter Einsatz des eigenen; der Vater rettet das Kind aus den Flammen, der Mutter beugt sich über das Kind zum Schutz vor feindlichen Salven; der Patriot fällt im Schützengraben, weil er sein Leben zur Bergung eines verwundeten Kameraden in die Waagschale geworfen hat..
Das Selbstopfer ist freilich die heroische Ausnahme des moralischen Genies von der untragischen Alltagsroutine der bürgerlichen Moral; es aus Selbstliebe oder Angst zu verschmähen, mag Mißachtung und Verachtung hervorrufen, aber kann nicht geahndet oder rechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
Das Genie des Denkens bahnt Wege ins Unbekannte, ins Zwielicht, ins Dunkel; eine Zone des Unheimlichen und Ungeheuren, die das saturierte oder ängstliche Gemüt des Bürgers scheut. Doch es zeigt, daß unser Dasein ähnlich dem Baum, der seine Wurzeln ins Dunkel der Erde streckt, um darin sicheren Halt zu finden, gerade im Dunkel seiner Herkunft verwurzelt ist.
Das Triviale, daß alles ist, wie es ist, wird durchsichtig auf den unheimlichen Grund und Hintergrund, daß alles auch hätte anders sein oder nicht sein können.
Diese Einsicht kann den Bürger nicht seiner Verpflichtungen entheben; ebensowenig das Genie, denn es lebt mit dem Bürger Tür an Tür; ja unter einem Dach, ja, als ein und dieselbe Person.
Geniale Denker und Dichter geben Versuchsanleitungen, das Gewöhnliche als ungewöhnlich zu betrachten, das Nahe als fern, den seltsamen Glanz und Schimmer auf der abgegriffenen Münze des Wortes zu sehen.
Der Aspekt des Gesehenen springt um; eben war es eine Ente, jetzt ist es ein Hase; die Idylle des abendlichen Gangs durch die heimatlichen Auen verwandelt sich beim Aufgang eines glühenden Monds in das Urnen- und Gräberfeld einer tragischen Hymne.
Der Bürger mag an seinem Weltaspekt haften bleiben, mag die Idylle der Hymne vorziehen; das Genie verschmäht es, pädagogisch oder missionarisch auf ihn einzuwirken. Ihm genügt es, die kleine Schar von Seelenverwandten um sich zu wissen oder sie in einer vagen Zukunft zu antizipieren.
Der Bürger hat alles Recht, sich zu Hause vor den Unbilden der Witterung und des Weltgeschehens zu verschanzen und am Kamin zu wärmen, während das Genie, wie heimatlos und entwurzelt, im Schneesturm herumtappt; freilich, der eine, von fetten Würsten und schwerem Wein betäubt, hört noch wie aus weiter Ferne das Prasseln und Knistern der Scheite und nickt ein, während der andere im Heulen des Sturms das Ächzen und Krachen der Weltenesche vernimmt.
Freilich, brächte der Dichter seine apokalyptische Vision im Odenton zu Papier und würde sie im Feuilleton der Zeitung abgedruckt, die der Bürger abonniert hat, blätterte dieser darüber hinweg und läse im Börsenteil zu seiner Zufriedenheit, daß seine Aktien trotz der kürzlichen Turbulenzen nicht ins Wanken geraten sind; und er täte recht daran.
Am Ende schleifen sich die Unterschiede ab, Bürger und Genie sehen sich zum Verwechseln ähnlich: So beschied Wittgenstein seine nicht wenig verblüffte Zuhörerschaft im ehrwürdigen Cambridge, er wolle von nun an Philosophie geschäftsmäßig, als eine Art Business, betreiben; als gelte es, nur die wirklich tragenden Gedanken, nicht den rhetorischen Zierrat und die ornamentalen Schnörkel, die gedanklichen Bewegungsimpulse, nicht die leerlaufenden Begriffsrädchen und metaphorischen Schleifen ins Haupt- und Tagebuch der philosophischen Untersuchungen von Sprachspielen und Denkmodellen einzutragen.
Die Bangigkeit verhauchen
Den Baum verstehst du, wie im Dunkel
er wurzelnd findet sichern Halt,
ins Blau sich reckt, ins Sterngefunkel,
und blüht und fruchtet und wird alt.
Den Menschen auch, im Ungewissen
hinwandelnd holt vom Licht er Rat,
und was er liebt, er darf es küssen,
genießt die Frucht der guten Tat.
Wie Lerchen, die aus Nestern steigen,
der Azur weckt das trunkne Lied,
die Nachtigallen, wie sie schweigen,
wenn überm Moor der Mond verglüht.
So mag die Bangigkeit verhauchen
der Dichter, hold vom Licht geküßt,
das Haupt wie Schwäne niedertauchen,
wenn grau der Erde Antlitz ist.
Und Tiger sind, die tödlich schweifen,
das Fell von königlicher Pracht,
es kann das Schicksal nicht begreifen
der Hund, der treu am Grabe wacht.
Sie hat gepflückt sich süße Veilchen,
die Liebe, die am Waldsaum schritt,
sie leuchteten ihr noch ein Weilchen,
bevor ihr Herz ins Dunkel glitt.
Und tropft ein Glanz von Schattengittern,
verätzt das Auge Schlangengift,
die Schründe, Risse, sie verwittern,
und keiner liest die Runenschrift.
Der Weise, dem es noch gelungen,
als Blitze sie ihm nachts erhellt,
von dem Geflecht liegt er umschlungen,
das Minne flicht, die Trauer schwellt.
Die laue Sommernacht
Weich wie Wassermelodien
war die laue Sommernacht,
und du sagtest, laß uns fliehen,
sieh den Stern, der für uns wacht.
Da wir hin durch Auen gingen,
nackt dein Fuß, mein Herz so bang,
hörten wir von ferne Singen,
Lautenschlag und Flötenklang.
Und wir sahen schon sie glimmen,
Zungen in dem heißen Spiel,
schmelzend hin und wider schwimmen
Schatten wie im Traum Vergil.
Wärme hauchte, und es glühten
fremd Gesichter, und ihr Blick
war ein Glanz von Tau an Blüten,
die uns nickten: Pflückt das Glück.
Und am Arm der Schönen klirrten
goldene Reifen wie Kristall,
durch gebogne Halme schwirrten
Tänzer, und ein Widerhall
süßer Schreie stob wie Flocken,
als dich in den Wirbel riß
dunkle Hand, und deine Locken
schüttelte die Finsternis.
Doch mich bannte rauher Kehlen
Wehgesang: „Zigan, Zigan,
magst dem Schicksal dich vermählen,
Wandelsternen untertan.
Deine Liebe träumt wie Lämmer,
denen schon das Messer blinkt,
deine Sehnsucht irrt im Dämmer,
wenn die Sonne Gottes sinkt.
Willst du mit dem Kranich ziehen
in ein fernes Wunderland,
kannst dem Grauen nicht entfliehen,
das sich dir ins Herz gebrannt.“
Ward das Aug mir aufgeschlossen,
ringsum alles stumm und kahl,
wehen Dufts hat mich umflossen
Mondes Knospe aschenfahl.
Und du kamst nach Ewigkeiten
noch zurück, hast „Ach!“ gelallt,
wie nur Hand in Hand noch schreiten,
heiß dein Hauch, mein Herz so kalt.
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Mögen diese oder jene Neuronen feuern, neuronale Ereignisse nach deterministischem oder indeterministischem Muster in unseren Hirnregionen ablaufen: Dies oder jenes anzunehmen oder gar experimentell unter Beweis zu stellen, hilft uns nicht zu verstehen, was wir tun, wenn wir die Miene des anderen als freundlich oder abweisend, seine Rede als Einladung oder Drohung, seine Worte als eindeutig oder zweideutig interpretieren.
Die begriffliche Konfusion von Ursache und Grund, causa efficiens und causa finalis: „Der Erzieher hatte allen Grund, das Betragen oder das gemalte Bild des Kindes zu loben (oder zu tadeln)“ – die lobenden (oder tadelnden) Worte, die aus dem Munde des Pädagogen strömen, haben ihre Ursache in gewissen erforschlichen oder noch unerforschten neuronalen Prozessen in seinem Gehirn, die den funktionalen Gebrauch der Sprechwerkzeuge steuern; aber, was wir Lob und Tadel nennen, ist kein neuronaler Prozess im Gehirn, sondern eine Funktion des angemessenen oder auch unangemessenen Gebrauchs konventioneller Sprechakte, die sich in der Verlautbarung bestimmter Sätze kundtun.
Das Gehirn ist nicht das Organ, dem wir die ästhetische Wahrnehmung und Beurteilung von Kunstwerken oder die Äußerungen von Lob und Tadel zusprechen; der Lehrer ist es, dem das Bild gefällt oder mißfällt, der es anhand gewisser Kriterien des Bildaufbaus, der sinnvoll eingesetzten Farbgebung und der intuitiven Kraft des bildnerischen Ausdrucks bewertet und lobt oder tadelt.
Die Addition und Kombination sämtlicher Molekülbewegungen erzeugen, was wir Wasser im flüssigen Zustand nennen; aber die Addition und Kombination sämtlicher neuronaler Prozesse im Gehirn erklären nicht, was wir den Geschmack und die Färbung einer klaren Flüssigkeit nennen.
Ein neuronales System wie das Gehirn oder ein ihm nachkonstruierter Roboter kann aus dem intimen Getuschel der Gastgeberin mit dem Gast nicht wie der eifersüchtige Ehemann die Vermutung ableiten, daß sie im Begriff ist, ihn zu betrügen; es kann ebensowenig aus dem Umstand, daß die Verdächtigen am Ende der Party im Streit auseinandergehen, den Schluß ziehen, wie es der beruhigte Ehemann tut, daß es sich getäuscht hat.
Den Verdacht auf Untreue zu hegen oder in der Treue einer Person wider Erwarten bestätigt zu werden setzt ein begriffliches Denken voraus, das uns nur aus der Fähigkeit des Gebrauchs einer grammatisch und semantisch differenzierten Sprache erwächst.
Wäre die Wirkung der neuronalen Prozesse auf die phänomenalen Inhalte des Bewußtseins in einem strengen Sinne physikalischer Kausalität zu interpretieren, wären unsere Absichten nichts als verkleidete Formen mehr oder weniger deutlicher Antizipationen künftigen Verhaltens.
Er hatte die feste Absicht, es dem ungetreuen Freund heimzuzahlen und ihn nicht gemäß ihrer Verabredung zu besuchen, entschied sich aber anders und ging hin.
Er streifte sie beinahe absichtslos.
Cäsar wußte, was er wollte, als er den Rubikon überschritt. – Die Notwehrhandlung des Bedrohten geschah beinahe unwillkürlich.
Willensschwäche ist kein Mangel neuronaler Impulse; wer im entscheidenden Moment, wo es gilt, beherzt zu handeln, versagt, wird dafür zur Verantwortung gezogen; nicht so der an Apathie Leidende.
Information ist ein semantischer Begriff; neuronale Vorgänge aber sind syntaktisch geordnet. Daher ist der Versuch, den angeblichen Abgrund zwischen Physischem und Mentalem (aber es handelt sich dabei um zwei konträre Sprachspiele oder zwei Aspekte derselben Tiefenschicht wie Hase und Ente auf dem Vexierbild) mit Hilfe des Begriffs der Information zu überbrücken, ein Sophismus.
Ähnlich steht es umgekehrt mit dem Begriff der Komplexität, er ist ein syntaktischer Begriff, wird aber unter der Hand semantisch aufgeladen; wir erhalten den umgekehrten Sophismus.
Das sogenannte Rätsel des Bewußtseins ist eine Erfindung von Salonphilosophen. Was trübe an deinem Spiegelbild erscheint, ist die Wirkung deines eigenen Atems.
Man darf sich von den martialisch oder pfäffisch auftretenden „Philosophen“ mit der seriös wirkenden Ausrichtung auf die Naturwissenschaft als Paradigma der angeblich solidesten Form des Wissens nicht einschüchtern lassen. Nicht einmal ihre methodische Grundlage, die Mathematik, ist einheitlich, sondern zerfällt in eine Vielzahl von sich überschneidenden Disziplinen von der Zahlentheorie bis zur Topologie sowie in eine Mannigfaltigkeit von Beweismethoden, Verfahrens- und Erklärungsweisen. Von einem universalen Erklärungsmodell DER Naturwissenschaft vom nomologischen Typus kann mitnichten die Rede sein; weder ist die Chemie noch gar die Biologie auf die Physik reduzierbar, die Utopie der Einheitswissenschaft aus dem beschwingten Wien des Positivismus und der analytischen Philosophie der Idealsprache hat mittlerweile die Centenarfeier ihres Scheiterns bereits hinter sich.
Ein neuronales Netzwerk und ein ihm nachgebildeter Roboter können nicht den Begriff einer Tatsache bilden, nicht feststellen, daß sich die Dinge auf diese und jene Weise verhalten; demnach auch nicht den Begriff einer negativen Tatsache bilden, nicht feststellen, daß sich die Dinge nicht auf diese und jene Weise verhalten. Sie können sich auch nicht darin irren, das Bestehen eines Sachverhalts anzunehmen, der in Wirklichkeit nicht besteht, und anschließend ihren Irrtum einsehen und korrigieren.
Auch dem Tier ist ein Aufenthalt im semantischen Raum der Sachverhalte und Tatsachen verwehrt; der Hund kann nicht die Tatsache feststellen, daß sein Herrchen heute nicht wie üblich zur üblichen Zeit nach Hause gekommen ist; er kann nur aufgrund des Ausbleibens seines Herrchens einen gewissen Mangel oder eine gewisse Traurigkeit fühlen.
Nachdem man lächerlicherweise die Unvereinbarkeit der physikalischen Erklärungsmethode mit der phänomenologischen anhand der Unmöglichkeit herausgestellt hat, von der Ebene der Neuronen in diejenige der Bewußtseinsinhalte „zu springen“, denen sie mehr schlecht als recht zu korrelieren scheinen, deklariert man in einer Bescheidenheit, die nur eine Maske von Arroganz darstellt: „Die Philosophie weiß nicht, was das Bewußtsein ist.“ Oder man deklariert hochtrabend, daß es sich bei dieser angeblichen Erklärungslücke um ein unlösbares Rätsel oder eine prinzipielle Schwierigkeit des Denkens handelt.
Aber natürlich wissen wir, was das ist, Bewußtsein und bewußtes Sein und bewußtes Leben: Wir wissen, was wir mit Bewußtlosigkeit oder Ohnmacht meinen; was es heißt, sich nach dem Erwachen seiner Umgebung, seiner Lage im Raum, seiner Situation in der Zeit bewußt zu werden; was es heißt, sich der Folgen seines Tuns und Redens nicht oder nur unzureichend bewußt zu sein; wir wissen, daß einer, der sich an vergangene Erlebnisse erinnert, sowohl des Erlebnisinhalts als auch der Tatsache bewußt wird, daß er vergangen ist; daß nur Personen im strengen Sinne ein Selbstbewußtsein haben, wenn wir unter Person denjenigen verstehen, der die Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Erinnerungen, die er hat, als die seinigen identifiziert; daß wir Tieren den Status des Personseins nicht deshalb absprechen, weil sie kartesianische unbewußte Maschinen sind, sondern weil sie sich nicht im Zentrum eines Koordinatensystems verorten und verzeitlichen, das seine räumlichen und zeitlichen Koordinaten von dem Nullpunkt aus projiziert, den wir meinen, wenn wir sagen: „Hier bin ich.“
Das Gehirn, der Roboter, die Maschine können nicht sagen: „Hier bin ich!“
Wir sind bemüht, anhand von deterministischen oder statistischen Modellen von neuronalen Ereignissen Behauptungen oder mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen über zukünftige Ereignisse abzuleiten. Doch wenn wir physiognomisch wahrnehmen, beispielsweise dem Lächeln des anderen eine uns gewogene Haltung oder uns freundliche Handlungsabsicht absehen und ablesen, befinden wir uns in einem Bereich nichtdeduktiven, impliziten, ja verschwiegenen Wissens.
Absichtserklärungen haben nicht den theoretischen Status von wissenschaftlichen, sei es kausalen, sei es statistischen Voraussagen. Zusagen sind keine Vermutungen über die Wahrscheinlichkeit ihrer Erfüllung. „Ich werde morgen kommen“ heißt nicht: „Ich sehe voraus, daß ich morgen kommen werde.“
Kommt die Person trotz ihrer Zusage, morgen zu kommen, nicht, obwohl es ihr freistand, es zu tun, hat sie sich nicht über den Grad der Wahrscheinlichkeit in der Vermutung, daß sie kommen werde, getäuscht, sondern, wie wir schlicht sagen, ihre Zusage nicht eingehalten oder gebrochen.
Kann die Person ihre Zusage aufgrund objektiv hindernder Umstände, wenn sie beispielsweise erkrankt ist, nicht einhalten, ist nicht die Vermutung, daß sie kommen werde, falsifiziert, sondern ihr Nichtkommen entschuldigt.
Es handelt sich augenscheinlich bei Sprechhandlungen und Verhaltenstypen wie der Zusage und ihrer Erfüllung oder Nichterfüllung, der Absichtserklärung und dem Versprechen und ihrer Einlösung oder Nichteinlösung, der informellen oder formal fixierten Vereinbarung oder dem Vertrag und entsprechend der Vertragserfüllung oder dem Vertragsbruch um eine spezifisch humane Fähigkeit, das wetterwendische, fragile und stets gefährdete Dasein in möglichst beständige Schutzhüllen sozialer Institutionen zu bergen, die aufs engste mit dem Besitz der Sprache verwoben sind.
Unser treuer Hund kann uns nicht zusagen oder versprechen, sich künftig nicht mehr von der Leine loszureißen, um der Witterung einer Hasenspur nachzujagen. Wir nur sind es, die sein zukünftiges Verhalten mittels Konditionierung beeinflussen können.
Das Kind verspricht uns, in Zukunft sein Geschwister nicht mehr zu ärgern und ihm nicht mehr das Spielzeug aus der Hand zu reißen. Wir können ihm das Versprechen erleichtern oder versüßen, indem wir unsererseits versprechen, seine Folgsamkeit mit Extra-Naschereien zu belohnen. Wir können den Ernst der Sache herausstellen, indem wir androhen, ihm bei Nichtachtung der Verhaltensregel für eine Zeit den Nachtisch vorzuenthalten.
Die Sanktionierung einer Verhaltensregel oder Lob und Tadeln ähneln nur äußerlich der Verhaltensdressur am Hund durch beispielsweise die Gabe von Leckerlis im Falle seiner Fügsamkeit. Der Hund erhält etwas Feines, wenn er den Ball apportiert hat; aber dies ist keine Belobigung eines von ihm getätigten Versprechens, uns den Ball zu bringen. Der Schüler fühlt sich geehrt, wenn er vom Lehrer für die prompte Einhaltung seiner Zusage, die Hausarbeit pünktlich und ordnungsgemäß abzugeben, vor der Klasse gelobt wird.
Es widerstrebt uns zurecht, ja es klingt absurd, zu sagen, der Hund fühle sich geehrt, wenn er vor anderen Hunden von seinem Herrchen für sein Wohlverhalten gelobt worden ist.
Absichtserklärungen, Zusagen, Versprechen, informelle und vertragliche Vereinbarungen beziehen sich auf zukünftiges Verhalten und Geschehen, sie sind ein sprachlicher und verhaltensmäßiger Modus dessen, was Heidegger Sorge nennt, die wie ihm schien als das entscheidende menschliche Existential hervorsticht.
Nur Personen, die Äußerungen in der ersten Person bilden können, sind fähig, Absichtserklärungen abzugeben.
Der Freund erklärt, daß er mir das Buch, das ich ihm vor zwei Wochen ausgeliehen habe, übermorgen zurückgeben werde. Die Zusage findet in der durch unsere Situation definierten Gegenwart statt: sie bezieht sich sowohl auf ein Ereignis der Vergangenheit als auch der Zukunft.
Wir sanktionieren des öfteren das Nichteinhalten von Zusagen und Versprechen, bei denen es um Ehrensachen wie die Ablösung von Schulden oder die Unterstützung von Familienangehörigen geht, mit Ehrverlust oder dem Entzug der gebührenden Aufmerksamkeit; plötzlich grüßt den Treubrüchigen der, dem er die Treue brach, oder einer seiner Angehörigen nicht mehr.
Der Hund kann uns nicht zusagen, übermorgen auf unserem Waldgang nicht wieder auszubüchsen, nicht nur, weil er nicht sprechen kann; vielmehr weil er, wenn er es denn könnte, nicht in der Lage wäre, Begriffe der menschlichen Lebenswelt wie „morgen“ oder „übermorgen“ korrekt anzuwenden.
Der Hund kann die uns gewöhnlichen trivialen Zeitbegriffe wie „gestern“, „heute“, „jetzt“ und „morgen“ nicht bilden und korrekt anwenden, weil er keine Person ist; und eine Person zu sein impliziert, wie schon gezeigt, sich in einem raumzeitlichen Koordinatensystem zu identifizieren, das heißt, zu lokalisieren und zu temporalisieren, einem Koordinatensystem, das wir mit der basalen Aussage „Hier bin ich“ festlegen.
TTiere, besagt ein altes Wort, leben in einer ewigen Gegenwart, während unser Dasein durch das, was Heidegger die Ekstasen der Zeit nennt, aufgespannt und auseinandergerissen wird.
Weder das der Gegenwart verhaftete Tier noch ein zeitenthobenes göttliche Wesen kann unsere Sorge verstehen, also verstehen, was wir fühlen, denken oder erwarten.
Das Tier mag um seine Sterblichkeit ahnen, doch wir wissen nicht nur um unsere eigene, sondern auch die Sterblichkeit des anderen, derer vor allem, die uns nahestehen, derer, die wir lieben. Dies scheint uns der dramatische Hintergrund menschlicher Beziehungen, der ihnen allererst Intensität, Frische oder Gehalt verleiht, aber auch bei ihrem Zerfall sich in seelischer Ödnis, Gleichgültigkeit und Ennui manifestiert.
Neuronale Netzwerke, Roboter und Maschinen können weder sagen: „Hier bin ich“ noch lügen und sich selbst verleugnen.
Wir können nur lügen, wenn wir um die Wahrheit dessen wissen, was wir bestreiten; um die Wahrheit wissen heißt schlicht, wissen, daß etwas der Fall ist, lügen heißt vorgeben, daß etwas nicht der Fall ist, obwohl das Gegenteil zutrifft. Wie könnte ein Mechanismus ohne personales Bewußtsein auf etwas hinweisen, was NICHT der Fall ist?
Der Hund, der die Wurst vom Tisch gemopst hat, kann Verlegenheit äußern, aber nicht so tun, als habe er die kleine Schandtat nicht begangen; um sich zu verleugnen und vorzugeben, ein anderer sei der Bösewicht und habe es getan, müßte er freilich der Sprache mächtig sein.
Sich verleugnen heißt ein anderer sein wollen als der, der man ist; heißt, die Wahrheit verleugnen, daß man selbst es ist, der den singulären Nullpunkt im raumzeitlichen Koordinatensystem personalen Lebens einnimmt. Hier eröffnet sich das Feld der Selbsttäuschungen und Pathologien der Selbsterfahrung von der Selbstverkennung (die Plumpe spielt die Anmutige, der Ausgebrannte mimt den neuen van Gogh) bis zur Selbstauslöschung (der Psychotiker, der politische und religiöse Fanatiker), pathologische oder degenerierte Formen, die freilich nur auf dem Hintergrund der Normalität und Normativität der Hinnahme der eigenen existentiellen Position zu verstehen möglich ist.
Was wir Moral nennen, entspringt der Qualifizierung unseres sorgenden und besorgenden Handelns in einer Welt der Ungewißheit und Gefahr: Zuverlässig nennen wir jenen, der zu seinem Wort steht, seine Zusage einhält oder trotz Hindernissen und Unwägbarkeiten sein Versprechen erfüllt; unzuverlässig aber, wer ohne Not seine Zusage verabsäumt oder sein Versprechen bricht. Charakterstark und verläßlich nennen wir jenen, der trotz widriger Umstände die getroffene Vereinbarung einhält, treu aber jenen, der den Verführungen des Geldes, der Begehrlichkeit, der Korruption nicht nachgibt und zu seinem Wort, zum ausbedungenen Vertrag, zur Erfüllung seiner Pflicht steht.
Die Verpflichtungen, die wir in der Sorge um unser Dasein, unseren Erhalt und den Erhalt derer, die uns anvertraut sind, eingehen, beruhen einerseits auf der Symmetrie reziproker Erwartungen: do ut des. Wir zahlen eine Schuld ab, aber das geliehene Geld half uns aus der Patsche; wir fühlen uns demjenigen, der uns gefördert und mit einem entscheidenden Rat und Fingerzeit den Weg oder Ausweg gewiesen hat, nicht nur zugetan, sondern verpflichtet, es ihm, gerät er in eine ähnliche Lage, gleichzutun; wir wissen uns schuldig, wenn wir, und sei es von unseligen Leidenschaften getrieben, die Kreise des anderen empfindlich gestört und verwirrt haben, und wir bleiben es, wenn uns keine Gelegenheit gegeben wird, ihn darin zu unterstützen, sie wieder in Ordnung zu bringen.
Andererseits erkennen wir das moralische Genie, also die Ausnahme, an seinem unwillkürlichen Taktgefühl, seiner Großmut und Großherzigkeit, wenn einer, ohne dazu aufgefordert oder verpflichtet zu sein, auf der Schwelle dessen steht, der in schwieriger Lage ist, und sagt: „Hier bin ich!“
Die Sorge ist eine existentielle Struktur, die mit der Zeitlichkeit unseres Daseins unmittelbar verknüpft ist, wie Heidegger in „Sein und Zeit“ erläutert; so können wir dem anderen die Sorge nicht abnehmen, ohne Gefahr zu laufen, ihn zu entpersönlichen. Daher ist es Selbstbetrug und Betrug am Gegenstand unserer nicht ganz uneitlen, meist sogar moralisch aufgeblähten Fürsorge, jemandem die Sorge um seine Daseinsfristung und seinen Lebenserhalt, so er sie aus eigenen Kräften würde leisten können, abzunehmen.
Wir bedürfen keiner universalistischen Hochmoral philosophischer Natur, wie sie Kant, Apel oder Habermas entwickelt haben; uns genügt es, die Vielfalt der Situationen kasuistisch-minutiös zu beschreiben, in denen wir aufgrund der Sorgestruktur des In-der-Welt-Seins moralische Sprachspiele erfinden und anwenden, die typische Sprechhandlungen und Wendungen der Zusage, der Verpflichtung, des Treueeids oder der vertraglichen Vereinbarung sowie ihre jeweiligen Negationen und die Sanktionen bei ihrer Nichterfüllung aufweisen. Hier bewegen wir uns, wenn auch nur im Schneckentempo, auf dem soliden Boden einer aristotelisch-pragmatischen Sittlichkeit.
Es genügt für die Begriffsklärung, die Spannweite der Sanktionen vom leisen Tadel und des Entzugs der Aufmerksamkeit über den Ehrverlust und die soziale Ächtung bis zum rechtlich verankerten Strafregime auszumessen und zu beschreiben. – Die Androhung und Exekution von moralischen und rechtlichen Strafen ist der Kitt der sozialen Gemeinschaft, mit dem sie die undichten Fugen ihres institutionellen Gehäuses gegen das Eindringen von zersetzenden Schadstoffen abzudichten versucht.
Die Antike überliefert uns den Begriff des otium, der Muße, einer Dimension dichterischen Lebens, das von der Sorge der Daseinsfristung auf Zeit entlastet ist. Wird uns diese Dimension auch durch den wüsten Lärm und den tumultuarischen Betrieb der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie mehr und mehr verstellt, überraschen uns doch gelegentlich auf unseren einsamen Streifzügen einige der Blüten, die einst in den Musengärten aufgesprossen sind.
Bisweilen gleichen unsere seltenen Funde jenen wenn auch ihres Duftes und ihrer Farbenfrische beraubten gepreßten Blumen, die unverhofft aus verstaubten Folianten fallen.
Beim Hören der Serenaden Mozarts, der Pastorale und des Violinkonzerts von Beethoven oder der Lieder Schuberts könnten wir mit einem Male sagen: „Hier bin ich zu Hause“ oder vielleicht: „Hier wäre ich gern zu Hause“ – da wir nunmehr aus der Mitte eines imaginären Koordinatensystems den Ort unseres Erlebens im Nirgendwo oder dem mythisch-verborgenen Hain der Musen, die Zeit aber als spielerische Konfigurationen der Erinnerung und Erwartung erfahren.
Schlammgeschöpfe
Sind es Blitze, sind es Küsse,
die den Urschlamm aufgewühlt?
Sieh, im Asphalt zarte Risse,
wo die Butterblume blüht.
Manchmal siehst du Blasen schimmern
in den Tümpeln, grünlich-braun,
manchmal hörst du Schluchzen, Wimmern,
und dich überschauert Graun.
Und dann peitschen auf die Flossen
das Gewässer und es schäumt,
Gras und Veilchen sind begossen
von der Qual, die sich gebäumt.
Wie sie aneinanderkleben,
Lippenwulst und weicher Wanst,
wie sie auf- und niederschweben,
Salome hat so getanzt.
Wie sie Haut an Häute leimen
Wollusttränen, trüben Schweiß,
könnte nur ein Dichter reimen,
der sich Sohn Mephistos weiß.
Was der Schlamm dem Schlamm gesungen,
hat zum Liebeslied gereicht,
und sie sind ans Licht gedrungen,
Schlammgeschöpfe fadenleicht.
Ja, sie sind es, denen glücken
Liebestänze, kaum bewußt,
wo wir Aug in Aug uns blicken,
starr wie ein Kristall der Lust.
Die trunknen Lieds den Dämmer füllen
Das schimmernde, der Muschel Bildnis,
du hobst es auf den Sonnensand,
hat bald, die ewig braust, die Wildnis
zum kühlen Grund hinabgebannt.
Die leuchtende, die Wunderrose,
die aus dem Dunst der Trauer bricht,
sinkt alles hin ins Blütenlose,
wird blühen sie noch im Gedicht?
Die duftende, die Honigkerze,
der Liebe holdes Nachtgeleucht,
umflog ein Falter wie zum Scherze,
ach, hätten wir ihn weggescheucht.
Die trunknen Lieds den Dämmer füllen,
vom Kuß Auroras aufgeweckt,
treibt’s alle fort, wenn Eisen schrillen,
hält Versgestrüpp noch eins versteckt?
Konfusionen und Klärungen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Manche älteren Männer wirken bodenständig, tüchtig, hirnschwielig, Beruf, Familie, Herkunft stehen solide hinter ihnen, und gesammelte Mineralien, Versteinerungen, Sanduhren auf den Regalen hinter dem Schreibtisch scheinen vom Herdfeuer einer gehüteten Passion zu sprechen. Man redet kopfnickend über den Krieg in der Ukraine und die Frage, ob das russische Reich einen autonomen Kulturkreis bilde und dies erweiternd über den Krieg überhaupt als historische Konstante. Doch plötzlich berührt man einen empfindlichen Nerv, ein Stichwort genügt, Seele oder Aura oder Metempsychose, und es scheint den biederen, pausbäckigen Kerl, der eben noch mit beiden Beinen auf der Erde stand, ein Schwindel zu ergreifen, er hebt ab, verliert sich in ein Tohuwabohu irrlichternder Begriffe, zwielichtiger Mythen, Wahnideen. Wittgensteins Memento, nicht über Dinge zu reden, die Schweigen gebieten, wird bei Strafe des schmählichsten Strauchelns und Taumelns ins Bodenlose mißachtet.
Spiegelbildlich dazu ist das Erlebnis, einen philosophisch Dilettierenden und Delirierenden mit einem rhetorischen Kniff, dem Stichwort „Perserkriege“ oder „Schwellenzeit“ auf den Boden des Sagbaren, begrifflich Erhellten, argumentativ Erfüllbaren zurückzuholen.
Wer zu viel überblickt, kann nichts mehr sehen. Dies ist das Verhängnis des spätzeitlichen Wucherns abstrakter Begriffe und universalistischer Ansprüche in Theorie, Politik und Moral.
Die begriffliche Konfusion, als könne man eine Moraltheorie universalistisch aufbauen und begründen, verkennt die fatale Eigenschaft unserer Begriffe, nicht vollständig durchsichtig zu sein und aus hübsch präparierten Puzzleteile kein ganzes, alles erklärendes Bild ergeben zu können; bei der Bildung von moralischen Begriffen verfahren wir schon nicht schlecht, wenn wir von Präzedenzfällen des Rechts und seiner Übertretung ausgehend zu Ähnlichkeiten menschlicher Verfehlungen in anderen Bereichen des Handelns gelangen, um hieraus probeweise Kriterien für unsere moralisch-kasuistische Urteilskraft abzuleiten. Doch abstrakte, allgemeine Regeln, Postulate, moralische Gesetze, die ungeachtet der spezifischen kulturellen und historischen Situation in allen Ecken und Winkel der Welt, allen Ländern und Kulturkreisen, zu allen Zeiten ihren eisernen Dienst für die Kritik und moralische Zurechtweisung ausüben könnten, suchen wir vergebens.
„Der Angriff Rußlands auf die Ukraine war ein imperialer Überfall und ist zu gemäß Völkerrecht zu ächten.“ – Doch in wessen Interesse und zu welchem Behuf wird dies Recht ausgelegt und beschworen? Warum soll es keine imperialen Ausdehnungen eines Großreichs geben, zumal der Angegriffene im Bündnis mit Fremdmächten sich längst bewaffnet und innerhalb des eigenen Territoriums Regionen unter Beschuß genommen hat, die Rußland wie die Krim und das Donezbecken nicht ohne historisch-strategischen Grund für sich beansprucht. Rußland weiß und fühlt sich seit Jahrzehnten durch die zunehmende Umzingelung durch die Westmächte bedroht, zumal deren Verbündeter oder Vasall, die Ukraine, die Option sowohl zur Mitgliedschaft in der EU als auch in der NATO zugesprochen erhielt. Je näher und länger man hinschaut, um so unklarer und zweideutiger wird die Lage, ein eindeutiger, moralisch unabweisbarer Grund, mit ins allgemeine Kriegsgeschrei auszubrechen, scheint nur moralisch überhitzten Gemütern (und ironischerweise darunter besonders kriegshysterischen Frauen) das absolute Gebot der Stunde.
Wir verstehen, wenn das Gesagte mit einer erhellenden Geste verbunden ist. „Dort kommt Peter!“ – Am Klang der Stimme erkennen wir, daß der Sprecher eine Begegnung unbedingt vermeiden möchte.
Ohne die begleitende Geste verstehen wir meist nur, was man Satzradikal nennen könnte, die semantische Hülle: „Der uns da entgegenkommt, heißt Peter“; aber dies ist im konkreten Falle nicht gemeint.
Die gewöhnliche Dummheit (den linken Handschuh über die rechte Hand stülpen zu wollen) ist harmlos gegenüber der philosophischen Konfusion und der kategorialen Verwirrung.
Die Konfusion in der modische Behauptung, was wir den freien Willen nennen, gründe in der Unberechenbarkeit von Quantenereignissen (im Gehirn).
Die kategoriale Verwirrung in der Identifikation von Physischem und Mentalem: „Das Gehirn denkt, rechnet, entscheidet, erinnert sich.“
Die Konfusion in der Verwechslung von Absicht und Voraussage: „Ich werde morgen kommen“– aber er kommt dann doch nicht, weil er verhindert ist, weil er dich belogen habe.
Die Verwirrung in der Identifikation von Ursache und Grund oder die begriffliche Unklarheit aufgrund der Äquivokation beim Gebrauch der Konjunktion „weil“: „Er hat ihn getötet, weil er sich paranoid von ihm verfolgt glaubte.“ – „Er hat ihn beleidigt, weil er ihn verachtete.“ – „Wir gehen nicht spazieren, weil es regnet.“ – Dagegen: „Wir gehen spazieren, obwohl es regnet.“
Daß es morgen regnen wird, können wir mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen, wissen können wir es erst, nachdem es geregnet hat.
Ein Modell dessen, was wir nach menschlichem Ermessen NICHT voraussehen können, gibt Thomas Mann in seinem „Zauberberg“: Alles sieht danach aus, als handele es sich bei dem Duell zwischen dem geschwätzigen Humanisten und eitlen Philanthropen und dem verkrachten Visionär des Untergangs und des reinigenden Terrors um eine zwar düstere, aber doch durch konventionelle Regularien abgesicherte Angelegenheit; dann aber zielt Naphta nicht auf den verhaßten Settembrini, sondern erschießt sich selbst.
Die Konfusion durch den Begriff der Ähnlichkeit: Der Sinn der naturalistischen und realistischen Malweise besteht nicht in der Ähnlichkeit mit den abgebildeten Dingen; denn die Blumen auf den Bildern, und wirkten sie auch wie Sinnestäuschungen, duften nicht und locken keine Bienen an.
Worin besteht die Ähnlichkeit zwischen dem Kruzifixus auf Golgotha und dem von Konstantin gebrauchten Kreuz als Siegeszeichen bei der Schlacht an der Milvischen Brücke?
Die begriffliche Konfusion in der Verwechslung von Negation und Abwesenheit: Der Freund, mit dem wir uns im Park verabredet haben, ist nicht gekommen. Doch die Situation, in der wir den Park als leer empfinden, obwohl er von Besuchern wimmelt, die Wege als labyrinthisch und den offenen Ausgang als zugeschlagenes Tor, ist nicht in der Feststellung enthalten, daß der Freund nicht gekommen und unsere Verabredung mißglückt ist, sondern in der mysteriösen Faktizität der Abwesenheit des anderen.
Die Konfundierung der Prädikate notwendig und hinreichend: Hätte man in einem Labor alle Bedingungen chemisch-physikalischer Natur hergestellt, die für das Entstehen von Leben notwendig sind, bliebe immer ungewiß, ob sie ausreichen, eine spontan reproduktionsfähige Erbsubstanz hervorzubringen. Genauso kann man sagen: Er hatte alle Chancen, beruflich erfolgreich zu werden, die Angebetete zu erobern, eine neue Erfindung zu machen, doch hat er sie leider nicht genutzt.
Die Konfusion in der Verwechslung der Begriffe „Ich“ und „Bewußtsein“ oder „Selbstbewußtsein“: Im leichten Gespräch, im seichten Geplauder, ja selbst bei der Befragung vor Gericht oder im gelehrten akademischen Diskurs wählen und setzen wir die Worte nicht nach reiflicher Überlegung und in einer vorbedachten bewußten Entscheidung; und dennoch werden unsere Verlautbarungen uns auf die Weise zugesprochen und angerechnet, daß wir sie zu verantworten haben und nötigenfalls auf Nachfrage zu bestätigen, zu begründen, zu rechtfertigen wissen. Wir sind es, die reden, aber zugleich konnte Heidegger mit gnomenhafter Schläue behaupten, es sei die Sprache, die spricht; denn die grammatische Struktur, die wir mit unseren Äußerungen gleichsam ausfüllen, reicht in Dimensionen, die sich unserem Bewußtsein entziehen.
Die Intuition ist das Senkblei, das die Tiefe unserer Erfahrung ermißt.
Was wir Seele nennen, ist die Atmosphäre, die um jede Person weht, und deren Vibrationen und Ausstrahlungen wir mit dem Seismographen und Lichtmesser der Intuition unmittelbar, vorbewußt, ohne Zuhilfenahme von sprachlichen Begriffen registrieren.
Die Äußerungen und Selbstdeutungen oder Selbstbilder einer Person können mit dem, was wir als ihre Ausstrahlung und Atmosphäre wahrnehmen oder wittern, bis zu Formen pathologischer Selbsttäuschungen in Widerspruch stehen.
Der eine sieht nur ein tropisch-wirres Geranke, der andere den Tiger, der darin lauert.
Die Lichtung in der Abendlanddämmerung, in der sie den irisierenden Zauberquell und die lunare Gestalt der Anmut hinterließen: Mozart und Goethe.
Die Sicherheit des Taktgefühls in den Versen Goethes, die einem durchsichtig schimmernden Gewande gleich die leisen Regungen noch der zartesten Empfindung erahnen lassen.
Kein poetisches Metronom vermag diesen Takt zu zählen.
Das Sprachgenie, das alle Regeln der Syntax und Semantik aus dem FF kennt, wird begriffsstutzig, wird dumm aus der Wäsche schauen, wenn es nicht ahnt, was es bedeutet, wenn die Geliebte sich in Schweigen hüllt.
Es gibt keine Regel, keine Konvention, keinen sprachanalytischen Feinschliff für die Mannigfaltigkeit der Situationen, in denen durch die Rinde des gemeinsam gewachsenen Verstehens gleichsam das Harz des Schweigen sickert.
Der Aspekt am Gesehenen, der uns unvermutet aufgeht, wie beim Umschlag des Hasenbilds ins Entenbild, kann nicht vorausgesehen, nicht vorausgesagt werden.
Die Pointe besteht nicht darin, daß uns ein Licht aufgeht, das einen Winkel, der im Dunkel lag, plötzlich erhellt, sondern darin, daß wir das Ganze in einem neuen Licht sehen.
Die Griechen sahen wohl das funkelnde Gewirr am nächtlichen Sternenhimmel, doch dann sahen sie die Sternbilder, den Orion, die Zwillinge, den Schützen, den Stier, den Wagen und all die anderen.
Physiognomisch sehen heißt ein Gesicht sehen, wo von einem Tier die Maske animalischer Funktionsbedeutung für Freund und Feind, Artgenosse und Beute, Drohung und Furcht wahrgenommen wird.
Das Gesicht ist ein Kryptogramm der seelischen Gestalt.
Die Landschaft, das Bild, das Gesicht – sie bleiben nicht unberührt von dem Blick, mit dem wir fragend oder findend, bestürzt oder beglückt darüber hinstreifen.
Die Konfundierung des Begriffs der Reflexion mit dem Modell der Spiegels; doch wir sehen uns nicht durch ein inneres Augen im inneren Spiegel unserer Gedanken, sondern sehen, wie die Landschaft, das Bild, das Gesicht den Blick zurückgibt, den wir auf sie werfen (oder es verwehren und unseren Blick gleichsam absorbieren und verschlucken).
Wir können oft, was uns an Gedichten der Meister rätselhaft vorkommt, durch noch so angestrengtes Deuten und Grübeln nicht ausfindig machen; dann werden wir der Sache überdrüssig, die lyrische Gestalt verblaßt, das fremdartige Gesicht zerrinnt, wir sind müde, dösen, träumen. Plötzlich schrecken wir auf und es wird uns klar: Ja, der Vater konnte das Kind vor dem Dämon, dem Erlkönig, nicht retten; er erweist sich als der väterlichen Güte und Macht überlegen. Und dies Dämonische und Unbezwingliche, welches der Kultivierung, Zähmung und Sublimierung sich nicht fügt, hat Goethe mittels dramatisch-epischer Verdichtung der Volkssage in ein symbolisches Bild verwandelt, gemäß dem das Dämonische in der Seele des Kindes liegt, also unser aller Seele.
Wenn wir alltäglich die Sprache wie den Hammer und das Zeug Heideggers gebrauchen, und sie dient unseren Zwecken und setzt deren Erlangung durch Unbotmäßigkeit oder kleine und größere Macken keinen Widerstand entgegen, bemerken wir nicht die Feinheit und Vielschichtigkeit ihres Aufbaus. So entgeht uns, wenn wir unseren Freund Peter mit seinem Namen herbeirufen oder er uns mit unserem, die außergewöhnliche Tatsache, daß wir überhaupt Namen haben und sie mit der Art unserer spezifisch humanen Lebensweise aufs innigste und nahtlos verknüpft und verwoben sind.
Plötzlich wird klar, daß, wer namenlos ist wie das Tier (denn unserem Hund gaben WIR den Namen und er versteht ihn nicht als Namen, sondern als klangliches Reizschema), nicht von sich reden kann, kein autobiographisches Gedächtnis oder die Möglichkeit hat, sich über die Kette der Namen seiner Ahnen mit der Geschichte zu verbinden.
Das Stöhnen und der Schrei sind Ausdruck und inhärenter Bestandteil des Schmerzes; der Ausruf des Erstaunens wie „Aha!“ oder „Na klar“ ist Ausdruck und inhärenter Bestandteil der Erkenntnis. Keins von beiden ist ein Bericht, eine deskriptive Darstellung, weder des Schmerzes dort noch der jähen Einsicht hier.
Die wir unvermutet in einem zerlesenen Buche finden, gepreßte Blüten, mögen eine Erinnerung heraufbeschwören, doch den Glanz, den Duft, die Heiterkeit des Tages, an dem sie gepflückt und ins Buch eingelegt wurden, hat sie eingebüßt.
Der Flügel des schöpferischen Augenblicks streift unversehens die Blätter, unter deren Schatten wir wandeln, und ein Schauer glänzender Tropfen geht auf uns nieder, der uns gleichsam aus dem somnambulen Schlendria durch die Dämmerung aufweckt.
Die Sprache wird saftlos, trocken, papieren, gerät sie unter die Herrschaft der intellektuellen Mandarine, die an den Schaltstellen der Ämter, der Katheder, der Redaktionen den Ton angeben. Schon wer eines ihrer porösen, durchsichtigen Blätter augurenhaft lächelnd oder silenenartig grinsend zwischen den Fingern reibt, daß es knistert und knirscht, macht sich verdächtig; die gar darangehen, sie mit zynischer Heiterkeit zu zerreißen und die Schnipsel auf die öde Chaussee der öffentlichen Meinung zu schütten, haben um ihren Ruf, ihre Stellung, ihre soziale Existenz zu fürchten.
Die ausgelaugte Sprache der Intellektuellen wird zum Fetisch, den die Pädagogen, Redakteure und Kirchendiener in öffentlichen Buß- und Gedenkzeremonien anbeten. Weh dem, der abseits steht und lacht, weh dem, der nicht krähend ins Knie bricht und den Staub der großen Wahrheit küßt.
Die Ablösung und Auflösung des schöpferischen Ausdrucks durch den toten Algorithmus ist der Pyrrhussieg der technisch-rationalen Zivilisation.
Der intellektuelle Jargon der Mandarine bewahrt uns vor den Flammen, in denen das Genie der Sprache das Erz der Dichtung aus dem Urgestein der Erde schmilzt.
Der subtile Gärtner pfropft das edle Reis auf die wild sich der Sonne entgegenreckenden Glieder des archaischen Stamms.
Jedes Ursymbol wurzelt, wie Spengler sah, im Boden einer ursprünglichen Landschaft. So auch die Dichtung, in der das Symbol meist unwillkürlich ausstrahlt. Der Dichter bildet, erfindet, konstruiert es nicht, das Symbol macht ihn sich untertan, es spricht und singt durch ihn, wie die Gesänge der Ströme in Hölderlins Hymnen.
Kein Wunder, wenn die gerodete, planierte, asphaltierte Landschaft keine Gesänge mehr hervorsprudeln läßt, sondern im besten Falle nur das Geheul der Klage über ihren Verlust.
Daß der Anmut wir gedenken
Et virides Baccho colles et amoena fluenta
Subter labentis tacito rumore Mosellae.
Hänge für Bacchus ergrünend, darunter die lieblichen Wellen,
wie sie strömen dahin im leisen Rauschen der Mosel.
Ausonius, Mosella
Rinnt er auch hin ins Blütenlose,
gespiegelt hat er uns den Strahl
des Monds, das stille Licht der Rose,
der Fluß im rebengrünen Tal.
O daß wir noch den Atem fühlten,
der feuchten Glanz aufs Gras gehaucht ,
Gestirne unsre Sehnsucht kühlten,
gleich Schwänen, die ihr Haupt getaucht.
Und tropften schon von Schattengittern
der Orchis Tränen in die Nacht,
ihr Schimmern und ihr süßes Zittern
hat uns den Abschied schwer gemacht.
O daß der Anmut wir gedenken,
mit der die Blüte uns entzückt,
die du, aufs Wasser sie zu senken,
mit holder Geste hast gepflückt.
Nadelstiche und Muster
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir können nur Objekten und Ereignissen Existenz zusprechen, die wir auch identifizieren können. Identifizieren können wir Objekte und Ereignisse nur anhand ihrer raumzeitlichen Lokalisierung. In diesem Lichte betrachtet, ist es nicht erstaunlich, daß wir zögern, Photonen und Quanten Existenz zuzusprechen; aber auch klar, daß wir nicht die Existenz Gottes, aber seine Nicht-Existenz beweisen können, wenn wir die Inkonsistenz der ihm traditionell zugeschriebenen Prädikate wie Unkörperlichkeit und Ubiquität vor Augen haben, denn ein Dunst mag sich gleichmäßig in der Küche verteilen, aber kann nicht unkörperlich sein.
Der Sonnentag der Eintagsfliege; der Weltentag eines Kopernikus, Kepler, Newton und Kant, der eine Stabilität der kosmischen Ordnung voraussetzt, die wir angesichts der Singularität von Schwarzen Löchern und der Fluktuationen der kosmischen Hintergrundstrahlung zu bezweifeln gute Gründe haben.
Die poetischen Ordnungsgefüge der klassischen Ode und Elegie bezeugen im Lichte der Jahrtausende, die sie in der okzidentalen Kultur durchwandert und überlebt haben und in immer neuer Gestalt wiederaufgetaucht sind, eine wunderliche Stabilität, die im Zusammenhang mit Tiefenschichten der grammatischen Strukturen der indogermanischen Sprachen zu stehen scheint.
Der Tod ist ein Schwarzes Loch, das Fetzen der Seele schon zu Lebzeiten in den Strudel der alles zermalmenden Vernichtung reißt.
Hätten die Griechen die Perser, die Römer das alexandrinische Reich, die Germanen den Ansturm der Osmanen nicht zurückgedrängt, wäre Europa längst schon verschleiert und im orientalischen Gewande einhergeschritten; im Lichte des demographischen Drucks und der ungezügelten Migration aus den Ländern des Orients scheint sich diese Metamorphose bald auf „friedliche Weise“ zu vollziehen.
Ein aussagekräftiger Indikator für den Niedergang ist das Vergessen; das Vergessen der Jugendträume für den individuellen Verfall, das Vergessen der klassischen Bildung für den kollektiven.
Ein anderer Indikator für den Niedergang der okzidentalen Hochkultur ist das Erkalten der religiösen Leidenschaft und das Absterben oder Verwässern der überkommenen Riten, aber auch die Flucht in Ersatzreligionen wie den Humanitarismus oder neue Formen und hohle Masken der Naturfrömmigkeit.
Die Überlegenheit des westlichen Imperiums beruhte zuletzt auf der Rationalität und Effizienz seiner technischen Erfindungen und der Anwendung mathematisch kalkulierter Verfahren der Produktion, Distribution und Verwaltung durch den analytischen Verstand weißer Männer; die Durchsetzung der Frauenquote auch in den naturwissenschaftlich-technischen Instituten und Laboren und der ideologische Kampf gegen die Suprematie der eigenen kulturellen Begabungen („white supremacy“) werden dem über kurz oder lang ein Ende bereiten.
Der Kampf wider das kulturelle Erbe wird mit den Verfehlungen der Erblasser begründet; indes, die Verwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Atomtheorie zur Herstellung und Zündung einer Bombe, deren zerstörerischer Kraft Hekatomben zum Opfer fielen, diskreditiert nicht die Leistungen der Erfinder der Theorie; der Mißbrauch schulischer Disziplin zur Befriedigung der sadistischen Neigungen einzelner Lehrer nicht ihren allgemeinen pädagogischen Wert.
Wir leben zusammen mit Pflanzen und Tieren gleichsam im Laboratorium der Sonne.
Je ausgehöhlter der religiöse Sinn, umso wuchernder, verwegener und dreister das Sektierertum.
Die Verkünder des Dritten Reichs bildeten eine Art atheistischer Sekte, nicht minder die fanatischen Prediger und Plastiker des Neuen Menschen, des Homo sovieticus; beide hinterließen eine kulturelle und seelische Wüste. Die zeitgenössischen Sektierer der westlichen Metropolen, die erfolgreich die Massenmedien, die Parlamente und internationalen Organisationen mit der Hefe ihres humanitären Geschwätzes durchsäuern, kommen auf Taubenfüßen daher, doch verbergen sich hinter ihrer süßlichen Maske des guten Menschen nicht weniger destruktive Impulse, die zutage treten, wenn sie die Identität des eigenen Volkes, der eigenen Kultur, der eigenen Sprache dem höheren Zweck ihrer politischen Moral opfern.
Der konservative Denker wird, auch wenn er sich als Agnostiker oder Atheist bekennt, die traditionelle Frömmigkeit und den Ritus der Alten Messe verteidigen.
Der beim Kult um die Opfer von Krieg und Verbrechen reichlich entzündete Weihrauch wölkt meist durch die Verliese und muffigen Korridore der inneren Leere.
Das staatlich organisierte und monopolisierte sogenannte Gedenken dient der politischen Überwachung und Diskreditierung jener, die sich ihm nicht fügen.
Die Traumatisierung kindlicher Seelen und die Einschüchterung jugendlicher durch die mediale und pädagogische Dauer-Konfrontation mit der Schuld der Ahnen.
Mit Hitler findet der Ignorant ein bequemes moralisches Ruhekissen, auf dem er sich theatralisch hin- und herwälzen kann.
Die Verführung durch Neuerer und Revolutionäre bedient sich eines Blankoschecks auf eine ungewisse Zukunft, der, wenn er denn wie üblich verfällt, schon längst in Judas- und Blutgeld eingetauscht worden ist.
„Bildung für alle“ – die Schwachköpfe krakeelen in den vorderen Reihen, während sich die Hochbegabten in den hinteren langweilen.
Muster sind gleichsam Apriori-Regulatorien für Handlungen; ein Farbmuster dient zum Abgleich und zur Auswahl farbiger Stoffe und Vorlagen. Sie sind auf den sensorischen Bereich beschränkt, für den die Handlung vorgenommen wird. Mit dem grafischen Muster eines Stuhls kann man Sitzgelegenheiten ausfindig machen, mit dem Muster eines rechtwinkligen Dreiecks rechtwinklige Dreiecke. Das Muster eines Stuhls ist kein idealer Stuhl, das Muster eines Dreiecks kein ideales Dreieck.
Ein grammatisches Muster ist gleichsam ein Apriori- Regulatorium zur Erzeugung von sinnvollen Sätzen. a (P) ist das Muster zur Erzeugung singulärer Prädikationen; hier können wir von einem idealen Muster sprechen.
Eine beliebige empirische Aussage wie „Die Erde ist ein Planet der Sonne“ kann als grammatisches Muster genommen werden, beispielsweise, indem wir das Subjekt durch eine Variable ersetzen. Dann können wir anhand dieses Musters Sätze ableiten wie „Die Venus ist ein Planet der Sonne.“
Dagegen finden wir Aussagen, die nicht als Muster verwendet werden können, wie die Aussage: „Ich heiße Peter“, denn wenn Hans sagt: „Ich heiße Hans“, sagt er etwas ganz anderes.
Dummheit verkündet, alles könne anhand von Mustern, Programmen, Lehrplänen gelernt werden; keiner werde zurückgelassen. Doch für wesentliche Fähigkeiten, wie die künstlerische, musikalische und dichterische Intuition, gibt es keinen Lehrplan und kein mustergültiges Verfahren ihrer Aneignung und Ausprägung.
Der Unbegabte kann noch so lange üben, ihm bleibt die sublime Interpretation des Schubert-Liedes versagt.
„Er hat den Dreh raus“ – damit meinen wir Fertigkeiten, wie nach Gehör Klavier zu spielen, eine Angelrute oder ein Fischernetz auszuwerfen, einen Ball ins Eck zu schlenzen. Wer Schuberts „Nacht und Träume“ nur schön singt, mag Applaus ernten, wer es aber bewegend, berührend, ergreifend vorträgt, bekommt jubelnden Beifall. – Für die Vortragsweise, die wir bewegend, berührend und ergreifend nennen, gibt es keine Mustervorlage, sondern nur Beispiele von Meistersängern.
Für eine musikalische Innovation vom Range des Tristan-Akkords gibt es keine Anleitung.
Philosophische Ignoranz wähnt, sprachliche Verständigung werde in einem vorurteilsfreien Raum vernünftiger Diskurse erlangt. Indes, zu glauben, jemand meine mit der Äußerung „Du bist wahrlich ein Genie“, was er sagt, wo es doch das gerade Gegenteil ist, zeugt nicht von intuitivem Verständnis.
Was der Gesprächspartner nicht nur mit verbalen Äußerungen, sondern mit Blicken, Mienen, Gesten, Tonlagen und Akzenten zum Ausdruck bringt, läßt sich kaum in Sprache fassen, geschweige denn rational rekonstruieren; und dennoch gehört es zur Essenz des Mitgeteilten.
So verhält es sich auch mit der Essenz von künstlerischen Werken, Musikstücken und Gedichten; die Essenz des Mitgeteilten liegt nicht unmittelbar in den Materialien und Kompositionen zutage, sondern entspricht dem, was im Dialog auf die Rechnung von Blicken, Mienen, Gesten, Tonlagen und Akzenten geht.
Der Nazarener schweigt vor Pilatus; in diesem Schweigen sagt er mehr, als in einer langatmigen Apologie zu sagen möglich wäre.
Die ungeheure Klangwoge der Brucknerschen Sinfonie steigt bis zu einer Höhe empor, wo sie von einem jenseitigen Licht beglänzt zu werden scheint; dies ist nicht zu beschreiben, kaum musikanalytisch nachweisbar, doch kann es in einem verschwiegenen Wissen erahnt, erfühlt werden.
Wenn wir lesen „2 = 2“, können wir die Formel der numerischen Identität nicht beschreiben, erklären oder ableiten; versuchten wir es, müßten wir sie wiederum voraussetzen. Nur Torheit fragt hier weiter nach Gründen. Denn das Gemeinte zeigt sich, oder, wie Wittgenstein sagt, die Logik muß für sich selber sorgen.
Der Grund, aus dem wir stammen, woraus Kunst und Dichtung schöpfen, bleibt verschwiegen, breitet sich aber hell vor uns aus wie die Fluren und Hänge der heimatlichen Landschaft unter einem blauen Sommerhimmel, strömt und tönt wie verborgene Quellen unter uns fort.
Das verschwiegene Wissen, aus dem die Intuition und das Verstehen schöpfen, gleicht dem wirren Fadengestrüpp auf der Rückseite des mit Ranken, Ornamenten und floralen Motiven prachtvoll gewebten Teppichs.
Das Verstehen liegt vor dem propositionalen Wissen in den organischen Hintergründen einer differenzierten Sensitivität.
Die Haut denkt.
Das ans Licht der Mitteilung dringende Verstehen bedient sich gewisser Zeichen, deren primitiver Ursprung Symbole darstellen, die jeweils von kulturellen Gemeinschaften sehr unterschiedlich hervorgebracht werden, wie das Labyrinth der Minoer, Türsturz und Burg der Mykener, die Tempelsäule der Athener, Ionier und Korinther, das Melos der Lesbier, die Grabhügel der Etrusker, die Bundeslade der Hebräer oder das Kreuz der Christen.
Die Gestalt kann mehrdeutig sein; die christliche Sekte der Ophiten sah in der Schlange nicht, was der Autor der Genesis in ihr erblickte.
Gewiß können das Symbol und die Gestalt als Mustervorlagen verwendet werden, bis der Kruzifixus und der Engel in der Massenproduktion für den Kitsch der Verkaufsstände an Klöstern und Heiligtümern degradiert werden.
Aber die Gestalt der ionischen Säule wurde nicht als Muster zur Reproduktion von neuartigen Gebäudetypen auf dem Reißbrett von Architekten und Ingenieuren planmäßig entworfen.
Der eine sieht die Ente, der andere den Hasen im Ente-Hasen-Rätselbild; derselbe sieht zuerst das eine, dann plötzlich das andere.
Wir sehen das Lächeln auf dem Gesicht, doch dann die Traurigkeit, Verzagtheit oder Verzweiflung, die es kaschiert. Wir sehen das Lächeln, doch dann seine ironische Tönung, sehen die Träne, doch dann den erstorbenen, abwesenden Blick.
Traumgesicht am Uferpfad
Wenn wir den Pfad am Ufer gehen,
fühl ich, wie deine Haare wehen
mir an die Wange sacht.
Wie Tropfen an den Halmen zittern,
sie fallen, schluchzend hinzusplittern,
sind wir im Traum erwacht.
Haucht uns nicht an die blaue Welle,
glüht südlich nicht die Mirabelle,
ja, sagt der laue Wind.
Dort sieh, an Kähnen, muschelweißen,
der Liebe goldnes Wappen gleißen,
als folgten sie uns blind,
das Melos holder Lippen, Flöten
und der Eroten Silbertröten,
und eine Schöne winkt
uns zu mit einem Strauß von Veilchen,
bleib, Zauberbild doch noch ein Weilchen,
die Sonne aber sinkt.
Ich seh an deiner Wimper schweben
die Träne und vor Schauern beben
die blasse Knospe Mund.
Wenn wir zurück vom Ufer gehen,
scheint mir, ich kann Verlaine verstehen,
den traurig-frohen Hund.
Das kulturelle Unbewußte
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wenn wir von unbewußten, vorreflexiven Determinanten unseres Redens und Handelns sprechen wollen, müssen wir die schon habituell gewordene Blickrichtung nach innen, die Introspektion oder die Psychoanalyse hinter uns lassen und uns der Tiefenschicht des Äußeren, den Ablagerungen kultureller Formen, der Sprache, den sittlichen Gepflogenheiten, den Symbolen, zuwenden.
Das Ereignis Luther oder der Abfall von Rom, der die Religionskriege bis hin zum Dreißigjährigen Krieg zur Folge hatte, ist ins kulturelle Unbewußte der europäischen Geschichte aufgrund der kontingenten Tatsache eingeschrieben, daß Rom und die Cäsaren jene Gebiete Europas kolonisierten, in denen die Weintraube gedieh wie Iberien, Gallien und das südliche Germanien, das durch den Limes von der unbeherrschbaren Wildnis der nördlichen Stämme und Wälder eingehegt war. Als die Bischöfe die zugleich geistliche und weltliche Herrschaft auszuüben begannen, blieben diese Regionen gleichsam die Kronlande des Heiligen Stuhls.
Die alte Bruchlinie des Limes konfrontierte aufs Neue Preußen und Habsburg.
Das individuelle Bewußtsein schwimmt wie eine Schaumkrone auf der unbewußten Woge der Sprache.
Daß wir den anderen sowohl auf Augenhöhe begegnen als auch in der Distanz mehr oder weniger kühler Beobachtung, ist ein Reflex der grammatischen Struktur indogermanischer Sprachen, ihn mit „du“ anreden und mit „er“ und „sie“ beschreiben zu können.
Der auf dem schmalsten Grat sich tänzerisch bewegende Somnambule stürzt ab, wenn er erwacht und in den Abgrund blickt.
Der ganz ins Bewußtsein erhobene schöpferische Prozeß versiegt.
Das kulturelle Unbewußte kann als das Weltbild und die es tragende Ontologie zutage treten, das von bestimmten rätselhaften Äußerungen vorausgesetzt werden; so sagt das kleine Mädchen, es wolle nicht mehr in seinem Bett schlafen, weil in seinem Zimmer die Träume wohnen, die es erschrecken; oder der kleine Junge sagt, Gott müsse existieren, er habe ja einen Namen. Das kindliche Weltbild, das wir anhand solcher Äußerungen rekonstruieren können (wie es unter anderen Jean Piaget und Karl Bühler getan haben), geht von einer Art mythischer Personalität der Träume aus, wie wir sie auch im antiken Mythos finden; desgleichen von der Annahme, allem, was einen Namen habe, müsse eo ipso auch Existenz zugesprochen werden.
Der sich als harmloser Friedensstifter maskierende Dämon der uniformen Weltzivilisation ist angetreten, das kulturelle Unbewußte der Völker und Sprachen dem grellen, zerstörerischen Licht der Aufklärung, der technischen Verwaltung und globalen Überwachung auszusetzen.
Sprachen sind Organismen, denen man nicht ungestraft lebenswichtige Organe amputieren und sie durch künstliche ersetzen kann.
Wer alle Sprachen beherrschte, würde nichts mehr verstehen.
Die unvergleichlich verschiedenartige Metaphorik in den Redewendungen und Bildern der einzelnen Sprachen verbindet die Sprecher mit subkutanen Erregungsleitungen, die zwischen unbewußten kulturellen Zentren und Epizentren verlaufen, wie der Linie zwischen Moskau und Byzanz, Warschau und Paris, Wien und Venedig, Berlin und Königsberg, Belgrad und dem Amselfeld.
Das Nächste, das unseren Weg kreuzt, das Ähnliche und Verwandte, das uns verzerrt spiegelt, weckt unser Mißtrauen, unser Unbehagen, unseren Haß, nicht das Exotische, Fremde, uns ganz Unähnliche; Kain und Abel.
Die in ihren Metaphern und Bildern sedimentierte Mythologie der Sprache, die das Denken sowohl durch Trugbilder und Phantasmen verhexen als auch durch sinnvolle Wegmarken auf die Spur bringen kann.
Sprache ist wie die Gesellschaft eine Struktur und kann nicht von einem Zentrum aus gesteuert werden.
Die Idiolekte und Semantiken der verschiedenen sozialen Gruppen können nicht in eine ideale Metasprache übersetzt werden, auch wenn Medien und Politik dies für sich beanspruchen oder vortäuschen, alle Äußerungen durch das Stahlbad einer einheitlichen Hypermoral sich ineinander spiegeln zu lassen.
Wolke und Kristall – Extreme dichterischen Ausdrucks.
Die Ordnung der chemischen Elemente, die Kombinatorik der Atome und Moleküle, die Taxonomie der pflanzlichen und tierischen Organismen: die Taxonomie der grammatischen Strukturen der natürlichen Sprachen.
„Hier bin ich“ – der Kern der sprachlichen Pragmatik; „Dort geht er“ – der Kern der beschreibenden Rede; „Dort ging er“ – der Kern der historischen Darstellung (und der fiktiven Prosa).
„Hier bin ich“ – diese Äußerung bezeugt sich selbst, sie bedarf keiner Bestätigung und keines Beweises. „Dort geht er“, „Dort ging er“ – diese Äußerungen bedürfen, wenn sie sich auf eine bestimmte Person beziehen, der Bezeugung und Bestätigung.
Je verdichteter, konziser, kristalliner der dichterische Ausdruck, umso rätselhafter und erregender, je minutiöser, ausführlicher, redundanter, umso langatmiger und fader.
Wenn die Person, die sich an einem bestimmten Datum zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort aufhält, Peter heißt, können wir den Namen Peter durch die Formel P (l, t) (wobei t und l die spezifischen Zeit- und Ortsangaben angeben) ersetzen. Dagegen können wir den Ausdruck „Ich“, wenn die Person namens Peter von sich spricht, durch die genannte Formel nicht ersetzen.
Eine Äußerung in der ersten Person ist unter normalen Äußerungsbedingungen ein eindeutiger Indikator oder ein Kriterium für das Dasein einer ihrer selbst bewußten Person.
Allerdings ist die Äußerung des Kleinkindes Peter „Peter Schoß“ nur scheinbar eine Äußerung in der dritten Person, meint aber: „Ich will auf dem Schoß sitzen.“
Die personale Ordnung ist sphärisch: Wir lokalisieren und temporalisieren uns in der Mitte einer ontologischen und epistemologischen Kugel. Objekte und Ereignisse in der Nähe des Zentrums nennen wir unser eigen, wie die Leib- und Sinnesempfindungen, die Wahrnehmungseindrücke und die Erinnerungen oder Träume, die fernsten, die wir nur vom Hörensagen oder aus dritter Hand kennen, die japanischen Inseln oder Hannibals Zug über die Alpen, umkreisen uns wie die Planeten das Zentralgestirn.
Der ontologische Druck der Ereignisreihen, der Strukturierung der Handlungsfolgen: wie wir uns anziehen, die Schnürsenkel binden, einen Brief lesen, einen Brief schreiben.
Der ontologische Druck der Schwerkraft auf unsere Aktivitäten und Gebilde: Stehen, Gehen, Tanzen; Bauen, Konstruieren, Figurieren.
Kunst als scheinbare Überwindung der Schwerkraft: das Gewölbe, die Kuppel, Apsis und Fenster der gotischen Kathedrale; der schwingende Rhythmus des Verses und die Flügel- und Wolkenmetapher des Gedichts.
Die Vergöttlichung der Sonne und die Verehrung des Lichts in den semitischen und indogermanischen Hochkulturen von Indien bis Israel, von Persien bis Griechenland und Rom verstehen wir angesichts der Tatsache, daß einzig die Lichtstrahlung unseres Zentralgestirns – das Zweite Gesetz der Thermodynamik in der Gnadenfrist seines Bestehens aushebelnd – zur Entstehung des Lebens auf der Erde und der immer feineren, das Phantastische streifenden Differenzierung der Organismus verholfen hat.
Auch die Sprache kann als Organismus betrachtet werden, der sich mittels Aufrechterhaltung seiner semantisch-grammatischen Homöostase im System der Umwelt stabilisiert und durch Differenzierung seiner Organe weiterentwickelt. Die Verschiedenheit der sprachlichen Differenzierung entspricht den unterschiedlichen Umweltbedingungen; daher die ungeheure Vielfalt menschlicher Sprachen.
Der Untergang der solaren Herrschaft, wie wir sie vom Imperium der Cäsaren, dem Sonnenkönigtum der Bourbonen oder dem römisch-deutschen Kaisertum kennen, deutet, wie es jedenfalls Spengler sah, auf den Einbruch einer Weltnacht oder eines Zwielichts, dem man das Bestreben nach Auflösung der Staaten und Nationen, der Sprachen und Kulturen im Schmelztiegel der homogenen Weltzivilisation zuordnen kann, in der nur noch die hochgezüchtete Technik in der Verwaltung und Überwachung der Metropolen ein höheres Maß an Differenzierung des Denkens und der Kommunikation gewährleistet.
Der Sonnen- und Lichtgott ist keine Erfindung, sondern ein Symbol, das spontan aus dem fruchtbaren Humus des kulturellen Unbewußten entsprossen ist.
Wir bilden einen Satz auf dem Hintergrund der zahllosen Sätze, die nicht oder niemals ins Bewußtsein treten.
Die Äußerung „Ich habe mich vorgestern mit Peter im Park verabredet“ impliziert alle möglichen Sätze über eine Person namens Peter, über die Zeit, die Zeiteinteilung und den Kalender, die Natur eines Parks als Kulturform gegenüber den Naturformen von Wildnis und Wüste, die Institution der Übereinkunft oder der Zusage mittels performativer Sprechakte. Aber auch die zahllosen Negationen wie „Peter ist nicht der Peter, den du kennst“, „Der Park liegt im Westen, nicht im Norden“, „Vorgestern, nicht gestern“ werden von der Äußerung impliziert.
Jede Äußerung bildet einen Kreuzungspunkt von Sätzen, die der logischen Ordnung von Kohärenz und Konsistenz unterstehen.
Intuitionen, aus denen Sätze und Wendungen aufsteigen wie „Und Gott sah, daß alles gut war“, „Wer von diesem Wasser trinkt, den wird nimmermehr dürsten“, „Die Rose Schönheit soll nicht sterben“, „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn/Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn“, sind wie Blitze am nächtlichen Himmel, die für einen Augenblick des Schreckens oder Erschauerns eine nie gesehene Landschaft enthüllen.
Betrachten wir einmal den Lebenskeim, den Faden der DNA und die von ihm ausgelösten Proteinsynthesen, als einen seiner Gestaltungsmacht nicht bewußten Autor phantastischer Erzählungen, tragischer und komischer Geschichten.
Die Mythologie der Hellenen oder der Indianer ist ein Gewächs oder eine Wucherung am Stamm der Sprache, ähnlich den Pilzen, Misteln, Efeuranken am Stamm und Wurzelgeflecht der Eiche.
Anders als die griechische steht die germanische Mythologie unter dem Bann des drohenden Zusammenbruchs der kosmischen und sittlichen Ordnung.
Es ist die gleiche Amsel, die im Garten eines Keats oder Goethe sang, und heute singt in deinem.
Die gleiche Not, den gleichen Schmerz beim Zerreißen des Geflechts verschlungener Minnen, wie Goethe es empfand, können wir in der gleichen Lage aufgrund ihrer Beschwörung durch seine Marienbader Elegie nachempfinden.
Aber wir können es auch, wenn wir frohen Sinnes oder frisch verliebt die Elegie lesen. Hier tritt die lyrische Substanz der Empfindung in der Maske des schönen Singens und Sagens entgegen, ohne ihr Echtheitssiegel einzubüßen.
Seltsam ist, daß wir durch den Anblick fiktiver Schrecken und imaginärer Umarmungen zu echten Tränen gerührt werden können.
Der romantische Mond eines Eichendorff, Brentano oder Novalis spiegelt sich in einem fahlen, gespenstischen Lichtstreif auf dem dunklen Wasser unserer Seele, auch wenn wir ihre Gedichte im heiteren Licht eines Sommertages lesen.
Das Zeitbewußtsein Gottes wäre wie das der Eintagsfliege, die vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang den einen Weltentag erlebt.
Der unbewußte klimatische Horizont oder Index der Sprachen und Kulturen; die poetischen Deklinationen von „Schnee“ und „Eis“ bei den Bewohnern der Polarregionen, die poetischen Deklinationen von „Licht“ und „Sand“ bei den Wüstenbewohnern.
Hätten die Griechen die Perser bei Marathon und Plataiai, Octavian Antonius und Kleopatra bei Actium nicht besiegt, ginge Europa verschleiert im orientalischen Gewande einher.
Sind historische Ereignisse wie die genannten mehr oder weniger wahrscheinlich und kontingent, können wir den Aufbau und Wandel der Kulturen nicht vollständig auf allgemeingültige Gesetze einer geschichtlichen Morphologie zurückführen, wie es Spengler intendiert hat.
Ähnlichkeiten führen uns oft in die Irre: Das Selbstbildnis van Goghs sieht van Gogh ähnlich, aber diese Art der Ähnlichkeit ist nicht, was den Sinn des Selbstbildnisses ausmacht. Das Bild van Goghs „Weizenfeld mit Raben“ ist dem Foto eines Weizenfeldes, aus dem eine Schar Raben auffliegt, eher unähnlich, ja aufgrund der von den stürmischen und ekstatischen Pinselstrichen hervorgerufenen visionären Kraft gänzlich verschieden.
Der Kult der Juden um das Heilige Buch sieht der Verehrung der Heiligen Schrift durch die Christen wohl ähnlich, doch ist er durch den Glauben an die Autorschaft Gottes und seinen Gegensatz zur Lehre von der Inspiration gänzlich unterschieden.
Geflügelte Wesen kennt auch der griechische Mythos, beispielsweise Pegasus und die Eroten; aber sie mit den Engeln der Ikonen vergleichen zu wollen wäre töricht.
Per analogiam ihrer scheinbar sinnvollen und zielgerichteten Bewegung haben die antiken Kosmologen den Planeten fälschlicherweise Willensimpulse zugeschrieben, die alten Christen ließen sie gar von Engeln bewegen.
Es sieht so aus, als würde sich der Pawlowsche Hund daran erinnern, daß es Futter gibt, wenn kurz vor der Fütterung ein Licht- oder Schallsignal ausgegeben wird, so daß er nach wenigen Wiederholungen der Versuchsanordnung schon speichelt, wenn er nur das Licht sieht oder das Signal hört; doch sieht dieses Verhalten dem, was wir Erinnerung nennen, wohl ähnlich, ist aber in Wahrheit als eine Form des bedingten Reflexes gänzlich von ihm verschieden.
Nimmt man Formen der Rationalisierung und Perfektionierung von Techniken und Verfahren zum Modell, erliegt man gern der Illusion, die neuere Geschichte der Menschheit könne im Sinne eines fortschreitenden Prozesses der Zivilisation gedeutet werden. Aber Äußerungen wie „Die Menschheit wird sich in einer friedlichen Weltzivilisation von den barbarischen Relikten der Vorgeschichte wie Nationen, Kriegen zwischen Nationalstaaten, sozialen und rassistischen Vorurteilen befreien“ oder „Der Weg von der Freiheit weniger zur Freiheit aller und die Errichtung einer gerechten und egalitären Gesellschaft unter Anleitung eines herrschaftsfreien Diskurses“ sind impotente Reflexe einer dekadenten Elite und Residuen eines Weltbildes, das dem kulturellen Unbewußten entstammt, welches man mit Oswald Spengler und Max Weber ausschließlich der faustischen Kultur und der abendländischen Rationalität zuordnen kann, einer Kultur, die, aufgrund ihr innewohnender destruktiver Impulse und des Ausgreifens außereuropäischer Mächte geschwächt, dazu verurteilt scheint, allmählich in Bedeutungslosigkeit zu versinken; vor allem, wenn das imperiale Amerika daran scheitert, seine Einflußzone bis zur Ukraine auszudehnen, und schließlich, von den Herausforderungen im pazifischen Raum bedrängt, Europa sich selbst überläßt.
Zweierlei Oden
Ode des Südens
Serenade,
blaue Schwüle,
Schaumgebilde,
Lunas milde
Wasserspiele
südlicher Gestade,
wo von Pan bespritzt
auf der Muschel sitzt
kichernd die Najade,
wo die Abendröte
lockt die laute Kröte,
daß sie jäh verstummt,
rhythmisch eingemummt,
hin zum Wellenbade,
wo die Veilchenblüte leuchtet
auf an zartem Stile,
weichen Munds befeuchtet,
daß sie glücklich fiele
in den Schoß, der zittert,
wenn der Klangkristall,
Amors Purpurball,
wie ein Stern zersplittert.
*
Ode des Nordens
Wie im wachen Schlaf ein Schwan
trunken das Gefieder spreiten,
Mondes Lächeln untertan,
auf dem Wasser leise gleiten
sei des Vates holder Wahn,
alles schöne Leben
glühend preisgegeben
einem frühen Tode,
und nur was entrückt,
wie im Schlaf ein Schwan,
wem verhauchend schon
süß ein Singen glückt,
leih der Ode ihren Ton,
der Verzagende verzückt.
Augen, die sich feuchten
Die Blüten, wenn sie schneien,
erhellen manches Grab.
Schnee, sink wie Benedeien
auf unsern Schmerz herab.
Weshalb wir sollen danken,
hat sich uns nicht enthüllt,
bis Blick in Blick wir sanken,
von Tränen sanft gestillt.
Wie deine Lippen blaßten,
als ging der Weg durchs Moor,
wie sich die Hände faßten,
daß keines sich verlor.
Ein geisterhaftes Glimmen
stieg wie aus morschem Grund,
ein Flüstern kam von Stimmen,
die hatten keinen Mund.
Ein Tau hat uns umflossen,
die Tropfen schmeckten schal,
der Mond hat aufgeschlossen
die Knospe aschenfahl.
O folgten wir zusammen
des Kranichs Wolkenspur,
zu wärmen uns an Flammen
im südlichen Azur,
gewiegt vom Samt der Meere,
zu lösen Saum für Saum,
entbunden aller Schwere,
zu rinnen Schaum in Schaum.
Doch mußten wir ihn tragen,
den Himmel hart wie Erz,
und konnten uns nicht sagen
den unsagbaren Schmerz.
Und war ein kaltes Eisen,
das ihn entzwei uns hieb,
den Tanz von lichten Kreisen,
wo alles Mitte blieb.
Den Kanon, den zerschnitten
der Parze Klapperlied,
kein Seufzen kann ihn kitten,
gehst einsam du durchs Ried.
Die Augen, die sich feuchten
vor ferner Liebe Bild,
sind blind von einem Leuchten,
das aus dem Abgrund quillt.
Liebe, sag es keinem
Da sie wehten, Erlen,
tropften lichte Perlen
dir ins offne Haar.
Aus dem Morgengrauen
tauchte blauer Pfauen
wunderliche Schar.
Von geneigten Zweigen
pflückten wir das Schweigen,
süße Lotusfrucht.
Und wie Muscheln rauschen,
wenn wir kindlich lauschen,
rief es uns zur Bucht.
Schimmernd grüne Seiden
mochten uns umkleiden,
und die Welle trug.
Licht, das wir getrunken,
Aug in Aug versunken,
war, es war genug.
In der Abendröte
weinte eine Flöte,
die dem Tag nachsann.
Sank dein Mund von meinem,
Liebe, sag es keinem,
wie die Träne rann.
Als wärst du wieder da
Wenn im Morgengrauen
scheue Veilchen blauen,
bist, Ferne, du mir nah.
Sehe ich, wie Strahlen
Wasserzeichen malen,
vergeß ich, was geschah.
Wenn Lichttropfen spritzen
surreale Skizzen,
ist mir, als ob du singst.
Gurren in den Lauben
wie im Traum die Tauben,
fühl ich, woran du hingst.
Seh den Schwan ich gleiten,
sein Gefieder spreiten,
vergeß ich, was geschah.
Wenn der Abendschimmer
Rosen streut ins Zimmer,
bist, Ferne, du mir nah.
Das Phantasma und die Leere
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Das oft oder meistens mittels Formen der Zerstreuung und Unterhaltung oder forcierter Arbeit verdeckte Gefühl für die Fremdheit – die eigene und die der Welt – ist ursprünglich gegeben und uns eigen, weil es der Struktur des personalen Bewußtseins entspringt, nämlich man selbst und zugleich nicht man selbst zu sein, sich gleichsam von innen und zugleich von außen zu sehen. Um das Gefühl der Fremdheit mithilfe eines Surrogats loszuwerden, wenn auch nur auf eine gestundete Zeit bis zu seiner krisenhaften Auflösung, deuten wir die Fremdheit als eine Art innere Leere, die durch ein Phantasma, ein Supplement des infantilen Phantasmas der mütterlichen Imago, ausgefüllt werden kann.
Der Zwiespalt des personalen Bewußtseins, man selbst und zugleich nicht man selbst zu sein, zeigt sich unter anderem darin, daß wir all das, was wir fühlen, denken und glauben aussprechen können, die Sprache aber kein Konstrukt und keine Projektion unserer mentalen Fähigkeiten, sondern ein angeeigneter Fremdkörper, nämlich eine über Jahrhunderte gewachsene soziale Institution darstellt.
Kleist drückt den Zwiespalt im personalen Bewußtsein in seinem berühmten Aufsatz über das Marionettentheater in dem Sachverhalt aus, daß wir die ursprüngliche Anmut der Geste, des Ausdrucks, der Bewegung, wie sie der Unmittelbarkeit der Marionette eignet, verloren haben; indes ist, so meinen wir, das Bild der Unmittelbarkeit und Anmut im Ausdruck der Marionette eben jenes Phantasma, mit dem wir den leeren Zwischenraum des Bewußtseins vergebens zu füllen versuchen.
Wir treffen auf den Zwiespalt auch in der Verdoppelung des Bewußtseins, die Welt als Spielraum unserer Subjektivität und zugleich als neutralen und objektiven Ort von Dingen und Ereignissen, ja uns selbst als empfundene Totalität und zugleich als Ding unter Dingen wahrzunehmen.
Am fühlbarsten wird, was wir meinen, vielleicht im technischen Weltumgang, der im Begriff ist, immer weitere Felder der Intersubjektivität zu durchsetzen oder zu ersetzen: Wir handhaben das Smartphone, aber folgen seinen Anweisungen, wir führen die Maschine als Instrument unserer Zwecksetzung, und zugleich führt sie uns, und weit über unsere individuellen Zwecke hinaus.
Wir sind im Gespräch und Umgang mit dem anderen und zugleich unaufhebbar bei uns selbst.
Eine der Faszinationen der revolutionären Massenbewegungen scheint in der Illusion zu liegen, durch Unterwerfung unter das Charisma ihres Führers oder die von ihnen verkörperten Ideale im Strom des Kollektivs untertauchen, mit ihm verschmelzen und den Zwiespalt loswerden zu können.
Von den Chören der Engel, in deren hymnischen Gesang sich der Erlöste und Erwählte einstimmt, bis zu den Jubelchören im Fackelschein unter den Balkonen des Herrschers ist es wohl ein großer Sprung, doch einer auf derselben anthropologischen Ebene.
Formen und Methoden der Aufhebung und Auflösung des konstitutiven Zwiespalts des personalen Bewußtseins zu ersinnen, war ein elementarer Antrieb vor allem der idealistischen Philosophie; man denke an die universale Monas des Leibniz, das absolute Ich Fichtes oder das absolute Wissen Hegels.
Die Lust an der Entweihung ist gleichursprünglich mit dem, was Menschen als heilig, schön und erhaben verehren.
Satan scheint manchmal eínem Heiligen wie aus dem Gesicht geschnitten. – Die dämonische Schönheit bei Milton und Baudelaire.
Die Faszination des Häßlichen und des Bösen rührt aus seiner Macht, die Strahlungen des gesunden, schönen Lebens zu verdunkeln.
Der Triumph des Bösen, Gebilde, die über lange Zeit emporwuchsen oder mit großer Mühe, Verstandeskraft und ästhetischer Sensibilität errichtet wurden, einen alten Eichenhain, eine wundersam verschlungene Laube, einen Garten mit Beeten, Sträuchern und Obstbäumen, einen Tempel, eine Kirche oder Kapelle dem raschen Verzehr der Flammen anheimzugeben.
Die Schändung von Grabmalen und heiligen Stätten, das Verbrennen von Ikonen – Formen der Desakralisierung, die bösartig sind, nicht bloß, weil sie destruktiv sind und vernichten, sondern ihren dämonischen Reiz aus der Vernichtung des Hohen, Erhabenen, Göttlichen schöpfen.
Der revolutionäre Impuls im Ikonoklasmus der Puritaner, Sansculotten, der Bolschewisten, der Roten Garden.
Der Haß auf das vornehme Leben, den Adel, den Reichtum erlangt eine perverse Freude, wenn er ihre Villen und Schlösser, ihre Bilder und Bücher vernichtet, deren Schönheit und Brillanz die eigne Dürftigkeit und Armseligkeit umso bewußter fühlen läßt.
Der Häßliche kann den wohlgeformten Leib, das schöne Angesicht, das feuchte Feuer der Augen nicht ertragen. Er ist besessen vom Phantasma eines ihm unerreichbaren Glücks.
Die Lust an der Deformation, Zergliederung und Entstellung der menschlichen Gestalt in der modernen Kunst.
Hitler, Goebbels, Göring, die sich gegenüber der strahlenden Imago und dem leuchtenden Phantasma der schönen, blonden Bestie angesichts ihrer eigenen Gebrechen und Defekte als minderwertig fühlten, taten alles, ihre Verkörperung, die männliche Jugend des eigenen Volkes, im großen Opferbrand des Krieges der Vernichtung preiszugeben.
„Schaut doch, die Welt ist ein Ort der Verwüstung und Verwesung, das Leben sinnlos, der menschliche Geist von Grund auf verwirrt, die Seele polymorph-pervers und von Jugend auf dem Bösen geneigt – also kann die Kunst, soll sie wahrhaftig sein, nicht schön, sondern muß schmutzig, häßlich, provozierend abschreckend sein“, sagen die Philister des marktkonformen Nonkonformismus, deren parfümierter Verwesungskitsch zu Höchstpreisen versteigert wird.
Die Perversionen modischer Selbstentstellung und masochistischer Selbstverstümmelung werden als Rebellion gegen die bürgerliche Gesellschaft und hilfloser Aufschrei der von ihr Traumatisierten verklärt und vermarktet.
Die Fleurs du mal und ihre Düfte, die nicht Bienen locken oder Falter zu befruchtender Bestäubung, sondern unversehens Passanten betören und betäuben, in einem Maße, daß sie vergessen, zu welchen Zielen sie aufgebrochen sind, und wie Trunkene auf dem Rasen niedersinken, um mit offenen Augen von einem Paradies der Ruhe, Schönheit und Wollust zu träumen, während auf der Bank in ihrem Rücken ein einsamer Greis röchelt und in Agonie fällt.
Die Idylle der Vorgeschichte mündet nach der tiefsinnigen Erzählung der Genesis in die historische Existenz, die nicht nur von der Mühsal und Plackerei unter Disteln und Dornen, den Wehen der Geburt und der Angst vor dem Tode, sondern auch vom Einbruch des Bösen in Gestalt des Brudermordes gekennzeichnet ist.
Die Utopien der Nachgeschichte, ob im Chiliasmus des Mittelalters, den eschatologischen Heilsbewegungen der Reformationszeit oder den faschistischen und kommunistischen Idolatrien eines neuen Menschen, sie alle trugen das Gift mörderischer Instinkte in sich, die sich in terroristischen Exzessen der Auslöschung der Ungläubigen und Unwürdigen ausgetobt haben.
Die beißende, schäumende, funkelnde Intelligenz des Bösen, wie sie die großen Vernichter de Sades bekunden.
Im Sadismus finden wir die Lust an der Erniedrigung, Entstellung und Vernichtung um ihrer selbst willen; in den im Terror der Auslöschung gipfelnden sozialrevolutionären Bewegungen des 20 Jahrhunderts versteckt sich das Böse hinter den Masken des guten Willens, den Parolen von Gleichheit und Gerechtigkeit.
In der verführenden Rede, wie jener des Mephistopheles an Faust, bringt sich der böse Wille mittels der Irreführung des anderen durch die Lüge zur Geltung, Lüge, die ihn an seinen Grundüberzeugungen, am Sinn des Lebens, ja an seiner Identität irre werden läßt. Die irreführende Lügenrede zieht den Irregeführten an den Rand eines Abgrunds, und der Schwindel der Angst, der ihn ergreift, macht ihn geneigt, statt des Normalen das Abnorme, statt des Guten das Perverse zu fühlen, zu denken, zu tun.
Die pervertierte Sprache ist unfruchtbar wie die Sexualität des Perversen.
Der Wahrheit als Frucht der normalen Sprache entspricht das Kind als Frucht der normalen Sexualität.
Das Phantasma ist die Scheinfrucht der perversen Sprache.
Die Intelligenz des Bösen zeigt sich in den raffinierten rhetorischen Techniken zur Übersteigerung, der metonymischen Verzweigung und metaphorischen Verdichtung, des Phantasmas.
Die verführende Rede des Mephistopheles überhöht in den Augen des verführten Faust die banale Existenz des Bürgermädchens Gretchen durch die Aura jener mythischen Bilder, in denen Helena erscheint. Helena ist das Phantasma der Margarete in der perversen Rede des Mephistopheles.
Die böse Absicht der perversen Rede des Mephistopheles verwirklicht sich dadurch, daß sie die Rede des Faust mit ihrem Phantasma infiziert, und Faust seinerseits das Phantasma auf Gretchen überträgt, die dafür mit ihrem Untergang büßen muß.
Das Phantasma der perversen Rede eines Hitler oder Goebbels hieß „Ratte, Parasit, Jude“, das Phantasma der perversen Rede eines Lenin oder Stalin „Aristokrat, Bourgeois, Kulak“.
Der schlechte Schüler wird vom Lehrer korrigiert, wenn er einen Satz verpatzt, indem er die Grammatik verletzt oder eine schiefe Metapher verwendet. Die perverse Rede kann auf solche Weise nicht korrigiert oder kritisiert werden, denn der Rhetor der Vernichtung befleißigt sich einer grammatisch untadeligen Ausdrucksweise und einer geradezu raffinierten Hyperbolik des metaphorischen Ausdrucks.
Das böse Mädchen reißt der Puppe den Arm ab, durchsticht ihre Augen mit einer Nadel, zündet ihre Haare an; der böse Junge quält die Katze, indem er sie in eine enge Kiste steckt und in sie heißes Wasser einleitet. Der Frauenmörder verwandelt sich in ein wildes Tier, indem er (wie in der Erzählung „Der Hahnenkamm“ von Friedrich Georg Jünger) die monströse Maske eines Hahns überstülpt und nach Gockelart scharrend und krähend junge Mädchen an dunklen Orten angeht. – Ist es, wie hausbackene Psychologie annimmt, unerfülltes, verletztes, traumatisiertes Liebesverlangen, was die Täter zu ihren Taten motiviert? Doch den übersättigten Leonce in Büchners Lustspiel kitzelt es, aus lauter Überdruß und Langeweile die Sterne wie Luftballons vom Himmel zu schießen.
Die Kreativität des Bösen, wie sie sich in der Erfindung von immer raffinierteren und effizienteren Techniken der Vernichtung zeigt, von den Kreuzigungen der Antike über die Daumeschrauben und Streckmaschinerien des Mittelalters bis zur Verwendung von tödlichen Chemikalien in den Lagern; die schauerliche Phantasie und der Einfallsreichtum in der Erfindung von Foltermethoden wie der Rattenkammer der Bolschewiken oder des tropfenden Wasserhahns der Chinesen.
Wie kreativ aber ist die künstlerische Phantasie eines Dante oder Poe, die immer neue Variationen und Monstrositäten ersinnen, wie das Opfer erniedrigt, gequält, zum Verstummen gebracht werden kann.
Wenn der Hang zur Grausamkeit eine anthropologische Konstante ist, wie seine Kontinuität durch alle Zeitalter unter Beweis stellt, zeugt die moralisch hochgestelzte Sonntagspredigt darüber, daß die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, und wir dem Bösen durch sanfte Pädagogik und radikalen Umbau aller Institutionen endlich den Nährboden entziehen müssen, von begrifflichem Unsinn, der wohl hübsch glänzen mag, aber nur wie blechernes Falschgeld.
Die Möglichkeit, das Unwahre zu behaupten, ist eine strukturelle Fähigkeit der menschlichen Sprache; die Möglichkeit, das Böse zu tun, eine strukturelle Fähigkeit der menschlichen Person.
Man kann die böse und grausame Tat nicht pauschal auf einen Mangel an Empathie von Seiten des Täters zurückführen; die neue Folterwerkzeuge erfinden und anwenden, um ihre Opfer zu quälen, haben ja ihren Qualen vorgefühlt und vorgedacht.
Böse Taten sind vielfach kein Ausfluß mangelnden moralischen Bewußtseins, sondern im Gegenteil Ausdruck einer Hypermoral, wie sie sich etwa im Tugendterror der Revolutionäre von 1789, der RAF oder von 9/11 geäußert hat.
Die böse Tat erklärt sich bisweilen aus dem Trieb, die Leere, die Fremdheit des In-der-Welt-Seins, gewaltsam mit dem Phantasma einer erträumten Nähe zu füllen.
Das Phantasma einer Befriedung der Welt mittels globaler Angleichung und moralischer Überwachung treibt die Unterworfenen der Pax universalis zu Aufständen und neuen Bürgerkriegen und macht aus treuherzigen Pazifisten engstirnige Bellizisten.
Die böse Tat kann auch als wahnhafter Versuch verstanden werden, die uns qua Geburt übermachte oder angewachsene Fremdheit des Daseins durch einen Gewaltstreich oder Coup d’état auszuräumen.
Das erwachsene oder ernüchterte Denken hat das metaphysische Phantasma aufgelöst und aufgegeben, wonach wir durch eigne Anstrengung, kollektive revolutionäre Tat oder auch dank göttlicher Gnade oder der Wiederkunft der Götter, geschweige denn der Ankunft eines messianischen Weltenretters, aus dem düsteren Wald der Entfremdung in die offene Lichtung einer gegen alle Gefahren und Erschütterungen abgesicherten Heimat gelangen könnten.
Sicher, wir können auf Erden „dichterisch wohnen“, wenn wir der Vorstellung das prophetisch-messianische Pathos nehmen; denn dazu genügt es, den Tisch mit Blumen zu schmücken, Freunde zu bewirten und einen guten Tropfen aus dem Keller zu holen oder vor dem Bild der Verstorbenen eine Kerze anzuzünden.
Der Zweck des vegetabilen und animalischen Lebens ist sein Fortleben in der nächsten Generation, belehrt uns der Evolutionsbiologe, und die Organe der Pflanzen und die Verhaltensprogramme der Tiere scheinen der Erfüllung dieses Zwecks untergeordnet zu sein; doch es gibt einen Überfluß in der Schönheit der Blumen und in der Gestaltenfülle der Tiere, die uns über die triviale Zweckerfüllung der Vermehrung hinauszugehen scheinen.
Auch wenn wir annehmen, daß der genetisch verankerte biologische Zweck der Fortpflanzung auch Menschen zukommt, kann er nicht mittels instinktsicherer Ausführung ererbter Verhaltensprogramme erlangt werden: Die Nachteile der frühen Geburt und die Instinktunsicherheit des Menschen erfordern den Schutz und die Erziehung des Kindes in einer nicht nur natürlichen, sondern sozial geprägten Institution, der Familie, die keine Brutstätte, sondern eine Form der Kommunikation zwischen Eltern und Nachkommen darstellt.
Die Erfahrung der Fremdheit und Leere infolge der Geburt fangen elterliche Fürsorge und familiäre Häuslichkeit auf; das Kind entwickelt das Phantasma der Geborgenheit vor allem anhand der mütterlichen Imago, das die Leere ihrer Abwesenheit zu füllen vermag. Doch muß das Kind nach und nach das infantile Phantasma der Fülle aufgeben, wenn es sich den anderen, dem Vater und den Geschwistern, und hernach den Freunden und Schulkameraden, zuwendet.
Erfolgt aufgrund der Pubertät eine Zuwendung zum anderen Geschlecht, ist die Bahn, den engeren Kreis der Familie und der Herkunft zu verlassen, schon eröffnet; der Wunsch, das Eigene zugunsten des Fremden aufzugeben, ist bei männlichen Jugendlichen oft mit einer Abwehr der Werte und Gepflogenheiten des Herkunftsbereichs verbunden, der sich bis zur Ablehnung und trotzigen Verwerfung alles Hergebrachten steigern kann. Hier finden wir den Entstehungsherd eines neuen Phantasmas, das bisweilen die grelle Färbung des Exotischen, Utopischen oder Radikalen annehmen kann. Das pubertäre Phantasma dient dem Zweck, die Leere und Fremdheit einer gleichsam metaphysischen Heimatlosigkeit zu kompensieren. Unschwer erkennbar ist, wie es sich politisch instrumentalisieren läßt.
Das Stigma der menschlichen Geburt ist die Einsamkeit.
Das pubertäre Phantasma aufzugeben verlangt die Reifung zu der Einsicht, daß die Fremdheit des Daseins unaufhebbar ist und die Leere der todgeweihten existentiellen Einsamkeit mit keinem noch so faszinierenden Idealbild gefüllt werden kann.
Not, I’ll not, carrion comfort, Despair, not feast on thee;
Not untwist — slack they may be — these last strands of man
In me ór, most weary, cry I can no more. I can;
Can something, hope, wish day come, not choose not to be.
But ah, but O thou terrible, why wouldst thou rude on me
Thy wring-world right foot rock? lay a lionlimb against me? scan
With darksome devouring eyes my bruisèd bones? and fan,
O in turns of tempest, me heaped there; me frantic to avoid thee and flee?
Why? That my chaff might fly; my grain lie, sheer and clear.
Nay in all that toil, that coil, since (seems) I kissed the rod,
Hand rather, my heart lo! lapped strength, stole joy, would laugh, chéer.
Cheer whom though? the hero whose heaven-handling flung me, fóot tród
Me? or me that fought him? O which one? is it each one? That night, that year
Of now done darkness I wretch lay wrestling with (my God!) my God.
Nicht, ich will nicht, Lust am Aas, Verzweiflung, dich feiern, nein,
will lösen nicht – locker sind sie schon – Fäden, die Gattung spann
in mir, todmüd nicht schreien: Ich kann nicht mehr. Ich kann.
Etwas könne, hoffe, wolle, Tag, o komm, nicht wähle, nicht zu sein.
Doch ach, doch o, du Schrecklicher, warum wälzt du roh den Stein,
den rechten Fuß deiner Wider-Welt auf mich? Preßt mir die Löwenklaue an?
Schickst den geknickten Knochen deiner Hungerblicke finsteren Bann?
Umfächelst nach den Blitzen den Gefällten, mich, so wild darauf, dich los zu sein?
Weshalb? Daß fliege meine Spreu. Mein Korn mir liege rein und klar.
In all dem Wirken, Wirren, seit ich (scheint’s) geküßt die Rute, ja, die sie schwang,
die Hand sogar, sieh, gewann mein Herz an Kraft, stahl Freude, mochte lachen, jubeln gar.
Wem jubeln doch? Dem Helden, dessen Himmels-Hand mich stürzte, der mich niederzwang
mit hartem Huf? Oder der ihm wehrte, mir? O welchem? Beiden gleich? Diese Nacht, dies Jahr
war das dunkle Jetzt, da ich (mein Gott) mit meinem Gott, ich Armer, rang.
Fernwehkrank
Tönt aus dem Moos der Nacht ein Quellen,
mag sich dein Angesicht erhellen,
das schon ins Dunkel sank.
Du siehst im Dämmerried ein Glimmen
von Blüten, die auf Wassern schwimmen,
und seufzest fernwehkrank.
Als läg es unterm Schnee im Garten,
sehnt sich das Herz nach großen Fahrten
in südliches Gefild.
Und mußt du Alpen überwinden,
die Purpurrose willst du finden,
der hohen Liebe Bild.
Das Haar in der Suppe
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die individuelle Handschrift ist nicht nur Ausdruck einer Persönlichkeit, sondern ein Mittel ihrer Bildung und Profilierung.
Was der Egalitarismus auf der politisch-kulturellen Ebene, ist die Uniformierung und Verflachung der Gesten, Mienen und Sprechweisen auf der individuellen.
Der Triumph der Phrase, der Parole, der Schlagzeile und das Verstummen des Dialekts, des Volkslieds und der Individualsprache.
Wer die geläufigen Phrasen nicht widerkäut, wer ins Schweigen oder in die Verweigerung eines rätselhaften Sprechens emigriert, gilt als verdächtig und gefährlich, als Träger eines bösartigen Virus, den man mit der Quarantäne medialer Ausschließung belegen muß.
Die sublime Feinheit und das unnütze Rätsel des dichterischen Ausdrucks sind das Haar in der Suppe des Zeitgeistes, an dem er würgt, das er angewidert ausspuckt.
Selbstverwirklichung ist nun das Ideal der innerlich Hohlen und Perversen, Selbstentfaltung das der tauben Nüsse und faulen Keime.
In dem Urinal, das als Kunstwerk deklariert wurde, hat man zuvor die Rose Schönheit überpinkelt.
Schönheit ist das Ziel einer universalen menschlichen Neigung; sie zeigt sich in der ästhetischen Ordnung des Haushalts, im Dekor der Wohnung, den Mustern von Teppich und Tapete, in den kleinen Ritualen des Alltags und den großen des Feiertags; sie wird fühlbar in der stillen, meditativen Weise, wie das kleine Mädchen das Haar der Puppe kämmt.
In der epidemischen Verbreitung des Lärms, der die Ohren und Herzen massakriert, im grunzenden Wühlen in Schlamm und Morast, der die Fibern und Fühler sublimen Empfindens verklebt, triumphiert der Geschmack von Leuten, die ihre Bildung der Gesamtschule verdanken und ihre Reifeprüfung bei Herrn Lehrer Gleichgesinnt und Frau Lehrerin Wohlgemut absolviert haben.
Der Vers, der Worte wie Perlen an der Kette des leicht schwingenden Rhythmus aufreiht.
Vers, dem zu grünen bestimmt ist, wenn er sich den Mustern hoher Dichtung auch nur wie ein dämmriger Farn in den leuchtenden Rosenstrauß fügt.
Heute bekommt kein Künstler einen Preis, der seine sogenannte Kreativität nicht durch tätliche Angriffe auf den guten Geschmack und jede Form von Dezenz unter Beweis gestellt hat.
Als Meister gilt, wer dem zarten Verlangen nach Verständlichkeit und stiller Anmut des Ausdrucks mit dem Hammer berserkerhafter Schreie und aufrührerischer Flüche den Schädel zertrümmert hat.
Der neue Biedersinn ist die Geschmacklosigkeit, die neue Konformität die Meterware des Nonkonformismus.
Sie lärmen, schreien, kreischen, angeblich, weil es ihnen höhere moralische Mächte befehlen, in Wahrheit, weil sie keine Wahrheit haben, die sich wohlartikuliert, stilsicher und mit gedämpfter Stimme vorbringen ließe.
Kultur des modernen Lebens – wenn sich Häßlichkeit mit dem Stumpfsinn paart.
Der Apfel, die Orange, die Zwetschge, die Ähre – die Feinheit der Ummantelung, der köstliche Teint der Haut, die zarte Befiederung, die Symmetrie der eingeschreinten Fruchtkörner und Samenhülsen – die Schönheit der Früchte, die leuchtende Intensität und farbige Fülle des Lebens, wie sie die großen Stillebenmaler der Klassik und Romantik bis auf Juan Gris und Cézanne erfaßt und ins Bild gebannt haben.
Die gefleckten, bunt gesprenkelten und wohlgeformten Eier der Vögel, der kunstvolle Aufbau und die schillernde Pracht ihres Gefieders, der Zauber und die magische Bannkraft ihrer Schautänze, die aerodynamische Perfektion der Flügel und die Artistik ihres Fluges, schließlich die wundersamen Arien ihres Morgen- und Abendgebets – all dies erfüllt uns mit Wohlgefallen und Freude, läßt unser Antlitz in einem geheimnisvollen Lächeln erstrahlen, während uns der Gang durch ein Museum zeitgenössischer Kunst mit ernster oder säuerlicher Miene trostlos in der Dürre urbaner Wüsteneien zurückläßt.
Die leuchtende Anmut und die in ihr heiliges Dämmern ladende Würde der antiken Tempel mit ihren lebensvollen Göttergestalten und die vernichtende Kälte und hohle Selbstgefälligkeit der Banktürme, in denen dem Gott des Molochs Stadt, dem Kapital, gehuldigt wird.
Der Stumpfsinn verlangt nach immer schärferen Reizen, Stacheln und Schocks, auf daß er sein erstarrtes Haupt ein wenig noch aus dem Sumpf der Langeweile und Indifferenz emporrecke. Daher das Hämmern der Boxen, das Krakeelen der Ghettopoeten, das brutale Flackern und Fletschen der Videobilder.
Ein sinnender Blick auf einen Haufen Kehricht am Straßenrand, geschweige denn die Betrachtung eines Stillebens von Francisco de Zurbarán, ist belebender und erhellender als ein Blick in die Zeitung.
Das Leben der Rose kennt, wie Angelus Silesius sagt, kein Warum. So auch wir, wenn wir uns im freien Rhythmus des Selbstgefühls oder des dichterischen Worts bewegen.
Kritik ist schon Verstrickung, Widerwort Unwortes Echo – nur Verschweigen ist Verwinden.
Wirkmächtiger als das Gegenbild ist das Verblassen der grellen Lichtreklame des eigenen Selbstbildes.
Lied des Lebens, das auf dem äußersten Grat seines Wogens, bevor es ins Dunkel stürzt, Schaumkronen schillern läßt.
Um uns selbst zu wissen impliziert die tragische Gewißheit, sterblich zu sein.
Unser Selbstempfinden und Selbstgefühl ist eine Form der Verdichtung des Lebens und der Ekstase, wie sie uns in elementarer Weise im Schrei des Adlers, im Gesang des Wals, ja im rhythmischen Aufschwung der Qualle begegnet.
Allerdings ist, wie Heidegger betont, die Ekstase des menschlichen Daseins zeitlich strukturiert, während das, was wir animalischem Leben an Selbstgefühl zusprechen, punktuell auf den Augenblick gerichtet bleibt.
Die Tatsache, daß der Hund keine Biographie nach Art seines Herrchens hat, ist eine Folge seiner Unfähigkeit, mittels einer semantisch hinreichend strukturierten Sprache und der grammatischen Temporalformen des Verbs auf vergangene Ereignisse Bezug zu nehmen.
Auf vergangene Ereignisse Bezug zu nehmen erfordert ihre Individuierung anhand des Begriffs, der sie bezeichnet. Der Hund kann sich nicht daran erinnern, daß er vor einer Woche mit Herrchen zum ersten Mal morgens im Stadtwald war, weil er den Begriff „Stadtwald“ und „mein Herrchen“ nicht erfassen und anwenden kann, geschweige denn die Begriffe „Tag“, „Morgen“ oder „Woche“.
Sprachliche Bezugnahme ist Bezugnahme auf die Identität eines Begriffs; wir verstehen, daß „Morgenstern“ und „Abendstern“ „Venus“ bedeuten, wenn wir wissen, daß sie sich auf denselben Begriff beziehen.
Das Eichhörnchen hat sich gemerkt, wo es die Nüsse versteckt hat; aber es verfügt nicht über das Wissen, das uns sagen läßt, daß es sie vor einer Woche im Wurzelgrund der Eiche in unserem Garten vergraben hat. Das animalische Gedächtnis ist eine Verzeichnung von Merkmalen, aber kein Wissen oder Glauben hinsichtlich raumzeitlich identifizierbarer Fakten.
Wir stützen unsere Annahmen über vergangene Ereignisse auf Gründe; wir meinen, unser Freund habe das Konzert vorzeitig verlassen, weil es ihn gelangweilt habe oder weil ihm unwohl war. Wenn er auf Befragen einen dieser Gründe anführt, halten wir unsere Annahme für gerechtfertigt.
Dagegen vermuten wir, daß sich unser Hund von der Leine losriß, weil er die Spur eines Kaninchens aufgenommen hat; die Witterung aber war die Ursache seines Verhaltens.
Die Bedeutung der Konjunktion „weil“ ist zweideutig und äquivok, sie kann einen Satz einleiten, der einen Grund oder eine Ursache angibt; ähnlich wie die Konjunktion „wenn“, die eine zeitliche Bestimmung oder eine logische anzugeben vermag.
„Weil es zu regnen begann, beschlossen wir, zu Hause zu bleiben.“ – Der Regen ist nicht die Ursache unserer Entscheidung, sondern ihr Anlaß. Der Grund für unsere Entscheidung, nicht spazierzugehen, ist unsere Besorgnis, naß zu werden und uns zu erkälten.
Aus dem Satz „Dann und nur dann, wenn sich die Erde um sich selbst dreht, gibt es den Wechsel von Tag und Nacht“ folgt der Satz „Wenn es keinen Wechsel von Tag und Nacht gibt, dreht sich die Erde nicht um sich selbst.“ Dies ist offenkundig kein empirischer Satz, sondern eine logische Folgerung, deren Gründe wir uns bewußt machen, wenn wir sie durch die Anwendung der Regeln für gültige Schlüsse rechtfertigen.
Kaum daß der Freund dir versehentlich auf den Fuß getreten ist, sagt er „Entschuldige!“ – Er könnte seine Äußerung mit der Konvention begründen, die uns Höflichkeit oder ziviler Umgang auf den Leib geschneidert hat. Doch ist seine Äußerung weder eine Art unwillkürlichen Reflexes noch hat er sie aufgrund von reiflicher Überlegung gemacht, die sich durch plausible Gründe rechtfertigen läßt.
Auch Äußerungen, Gesten, Verhaltensweisen, denen keine Überlegung und bewußte Entscheidung vorausgehen, können wohlbegründet sein und post festum durch gute Gründe gerechtfertigt werden.
Sie wirbeln Staub auf und beschweren sich über die schlechte Sicht.
Leiden, meint der Erwählte, ist die Quelle der Einsicht, Freude, der ekstatische Mystiker, die Quelle der Liebe. Beide Quellen können getrübt werden, durch Einlaß von Tranquilizern oder von Halluzinogenen, wie sie die Apotheke und die Unterhaltungsindustrie für uns bereithalten.
Die Kultur erblüht mit der Rose Schönheit im Garten der Musen, sie welkt dahin, wenn der Garten mangels hegender Hände verwildert oder unter den Fußtritten einfallender Barbaren verwüstet wird.
Durch dieselbe Geste, denselben Seufzer, denselben Augenaufschlag fühlt sich der Glückliche erhoben, der Unglückliche vernichtet.
Die Entlarvung großer religiöser Versprechen im Kitsch.
Die ihren Hyperion, ihren Empedokles, ihre Diotima dem Sturmwind (oder war es ein lähmender Scirocco?) auf den „Tausend Plateaus“ von Paris aussetzten, auf daß ihre Syntax wie Weidenbüsche zerriß und ihre Semantik wie trübe Tropfen von den Sprossen der Rhizome rann, sind heute kaum noch als Staubkörner in der zurückgebliebenen Wüste erkennbar.
Alle wissen um das Haar in der Suppe, alle warten darauf, daß einer es erwischt und angewidert das Gesicht verzieht.
Der Alte steigt die Treppe hoch
Gezwitscher über Morgenauen,
und Birken sprühen Silber, Erlen,
sie winken sich wie junge Frauen,
von Tau beglänzt, von Perlen.
Und auf der Treppe hörst du Stöhnen,
der kranke Alte klimmt empor,
er klammert sich an das Geländer,
tief hängt der Kopf ihm auf die Brust.
Nun gehen durch die Binsen Schauer,
und Wasser schimmern zwischen Schatten,
ein Hauch aus Eden färbt sie blauer,
die Blutorange rollt auf die Matten.
Der Alte zieht den Einkaufswagen
die Stufen hoch in dumpfem Takt,
befüllt mit REWE-Schnellgerichten,
hält hustend inne, keucht und keucht.
Jetzt knüpfen ihre Liebeszeichen
die Falter an die Knospenschließen,
und Fühler sind, die träumend streichen,
und Kelche, Licht zu gießen.
Fahl knistert unter morschen Rippen
erloschner Sonnen Aschenglut,
der Greis erreicht die öde Schwelle,
wo keiner Blüte Tau ihm perlt.
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir können mittels empirischer Daten nur vergangene Sachverhalte bestätigen; Voraussagen dagegen sind Wechsel auf die Zukunft, die durch die eingetretenen Sachverhalte entweder gegen bare Münze eingetauscht oder durch nicht oder anders eingetretene Sachverhalte zur Makulatur entwertet werden.
„Ich werde kommen“ ist keine Voraussage eines zukünftigen Verhaltens, sondern eine Zusage oder Absichtserklärung, deren Einlösung lobenswert, deren Verabsäumung tadelnswert ist; dagegen ist das Eintreffen oder Nichteintreffen eines vorausgesagten Ereignisses weder lobenswert noch tadelnswert, mag es auch bejubelt oder beklagt werden.
Der Fanatiker ist eine emblematische Figur krisenhafter Übergangszeitent, er kann vom äußersten Rand bis in die mediale und politische Mitte vordringen, wie es Mussolini, Hitler, Lenin und Mao taten.
Der Fanatismus ist in dem Maße beängstigend und bedrohlich, wie er Ausdruck extremer Angst und des Gefühls der äußersten Bedrohung ist. Das destruktive Moment korrespondiert dem paranoiden.
Der Skeptiker scheint, wie es der selbst vom Fanatiker zum Skeptiker geläuterte Cioran bezeugt, gegen Anfälle von Phrenesie und weltanschaulich bedingter Paranoia gefeit zu sein; so wird er, mißtrauisch gegen jedwede Form von Weltuntergangsbeschwörung, den Demonstrationszug der johlenden Weltenretterjugend mit süffisantem Lächeln vom Balkon aus betrachten.
Die sich absoluter Gewißheiten rühmen, geraten leicht ins Zetern, Keifen, Brüllen.
Zuerst verschweigt man peinliche Dinge vor den anderen, schließlich vor sich selbst.
Klänge, die nicht ins eigene Tonsystem passen, erheitern oder befremden; nur wenige locken sie zu neuen musischen Abenteuern.
Zeigen ist auf gestischer Ebene, was Benennen auf verbaler Ebene ist.
Zeigen ist wie Benennen eine absichtsvolle Handlung.
Auf etwas anderes zu zeigen, als uns im Sinne lag, ist ein Versehen; Sache und Begriff zu verwechseln, ein Irrtum.
Die Zeigegeste ist keine motorische Willkürbewegung, die wir nachträglich in der Absicht, etwas zeigend im Umfeld zu diskriminieren, mit Sinn aufladen; die Benennung ist keine willkürliche Lautgebung, die wir nachträglich mit der Bedeutung des Gemeinten aufladen.
Wir können nicht in dem Sinne, in dem wir auf unseren Freund Peter auf der anderen Straßenseite zeigen, auf uns selbst zeigen. Wir können nicht in dem Sinne und auf die Weise, wie wir von Peter sprechen, über uns selbst sprechen.
Die Äußerung „Dort ist Peter“ kann nicht mittels einfacher grammatischer Umformung in die Äußerung „Hier bin ich“ umgewandelt werden.
Die Äußerung „Dort ist Peter“ setzt ein grammatisch-semantisches Koordinatensystem voraus, bei dem die Äußerung „Hier bin ich“ auf den Nullpunkt verweist.
Frage ich Freund Peter auf seinem Weg zum Zahnarzt, ob er Zahnschmerzen habe, antwortet er: „Ja!“ Er mußte dazu keine Form der Introspektion oder Sichtung seiner bewußten Erlebnisinhalte vornehmen. Weiß er so sicher und gewiß um sein Befinden, weil ihm der Schmerz wie man sagt auf den Leib gerückt ist? Doch läßt der Schmerz allmählich nach, wird er dessen nicht weniger deutlich inne.
Wenn ich mich mit Peter zu einem Spaziergang verabrede, teilen wir dieselbe Absicht; unsere Absichten, gemeinsam frische Luft zu schnappen, laufen nicht wie zwei Schatten synchron und parallel neben uns her.
Peter kann freilich mit der Absicht, sich mit mir zu einem Spaziergang zu treffen, die weitere Absicht verfolgen, mich während unserer Plauderei um ein kleines Darlehen zu bitten. Die Absichten sind gleichsam verschweißt, wird die eine durchkreuzt, weil ich ihm das Darlehen verweigere, stößt auch die andere ins Leere.
Peter kann sich nicht über die eigne Absicht verwundern, nur darüber, daß ich ihr ohne große Umstände nachkomme oder sie ohne Angabe von Gründen zurückweise.
Freilich können wir uns über unsere eigenen Befindlichkeiten verwundern, so über eine unerklärliche Heiterkeit oder Gelassenheit trotz einer tristen oder aussichtslosen Lage.
Der Verehrer hegte die Absicht, seine Angebetete durch das kostspielige Geschenk eines Brillantringes zu erfreuen; doch wurde seine Absicht vereitelt, sie reagierte unwillig und wurde ungehalten. Hier liegt seitens des überschwenglichen Verehrers kein Irrtum vor, sondern ein Mangel an Intuition, eine Art Instinktlosigkeit.
Dem Verehrer oder dem Liebhaber liegt im Sinn, daß die Geliebte seine Absicht erkennt und honoriert; er will, daß sie will, was er will. – Etwas hochgestochen können wir von der Dialektik der Liebe sprechen.
Das sexuelle Begehren findet auch in der Anonymität, auch in der Einsamkeit seine Erfüllung, wenn es nicht erwidert wird.
Der übereifrige Verehrer kann seine vorschnelle Handlung bereuen, auch wenn ein Mangel an Intuition, eine gewisse Instinktlosigkeit, sie ihm eingebrockt hat; der Exhibitionist kann sich seiner Entblößung schämen, auch wenn ein perverser Antrieb sie ihm aufgenötigt hat. Der leidenschaftliche Liebhaber kann hoffen, daß ihm die Angebetete seinen überhasteten Vorstoß nachsieht; der Exhibitionist kann daran verzweifeln, daß er seine perversen Antriebe einmal unter seine Kontrolle bringen wird. – Diese Formen des Könnens, Reue und Scham, Hoffnung und Verzweiflung, sind spezifisch human.
Der Hund kann sich darin irren, daß die vor ihm geflüchtete Katze sich noch unter dem Laub des Baumes versteckt. Er kann eines Besseren belehrt werden, wenn sie plötzlich hinter ihm faucht. – Aber der Hund kann nicht einsehen, daß die Annahme, die Katze sitze auf dem Baum, falsch ist, weil sie durch die Tatsache, daß sie hinter ihm faucht, falsifiziert wird: Vielleicht könnte, meint der Hund Baudrillards, die Katze, die so gehässig hinter seinem Rücken faucht, ein Doppelgänger oder ein Simulacrum der Katze sein, die immer noch versteckt im Baum sitzt und ihr Double ausgesandt hat, um ihn zum Narren zu halten.
Der Hund ist aufgebracht, wenn die Katze plötzlich hinter seinem Rücken faucht, aber nicht beschämt, weil er sich an der Nase herumgeführt fühlt.
Das Eichhorn kann sich daran erinnern, wo es die Nüsse versteckt hat; aber es kann sich nicht daran erinnern, daß es sie kurz nach dem Tod seines Geschwisters versteckt hat.
Wir gedenken, wenn wir in der Schublade kramen und auf das Amulett mit ihrem Bildnis stoßen, des Todes unserer Mutter.
Mit der Familie tauchen wir in die Sippe ein, mit der Sippe in die kulturellen Traditionen und Eigenheiten einer sprachlichen, landsmannschaftlichen, bäuerlichen, handwerklichen, urbanen, kultisch-religiösen Gemeinschaft; auf dem Hintergrund dieser ineinandergeschachtelten Herkünfte und Bezüge schreiben wir ein Leben lang an unserer Autobiographie.
Der Pfau spreizt sein prächtiges Rad. Tut er dies in der Absicht, die Henne zu beeindrucken? Und zeigt die Henne seiner Absicht die kalte Schulter, wenn sie weiter gleichmütig vor sich hin pickt?
Der Vordermann blinkt und wir entnehmen dem Signal die Absicht des Fahrers, in die nächste Seitenstraße einzubiegen; freilich kann es sich um ein Versehen handeln, und er fährt weiter.
Wir entnehmen dem Gebaren des Gastes, er hat schon ein paarmal gegähnt und rückt jetzt seinen Stuhl, die Absicht, nach Hause zu gehen. Doch eine Mitteilung seiner Absicht, uns zu verlassen, läge nur in ihrer verbalen Ankündigung.
Das Blinken mit dem Zeiger folgt einer Regel (einer Vorschrift der Straßenverkehrsordnung); die beschädigte Stelle des Mosaiks ergänzen wir anhand der Muster des vorhandenen Materials; doch die Lücke im Autographen Mozarts oder Goethes läßt sich nicht aus dem vorhandenen Material ableiten. Dies weist auf ein Merkmal schöpferischer Leistung.
Wir können wissen, was andere fühlen und denken: Sie zeigen es mit ihrer Mimik, ihren Gesten, ihren Worten.
Das Innenleben der anderen ist kein Verlies, in dem ein mysteriöser Geist oder das Gespenst einer unfaßbaren Seele haust.
Wir wissen, wie es ist, nachts durch ein zwielichtiges Stadtviertel zu gehen, nämlich ungemütlich, bedrohlich, unheimlich. Zu insinuieren, daß es unmöglich ist zu wissen, wie es für Peter oder Marianne ist, durch dieses Viertel zu gehen, zeugt von Begriffsstutzigkeit, doch daraus folgern zu wollen, daß es unmöglich ist, überhaupt zu wissen, wie es ist, Peter oder Marianne, geschweige denn eine Fledermaus zu sein, von begrifflicher Konfusion.
Peter kann wohl sagen: „Ich fühle mich heute echt daneben!“ Doch kann ich nicht sagen: „Ich möchte mal wissen, wie es ist, Peter zu sein – nur für einen Tag!“
Könnte ich, auf welch vertrackte Weise immer, in Erfahrung bringen, wie es ist, Peter zu sein, wäre ich ja Peter, und könnte also nicht wissen, wie es ist, er zu sein. – Dies gilt naturgemäß für alle mehr oder weniger sensorisch begabten Wesen, und für exotische wie Fledermäuse a fortiori.
Wenn Peter schon errötet, wenn nur der Name Marianne fällt, wissen wir, was mit ihm los ist, wir vermuten nicht nur, daß es ihn gepackt hat.
Nur KI-Besessenheit und Hollywoodkitsch konnten „Philosophen“ zu der Frage verleiten, ob wir alle Gehirne an den Drähten eines dämonischen Spaßmachers sind.
Wenn wir erfahren wollen, was und wie andere empfinden, fühlen, denken, nun, so fragen wir sie danach oder lesen die Gedichte von Goethe, Trakl oder Rilke.
Wir wohnen keinem Schauspiel bei und das Leben ist kein Theater; der erstochene Polonius erhebt sich flugs hinter dem Vorhang, schleicht von der Bühne und geht in die Kantine, während der von einer Kugel getroffene Soldat nicht mehr aufsteht.
Man kann nicht die Rolle einer Mutter spielen, sondern nur eine Mutter sein. – Freilich, das kleine Mädchen spielt mit der Puppe Mama und Baby, doch kann es dies nur vor dem faktischen Hintergrund seiner biologischen Fähigkeit, selbst einmal Mutter zu werden.
Sehe ich diesen Baum, sehe ich nicht mein Sehen des Baumes oder daß ich ihn sehe; es sind meinen Empfindungen und Wahrnehmungen keine reflexiven Spurenelemente beigemischt, und wenn keine reflexiven, so auch keine nichtreflexiven. Wenn ich mich allerdings frage, ob der Baum eine Tanne oder Fichte ist, reflektiere ich, könnte man etwas gestelzt sagen, über das, was ich gesehen habe.
Ich bezweifle nicht, daß ich den Baum sehe; aber nicht deshalb, weil meine sensorischen Wahrnehmungen unbezweifelbare Gewißheiten darstellen, sondern weil ich Sehen nicht mit Hören, Riechen oder Sicherinnern verwechsele.
Ich kann nicht so tun, als erscheine mir der Baum als visuelles Bild in einem nach außen abgeriegelten solipsistischen oder phänomenologischen Theater; denn sage ich „Er ist eine Fichte“, redet mir gleich mein Freund drein und belehrt mich darüber, daß er eine Tanne ist.
Wir können die Realität oder die Feststellungen über bestehende und nicht bestehende Sachverhalte nicht, wie Husserl meinte, aus dem „phänomenologischen Bewußtsein“ ausklammern und dennoch zu einem klaren Begriff von Wissen oder Bedeutung gelangen.
Was ich sehe, ist kein neuronal generiertes Bild des Baumes; ich sehe den Baum, nicht sein Bild. Bilder von Bäumen sehe ich nur auf Gemälden oder Fotos.
Ein Bild als ein Bild erkennen und wahrnehmen ist wie eines zu malen eine spezifisch menschliche Fähigkeit.
Aber es könnte sich um die Halluzination eines Baumes handeln! Doch hat der Begriff einer Wahrnehmungstäuschung, einer Illusion oder Halluzination nur Sinn, wenn ich auch über den Begriff des realen Baumes verfüge, wie der Begriff des Traumes nur Sinn hat, wenn er im Wachbewußtsein gebraucht wird.
Wir können nicht sagen, was wir empfinden und wahrnehmen, habe stets den Aspekt der unmittelbaren Gewißheit und Zweifelsfreiheit; es ist sinnlos, von Gewißheit zu reden, wo aller Zweifel ausgeschlossen ist. Gewißheit über eine Sache zu haben impliziert die Möglichkeit, ihrer auch ungewiß zu sein.
Der Begriff des Wissens setzt den Gegenbegriff möglichen Nichtwissens voraus; ein absolutes Wissen kann es, pace Hegel, nicht geben.
Wer weiß, daß 2 + 2 = 4, weiß es doch mit absoluter Gewißheit! Aber vielleicht weiß er nicht, daß
2 + √4 = 4.
„Der Kuchen schmeckt mir ausgezeichnet!“ – Bisweilen garantiert die Wahrhaftigkeit des Sprechers die Wahrheit seiner Äußerung. Dies gilt nicht für Äußerungen, die auf unseren intellektuellen Fähigkeiten beruhen: „Ich weiß (oder ich erinnere mich genau daran), daß wir dort waren.“
Wir müssen, was wir fühlen, denken, beabsichtigen, nicht in dem Sinne begründen, wie wir Gründe für unsere Meinung über das anführen, was andere fühlen, denken, beabsichtigen. Doch müssen wir die Begriffe dessen, was wir fühlen, denken, beabsichtigen, im gleichen (und nicht bloß analogen) Sinne auf uns selbst wie auf andere anzuwenden lernen.
Wir sehen die Absicht des Vordermannes, nach rechts abzubiegen, wenn er den Blinker gesetzt hat (und dann tatsächlich abbiegt), weil wir dies auf gleiche Weise tun würden. Wir können nach Gründen fragen, die ihn zu seinem Tun bewogen haben (in dieser Richtung liegt sein Wohnort); wenn wir selbst abbiegen, fragen wir nicht nach Gründen (rechts geht es nach Hause).
Der Simulant, der sich leidend stellt, um seiner Pflicht nicht nachzukommen, mag uns täuschen, ja sich selber etwas vormachen; aber die Simulation kann uns kein begriffliches Modell für das psychologische Verstehen überhaupt an die Hand geben, als wäre das manifeste Gebaren die äußere Hülle eines verborgenen Inneren, zu dessen geheimen Motiven und latenten Inhalten wir uns mühsam mittels hermeneutischer Deutungstechniken (wie in der Traumdeutung Freuds) vorarbeiten müßten.
Hinter den Tränen des Trauernden suchen wir nicht nach verborgenen Motiven, sondern sehen sie schlicht als Zeichen der Trauer an.
Es gibt allerdings eine reiche Mannigfaltigkeit von Weisen, in denen wir uns voreinander gleichsam verbergen und uns gewollt oder ungewollt ein Rätsel bleiben. Wir verheimlichen unlautere Absichten, ambivalente und gehässige Gefühle oder peinliche Dinge, aber auch etwas, womit wir den Freund überraschen wollen; der Scharlatan, der Intrigant, der Denunziant gehen in der Maske der Unschuld und Ehrbarkeit einher, während sie ihre Fallstricke auslegen. Bisweilen wissen wir nicht, was den anderen umtreibt, weil er es selbst nicht genau weiß; der Unentschiedene, Zerrissene, Neurotische läßt uns mit unseren Zweifeln und Befürchtungen allein; die treue Desdemona wird das Opfer des Eifersuchtswahns Othellos; die treulose Helena bezaubert am Ende den Hahnrei Menelaos.
Wehmut wandelte durch Lauben
Auch in Träumen hast du wahr empfunden,
Herz, bist auch ergraut du schon,
Efeu hat sich um das Lied gewunden,
fahl umflammt von welkem Mohn.
Und die Wehmut wandelte durch Lauben,
hold von mondnem Tau geküßt,
wie sie dunkel gurrten, Turteltauben,
Lied, es floh ins Herzgenist.
Hände waren, die sich bang verschränkten,
Blick, der sich im Blick verfing,
Tränen, die ein schwaches Glänzen senkten,
das im Wortgestrüpp zerging.
Deiner Lider Monde wurden blasser,
und ich schöpfte aus dem Lauf
dir der Quelle klar ertöntes Wasser,
und du schlugst die Augen auf.
Nachtgang zum Maar
Dort hüllten uns die Schatten und was klang
wie Rieseln kühlen Wassers zwischen Gräsern
und Zwitschern aus den Zweigen, windgewiegt,
kam aus dem Quell des Traums, dem Herzgenist.
Damit im Dämmerwald wie Kindern uns
nicht bange ward, hast du vom süßen Brot
die Krümel ausgestreut, und Vögel kamen
um zu picken, ach, ihr trautes Rascheln
und ihr warmes Flattern gab uns Halt.
So gingen wir zum Ufer, wo das Schilf
der runden Bucht im Morgenwind gezittert,
er kam von Süden schon, sein Hauch war lau,
und Schaumgekräusel wogte auf dem Maar
wie zarte Spitzen, die er blind geklöppelt
und wieder löste, wenn er höher klomm
und Federn klaubte aus den Wolkenkissen.
Wer warst du denn, die Blüte aufzuheben,
die rötlich schimmerte am Ufersaum,
vielleicht Hibiskus, vielleicht Oleander,
wer war ich denn, sie dir ins Haar zu flechten,
worin noch perlend troff der nächtige Tau.
Daß wir es waren, die den Kahn bestiegen,
der geisterhaft im Röhricht hat geschwankt,
und trieben ruderlos auf einem Abgrund
eingeschreinten Feuers, und du schmiegtest
an meine Wange deine Wange. Glocken-
klänge, die vom andern Ufer wehten,
als riefen mütterlich sie uns zurück,
o innig angeschlagne fromme Bronzen.
Daß wir die Rufe hörten, wir sie hörten!
O grüne Nacht
O grüne Nacht der Jugendzeit. O Rinnen
von lichten Wasserkugeln über Locken,
die sich mänadentrunken ausgeschüttelt,
da lau in Binsen blies der Sommerwind.
Und Stimmen, Stimmen, liebesschwanker Nester,
gewiegt von Wellen, weichumflaumtes Lied,
o Wirbel, purpurn, in durchsummter Luft,
und auf den Wasserrosenblättern gingen
in seidnen Schnabelschuhen bunten Lichts
die Boten Edens, nackt und kußumwölkt.
Und Lippen waren, feuchte Siegel, rot
geflammt von gnadenfroher Psalmenlohe,
die süß durch Gras und Strauch geknistert
ein Lächeln über dunkle Wogen sprühte.
Wie ist all dies herabgesunken, bröckelt
wie welker Putz von Vorkriegsziegelmauern
im tristen asphaltierten Hinterhof,
wenn wankend wir am Fenster stehen, weiß
das Haar und grau das Herz, der schwarze Samt
der Nacht befleckt vom Grünspan eines toten
Steins. Und was da aus den Winkeln steigt,
aus dem Morast des abgetanen Lebens,
ist es das bange Fiepen einer Maus,
um die sich schon die kalte Tatze schmiegt?
Ist es der Wehruf der Erinnerung,
die einer Glucke gleich, die ihre Küken
um sich schart, und fühlt den Schatten schon,
den tödlichen, bevor er niederstürzt?
Begriffliche Klärungen II – Prüfen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die sittliche Norm kann sich auf natürliche Tatsachen stützen, aber wird durch diese nicht gerechtfertigt; wie sich die Zügelung des Eros durch die familiäre Liebe und die monogame Ehe auf die natürliche Tatsache stützen kann, daß nur ein Mann und eine Frau Kinder zeugen können, doch ist die eheliche Gemeinschaft eine kulturelle Einrichtung, keine natürliche Tatsache.
Wer in geselliger Runde oder in intimem Tête-à-Tête munter und unbefangen erzählt, tut dies ungezwungen und beiläufig; keinem seiner Worte geht ein bewußter Willensakt oder eine rationale Entscheidung voraus, und dennoch beugt er sich mit jedem Wort und jedem Satz unter das sanfte Joch syntaktischer Wohlgeformtheit, grammatischer Korrektheit und semantischer Deutlichkeit der natürlichen Sprache, sofern er der Höflichkeit, die dies ihm abverlangt, durch seine Geistesgegenwart und sprachliche Begabung nachzukommen vermag.
Die menschliche Sprache ist eine hybride Entität aus natürlicher Tatsache und kultureller Institution.
Ein grammatischer Fehler darf gerügt, eine Schwäche des verbalen Ausdrucks oder ein schiefes metaphorisches Bild können nur bemängelt oder bedauert werden.
Der Ausruf „Halt, es ist Rot!“ hat die natürliche Fähigkeit der Farbwahrnehmung und die kulturelle Konvention der Signalgebung zur Grundlage (wenn letztere sich auch wiederum auf die natürliche Assoziation der Farbe Rot mit der Ahnung oder Wahrnehmung einer Gefahr stützen mag).
Die Begriffsfelder, die unser Dasein als natürliche Wesen und unser Dasein als sprachlich-kulturelle Wesen umfassen, sind nicht deckungsgleich, sondern überschneiden sich, aber nicht im Sinne eines simplen Natur-Umwelt-Dualismus.
Wir sprechen von natürlicher Anmut und schreiben sie bevorzugt Haltungen, Gangarten, Gesten des weiblichen Geschlechts in der Zeit der Mädchenblüte zu. Gewiß ist der üppige Haarbusch, der im Rhythmus ihres tänzerischen Schrittes wippt, ein mütterliches Erbteil; doch die schelmisch-verführerische Art, wie die Kindfrau die Wimpern niederschlägt und die vollen Lippen schürzt, hat sie der gekünstelten Mimik ihres angebeteten Starlets abgeschaut.
Das biologische Schicksal irrt durch das Labyrinth des sozialen Lebens. – Der geistig minderbemittelte Dorftrottel schlich an den Häuserfronten entlang, verdingte sich bei den Bauern als Knecht beim Einfahren der Ernte oder beim Holzhacken; meine Großmutter reichte ihm durch das Fenster der Wohnstube ab und an eine Schmalzstulle; natürlich hatte er kein Mädchen, keine Kinder, nicht einmal einen Hund, aber manchmal saß er abends auf der Bank unter der großen Linde vor der Kirche und spielte auf der Mundharmonika. Und waren seine Melodien auch abgehackt und kunstlos, es ging doch eine Art schmerzlichen oder wehmütigen Zaubers von ihnen aus.
Nur Mozart hatte dieses mozartisch-überfeinerte Ohr, das sowohl die silbern perlenden Tropfen am Bug des Schiffs in der neapolitanischen Nacht vernahm als auch das Glucksen und Schluchzen der Schicksalswogen in der Nacht der eigenen Seele.
Die Tränen der Kleinen, deren Puppe sich ein Bein brach, künden uns von der verletzlichen Welt der menschlichen Seele; die Tränen Vergils, sunt lacrimae rerum, von der Tiefe dichterischen Empfindens.
Der Hund ist betrübt, wenn sein Herrchen ihn verläßt; aber nur Menschen trauern um den Verlust ihrer Liebsten, nur Menschen errichten auf den Fundamenten eines natürlichen Gefühls die kulturellen Mahnmale des Totengedenkens.
Auch wenn sein Herz schon heimlich für das Idol einer neuen Leidenschaft brannte, der Witwer trug nach lange die schwarze Binde am Ärmel.
Der Bahnbedienstete prüft unter Vorgabe einer amtlichen Liste über die zulässigen Werte die Angaben auf dem Wagenzettel.
Der Laie überprüft die Gültigkeit des Schemas eines Schlusses oder einer Formel, indem er probeweise die Variablen durch Argumente und spezifische Daten ersetzt, der Fachmann, indem er sie aus anerkannten Axiomen ableitet.
Die Mannigfaltigkeit von Prüfverfahren: die Elastizität und Tragfähigkeit einer Schnur durch Dehnen und Belasten prüfen; den Zustand der Räumlichkeiten in Augenschein nehmen; die Identität des Täters mittels Gegenüberstellung, anhand von Indizien, aufgrund eines DNA-Abgleichs in der Datenbank ermitteln; die Zuschreibung eines Manuskripts aufgrund eines Vergleichs mit anerkannten Autographen bestimmen; den vorlauten Schüler einer geharnischten Prüfung seiner Grammatikkenntnisse im Lateinischen unterziehen; den Agenten, den Kameraden, den Freund hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit, Loyalität und Treue auf Herz und Nieren prüfen.
Das nüchterne Geschäft des Philosophen oder desjenigen, der in seine Fußstapfen tritt: Begriffe auf ihre Anwendbarkeit, Aussagekraft, Kohärenz und Konsistenz prüfen.
Aus der Tatsache, daß wir den Begriff einer Seele nicht auf physische Entitäten anwenden oder mittels Gehirnscan verorten können, zu folgern, er sei ein Scheinbegriff ist ebenso verfehlt und töricht, wie aus der Unsichtbarkeit dessen, was wir eine Fähigkeit oder Disposition nennen, wie die Fähigkeit, Gleichungen zu lösen, oder die Disposition, auf visuelle oder auditive Signale sachgemäß zu reagieren, auf ihre Irrealität und Scheinexistenz zu schließen.
Die Adäquatheit der Anwendung eines Begriffs zu prüfen erfordert seine Einordnung in ein Begriffsfeld, dessen einfachstes Modell aus dem Begriff und seinem Gegenbegriff besteht.
So scheinen wir mit dem Begriff der Lust und seinem Gegenbegriff Unlust ein einfaches Modell zur Interpretation tierischen und menschlichen Verhaltens in Händen zu halten; so glaubten es jedenfalls antike Denker wie Epikur, Platon und Aristoteles und neuzeitliche wie die englischen und französischen Empiristen und Aufklärer, aber auch Freud und seine Schüler.
Doch bei näherer Betrachtung zerfällt der Begriff der Lust in eine Mannigfaltigkeit von Begriffsschattierungen und Bedeutungen, die wir nicht mehr in ein polar aufgespanntes Begriffsfeld einordnen können: Menschen kennen jedenfalls, um nur diese Varianten zu nennen, das sinnliche Vergnügen aufgrund der Befriedigung eines physischen Mangels als auch das ästhetische Vergnügen bei der Betrachtung eines Kunstwerks oder beim Hören von Musik.
Das sinnliche Behagen und ästhetische Vergnügen des Gourmets an den verlockenden Gerichten der Haute Cuisine und dem sublimen Geschmack des Rheingauer Weines ist keine bloße Variation und Modifikation des schmatzenden Behagens, mit dem sich ein ausgehungerter und durstiger Mensch über eine Schmalzstulle und ein Glas Wasser hermacht.
Wir gehen nicht ins Konzert, um einen ästhetischen Mangel zu beheben, wie wir ins Restaurant gehen, um unseren Appetit zu stillen.
Wir haben einen guten Grund, ins Konzert zu gehen, wenn wir uns die Interpretation der Klaviersonate durch den vielgepriesenen neuen Virtuosen zu Gemüte bringen wollen; doch ein solcher Grund ist nicht mit dem triebhaften Verlangen des Säuglings nach der Mutterbrust zu vergleichen.
Weil normative Begriffe wie die Verpflichtung, das Versprechen, die Verantwortung oder die Loyalität ein autonomes Begriffsfeld aufspannen, kann das sogenannte Lustprinzip kein allgemeiner Begriff sein, unter den sich alle Formen und Varianten menschlichen Verhaltens als Arten und Unterarten subsumieren ließen.
Wer dem sinnlichen Behagen nicht widerstehen konnte, das ihm das weiche Kissen und die wärmende Decke spendeten, war schlicht zu faul, sich aus den Federn zu erheben, um seiner Verpflichtung und Verantwortung als Lehrer, Krankenschwester oder Busfahrer nachzukommen, und wird von uns zurecht getadelt.
Wären Lust, Vergnügen und sinnliches Glück, ja Glück überhaupt und sans phrase, dasjenige, was Menschen zu ihrem alleinigen Zweck und Ideal erheben sollten (wie es in der Tat die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die amerikanische Verfassung vorsehen), fänden wir allerdings Erfüllung in jenem amoralischen Utopia des letzten Menschen, dessen Gehirn vom Rest des Körpers befreit in einer klinischen Nährlösung für eine technisch eroberte Unsterblichkeit aufbewahrt und von einer raffinierten künstlichen Intelligenz mit allen erdenklichen Reizen stimuliert wird, denen halluzinatorische Bilder, Klänge und Düfte von paradiesischer Schönheit unmittelbare Erfüllung und Entspannung gewähren.
Freude unterscheiden wir von Lust, insofern ihr ein Moment überwundener Mühe oder Angst, gleichsam ein Sieg über die Schwerkraft, innewohnt.
Die Perversion ist nicht das bloße Übermaß sinnlicher Genüsse, sondern ihre Ablenkung von fruchtbaren Zielen durch die mehr oder weniger starke Beimischung des Sterilen, Destruktiven und Bösartigen. So ist die Schadenfreude die Perversion der echten uneigennützigen. Fetischismus, Voyeurismus und Exhibitionismus sind Scheinbefriedigungen am Surrogat und imaginären Objekt, Masochismus und Sadismus Formen der Entpersönlichung und Entstellung im Schmerz, den man sich selbst oder anderen zufügt.
Die philosophische Betrachtung der Perversionen führt uns wie überhaupt die Psychopathologie zur Vertiefung, Differenzierung und Erweiterung des Begriffsfelds, in dessen Zentrum der Begriff einer Person steht.
Pervers können wir (und dies ist im hohen Grade bemerkenswert) sowohl mit den biblischen Autoren als auch mit Sigmund Freud das vom letzten Ziel der Fruchtbarkeit abgelenkte Begehren nennen; freilich ist Perversion kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff, er orientiert sich daher nicht am Regulativ der natürlichen Neigung zwischen Mann und Frau, sondern an den kulturellen Rollen von Vater und Mutter, auch wenn diese nur auf dem Hintergrund der natürlichen Funktionen von Zeugung und Geburt definiert werden können.
Bekanntlich heißt Vater zu sein mehr als gezeugt zu haben; väterliche Autorität in liebender Fürsorge und weiser Vorsorge auszuüben geht über die natürliche Mitgift väterlicher Zuneigung hinaus.
Das Erbrecht ist die Bahnung zur Hochkultur.
Geschichte beginnt, wenn der Sohn über dem Grab des Vaters ein Mal errichtet.
Idealistische und religiös inspirierte Denker von Platon und Augustinus bis zu Descartes und Kant stützten die Idee der Unsterblichkeit der Seele auf den Begriff ihrer Unteilbarkeit; was wie Materie geteilt werden kann, falle der Auflösung und Vernichtung anheim, die Seele aber, als bestünde sie aus einer ätherischen Substanz, sei unteilbar. Farb- und Klangeindrücke, die uns ständig geschehen, sind freilich nicht in einem irgend plausiblen Sinne teilbar, sie vergehen, verlöschen, verklingen. Der Begriff der Teilbarkeit und Unteilbarkeit ist auf das, was wir Seele nennen, nicht anwendbar. Folglich gibt uns das Argument ihrer Unteilbarkeit keinen Grund, ihre Unzerstörbarkeit und Unsterblichkeit anzunehmen.
Der Satz des Pythagoras, der Modus ponens und die Gültigkeit der binomischen Formeln können nicht anhand empirischer Belege überprüft, bestätigt oder widerlegt werden.
Wissenschaft ist die Aufstellung von Hypothesen zur Erklärung und Voraussage von Sachverhalten; sie können anhand empirischer Belege überprüft, bestätigt oder widerlegt werden.
Menschen sind keine Verbindungen von Seele und Leib, Körper und Geist, sondern Personen, denen wir seelische, geistige und körperliche Zustände zuschreiben.
Personen sind raumzeitlich lokalisierbar, nicht aber ihre seelischen und geistigen Zustände, auch wenn wir ihre neuronalen Korrelate lokalisieren können.
Der Begriff einer Person gehört verschiedenen, sich überschneidenden Begriffsfeldern an wie denen des Rechts, der Psychologie oder Kriminologie. Ihre Einheit resultiert aus der Möglichkeit, Personen anhand spezifischer Kriterien zu identifizieren wie der von ihnen durchlaufenen Raum-Zeit-Kurve, ihrer DNA oder der Eindrücke, die sie bei anderen Personen hinterließen, wenn diese auch nur den Wert von Hypothesen haben und problematisch bleiben.
Wir haben, ernüchtert durch das Geschäft begrifflicher Klärungen, keine ewigen metaphysischen Wahrheiten oder grandiosen Ausblicke auf eine geläuterte Menschheit zu verkünden, keine Gewißheiten zu bestätigen, keine Ideologien zu vertreten. Der Geschichtsphilosoph marxistischer oder hegelianischer Provenienz ist uns fremder als ein sibirischer Schamane, der Diskursethiker und Moralphilosoph kantianischer Prägung fremder als ein antiker Gnostiker, der postmoderne Ekstatiker nietzscheanischen Zuschnitts fremder als ein Dionysospriester des Altertums.
Begriffsjongleure sind keine Denker, sondern käufliche Artisten auf dem lärmenden Markt der gängigen Meinungen.
Man wittert die Absicht und wendet sich ab von dem süßlichen Geruch des Menschelns und Scharwenzelns, um das Freie zu suchen. Bläst dort auch der kalte Wind der Einsamkeit, er bringt uns doch die unentbehrliche Frische und Kühle geistiger Klarheit.
Die verschollene Knospe
Wenn Wasser schimmern unter Weidenranken
von einem Mond, der schon verrinnt,
will unser Schmerz auf trunknen Wellen schwanken
mit Knospen sacht im Abendwind.
Es schwirren noch im Röhricht heiße Stimmen,
ein Kuckuck ruft sein „Komm zurück!“,
die Knospe mag ins süße Dunkel schwimmen,
verschließen ihren Sehnsuchtsblick.
Und kommt die Nacht mit sanft erhellter Stille,
kann Venus selbst nicht mehr verstehn,
daß ihr im Traum die bleiche Träne quille.
Das Herz vergaß, weshalb, um wen.
Magst rosenfingrig nach ihr tasten wollen
im Laubwerk, Eos, um den See,
die Knospe hoher Dichtung ist verschollen,
Schmerz taute auf den Blütenschnee.
Was ins Leere pocht
Da ist die Decke, dich zu hüllen,
das Kissen für das müde Haupt,
sind Rosen, wo noch Tropfen quillen,
bist selbst verdorrt du auch, entlaubt.
Die Tauben sind nicht mehr gekommen,
die oft, was du gestreut, gepickt,
des Herbstes Farben sind verglommen,
Schnee hat die Glut der Frucht erstickt.
Wie Schatten geisterhaft aufwehen,
tropft einer Kerze Honigdocht,
und hörst du dumpfe Schritte gehen,
dein Herz ist, was ins Leere pocht.
Gedachtest du der Jugendtage,
da dir umsungen hat den Kiel
die Woge lichter Liebessage,
wie schmerzlich-süß war das Gefühl.
Nun ist in hoher Nacht erschienen
Gestirn, das dich ins Schweigen weist,
der Flamme glaubtest du zu dienen,
kalt ist der Geist, ist schon vereist.
Die beiden
Er barg in seiner Hände weiße Schale
das Angesicht, das knospengleich
so trocken ward und welk und wüst vom Strahle,
und war einmal im Lächeln weich.
Sanft hat herab die Hände sie gebogen
wie Zweige, und wo Laub noch war,
ist helles Flattern hin- und hergeflogen,
der Küsse kleine Vogelschar.
Und streckte er ins Gras die müden Glieder,
den hohlen Bienenkorb, das schwanke Haupt,
das Summen, nein, das süße kommt nicht wieder,
die Waben, sie sind ausgeraubt.
Sie hat, als wär es Staub von Schmetterlingen,
ihr Mal gehaucht auf seine Stirn,
und schlief er schon, er hörte sie noch singen,
wie Wasser schluchzt, taut auf der Firn.
Begriffliche Klärungen I
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Zuerst kommt die Beobachtung der Tag- und Nachtfolge, der Bestimmung des Monats anhand der Mondphasen, des Jahres anhand der Jahreszeiten und des Wechsels in den Tagesdauern; der reinen Beobachtung folgt die immer verfeinerte Zeitmessung anhand von technischen Erfindungen und Meßgeräten von der Sonnenuhr und Sanduhr über die feinmechanische Uhr bis zur Atomuhr.
Vom Begriffsfeld der Chronometrie unterscheiden wir dasjenige, in dem sich unser Umgang mit Zeit niederschlägt: Zeit und keine Zeit haben, sich sputen, die Zeit vertrödeln, die Zeit einteilen, Zeit schinden, Tagebuch führen, Jahresberichte und Annalen anlegen, nach dem Terminkalender leben, von Termin zu Termin hetzen, der Muße pflegen, sich langweilen.
Vom Chronos und Kairos der Griechen bis zur Subjektivierung der Zeit als inneres Erlebnis beu Augustinus, als reine Form der Anschauung, der Zeit als innerer Sinn bei Kant, des Zeitbewußtseins bei Husserl und gleichsam wieder zurück zum Chronos und Kairos im Seinsereignis bei Heidegger.
Die Subjektivierung der Zeit als Ablesung gleichsam einer inneren Uhr folgt der trügerischen Fährte der Modellierung des menschlichen Geistes anhand epochaler Techniken: vom Modell des Uhrwerks über das Modell der telefonischen Schaltzentrale bis zum Computermodell.
Das Begriffsfeld, in das wir die historische Zeit einteilen, beruht auf den Begriffen, die uns die Arten der Zeiterfassung und die Chronologie bereitstellen, aber seine Bedeutung ist davon unabhängig.
Die Vereinheitlichung der Weltzeit ist ein Niederschlag des Siegs der europäischen Kultur und der westlichen Technik über den Rest der Welt. – Sie könnte mit dem Zerfall der westlichen Zivilisation selbst zerfallen, und die lokalen und regionalen Chronologien, wie wir sie bei Juden und Arabern finden, könnten wieder zur Geltung kommen.
Uns betört der schluchzende Gesang der Nachtigall, und seine süßen Töne hallen wider in der Dichtung des Abendlands. – Der Evolutionsbiologe erklärt uns, daß ästhetische Qualitäten oder das, was wir schön nennen, der Steigerung von männlicher Attraktivität bei der sexuellen Selektion und Partnerwahl durch die Weibchen dienen, also der Optimierung der genetischen Fitness. – Gut und schön. Aber Keats schrieb sein Gedicht an die Nachtigall nicht, um welche Frau auch immer von seiner genetischen Fitness zu überzeugen.
Den Dichter fasziniert der Gesang der Vögel gerade deshalb, weil er in ihm eine Form der absichtslosen Mitteilung und des rational nicht gebundenen Ausdrucks findet.
Die Funktion erklärt nicht die Bedeutung.
Die Funktion der Verehrung von Gottheiten und des Charismas des Heiligen, erklären uns die Aufklärer von Epikur und Lukrez bis zu Feuerbach und Freud, ist psychologisch die Bannung der Todesangst und soziologisch die Stabilisierung der Gruppenidentität. – Aber Johannes vom Kreuz reißt den Frommen in die Nacht der Seele und der heilige Franz führt seine Schar aus den schützenden Mauern der Civitas unter den freien Himmel barfüßiger Pilgerschaft.
Philosophieren besteht nicht in der Ausbildung von Theorien.
Theorien sind Hypothesen über das Zustandekommen und Funktionieren eines bestehenden Sachverhalts und die Suche nach empirischen Belegen für ihre prognostische Aussagekraft. – Die physikalische Theorie erklärt die bekannten Eigenschaften von Wasser mit der Annahme, daß es aus Molekülen mit zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom besteht. Die Theorie erklärt die Tatsache, daß Wasser unter 0 Grad Celsius gefriert, mit der Annahme, daß sich unter diesen Bedingungen die Atome des Wassers kristallförmig anordnen.
Der Ökonom erklärt die Veränderungen des Preises einer Ware auf dem freien Markt der Konsumgüter im Lichte der Annahme, daß Marktteilnehmer Konsumenten und damit bedarfsorientierte Wesen sind, die beispielsweise im Winter einen höheren Bedarf an Mänteln, Schals und Handschuhen oder Heizmitteln haben als im Sommer; bei gleichbleibendem Angebot steigen aufgrund gestiegener Nachfrage die Preise. Der Preisanstieg veranlaßt wiederum die Produzenten und Lieferanten von Mänteln, Schals und Handschuhen oder Heizmitteln, mehr Güter dieser Art auf den Markt zu werfen; aufgrund des gestiegenen Angebots aber fallen die Preise und stabilisieren sich auf einem mittleren Niveau.
Der Philosoph hat dem Physiker oder dem Ökonomen und anderen Vertretern wissenschaftlicher Theorien nicht dreinzureden und ins Handwerk zu pfuschen.
Wenn ihm allerdings der Evolutionspsychologe mit der Theorie kommt, das Schönheitsempfinden sei eine evolutionäre Zutat bei der sexuellen Selektion oder die Monogamie sei eine evolutionäre Strategie, die Menschen einem polygamen Verhalten deshalb vorziehen, weil sie bessere Aufzuchtbedingungen für den Nachwuchs bietet, weist er ihn rechtens in die Schranken, indem er auf begriffliche Konfusionen in seiner Theoriebildung hinweist: Denn die Bedeutung der Dinge, die wir als schön oder ästhetisch wertvoll erachten, läßt sich nicht auf ihre sexuelle Funktion reduzieren, und Monogamie ist kein Begriff einer natürlichen Tatsache, sondern einer sittlichen und rechtlichen Norm.
Der Philosoph bedarf zu seinem Geschäft der begrifflichen Klärung keiner empirisch-wissenschaftlichen Theorie, er vertraut auf die genaue Beobachtung und kritische Beleuchtung des Sprachgebrauchs und der Analyse begrifflicher Felder, ihrer Kongruenzen und Differenzen..
„Philosophische Theorie“ – schon steigt der rhetorische Nebel aus den Sümpfen in Fäulnis übergegangener Begriffe.
„Philosophen“ erklären uns, was wir Ich, Selbst, Bewußtsein und Selbstbewußtsein nennen, sei eine von neuronalen Prozessen verursachte Illusion und hausgemachte Selbsttäuschung. Aber wenn wir sagen „Ich verspreche dir, das geliehene Geld am Ende des Monats wieder auszuhändigen“, unterliegen wir keiner Illusion und Selbsttäuschung; es sei denn, wir täuschen uns über die Aufrichtigkeit unserer Intention oder wir täuschen den anderen, wenn wir von Anfang an die unlautere Absicht hegen, unsere Zusage zu brechen.
Von Täuschung und Illusion können wir nur im Rahmen eines Begriffsfeldes sprechen, in dem auch die korrespondierenden Begriffe wahrer Einsicht und korrekter Darstellung ihren konzeptuellen Ort und ihre systematische Stelle haben.
Wir sehen, der visuelle Cortex sieht nichts; seine neuronale Aktivität ist die conditio sine qua non, daß wir etwas sehen.
Der Philosoph, der eine Theorie über das Bewußtsein oder den menschlichen Geist entwirft und den Geist als Bewohner des Körpers (oder Kopfes) oder als Epiphänomen der Hirnaktivität beschreibt, verkennt die wesentlichen begrifflichen Unterschiede: Ich sage „Ich habe Kopfweh“ oder „Mein Kopf tut weh“, nicht aber: „Hier ist ein Kopf, der Schmerzen hat.“
Bios und Ethos, biologische und moralische Begriffe bilden Begriffskreise, die sich schneiden, aber nicht deckungsgleich sind.
Wäre die vaterrechtlich verfaßte Monogamie eine uns eingepflanzte natürliche Neigung, warum fühlte sich Augustus berufen, der Zersetzung der Ehe in den besseren Kreisen seiner Zeit mittels verschärfter Ehegesetze Einhalt zu gebieten, warum finden wir Völker, die ihre Verwandtschaftslinien nicht patrilinear ausrichten?
Wenn uns natürliche Scheu vor der Blutschande abhält, ist die Theorie über den Ödipuskomplex inkonsistent.
Das Gebot „Wachset und mehret euch!“ ist kein biologischer, sondern ein messianischer Auftrag an Abrahams kleine Schar, es galt dem Wachstum des einen Stammes, auf daß er das edle Reis, die einzigartige Blüte hervorbringe.
„Philosophen“ wie Habermas vermischen auf unzulässige, aber seriös anmutende Weise pseudowissenschaftlichen Jargon mit politisch-moralisch korrekten Bekenntnissen. Daher das trügerisch Schillernde ihrer Diktion, die sich von wissenschaftlichen Theorien wie denen der Soziologie unverdiente Lorbeeren abgreift und sie mit dem Weihrauch pseudoreligiöser Verkündigungen und Prophetien auf eine von den Lastern des Kapitalismus und den zweckrationalen Diskursen des Bourgeois zur Endlos-Talk-Show befreite Menschheit umwölkt. Daher auch ihr ungeheurer Erfolg bei der leichtgläubigen Menge.
Schon immer haben Philosophen, den Theologen darin nicht unähnlich, dem Alltagsleben, den Technikern, den Naturkundlern oder Historikern auf unlautere Weise Methoden und Konzepte entwendet und sie begriffsblind auf Felder übertragen, wo sie nicht anwendbar sind und versagen müssen; man denke nur an den Seelenwagen Platons, die Atomtheorie mentaler Vorgänge wie des Sehens bei Epikur und Lukrez, die zwischen Geist und Körper korrespondierende Drüse des Descartes, das monadologische Uhrwerk bei Leibniz, den sich in historischen Persönlichkeiten wie Cäsar oder Napoleon verkörpernden und sich in übergesetzlichen und übermoralischen Staatsaktionen austobenden Weltgeist eines Hegel, den Élan vital eines Bergson, die Kausaltheorie der Wahrnehmung bei Russell, die pseudowissenschaftliche Metaphysik eines Whitehead, die Computertheorie des Geistes der Funktionalisten, das egoistische Gen, die Biomaschine und die Meme eines Dawkins oder die Identität von Geist und Gehirn der Neurophilosophen.
Ich schreibe meinem Freund eine Mail in der Absicht, ihn zu einem Treffen einzuladen; die Aktivitäten der Neuronen in meinem Gehirn, die diesen Vorgang als eine conditio sine qua non begleiten, sind nicht die Ursache meiner Absicht; sie wäre sonst keine Absicht, sondern eine kausale Folge dieser Aktivitäten.
Absichten sind keine mehr oder weniger wahrscheinlichen Voraussagen über zukünftiges Handeln.
Wäre mein Geist mein Gehirn, müßte ich, nachdem ich die Mail geschrieben habe, mir die offenkundig absurde Frage stellen können, ob ich mit ihrer Abfassung die Absicht verfolgt habe, meinen Freund einzuladen.
Begriffe wie Absicht, Wunsch, Erwartung, Erinnerung, Hoffnung oder Enttäuschung sind keine wissenschaftlichen Begriffe, keine theoretischen Terme.
Wäre mein Geist mein Gehirn, hätten alle Worte, die ich äußere, die Bedeutung der Laute, die ein Papagei nachplappert, nämlich keine.
Die Behauptung, Kunstwerke seien zumindest all jene Werke, die einer Ausstellung in einer Galerie oder einem Museum für wert befunden worden sind, ist ebenso töricht wie jene, zur geistigen Elite zählten zumindest all jene Personen, die eines akademischen Titels für würdig befunden worden sind; doch daß viele von diesen bei ihrer Examensarbeit oder ihrer Dissertation bloß zeitgeistigen Jargon abgesondert, gepfuscht oder abgeschrieben haben, ist längst kein Geheimnis mehr.
Das Gedächtnis ist keine mentale Galerie von Erinnerungsbildern und kein Archiv von Dokumenten über vergangene Ereignisse; es ist die Fähigkeit, einmal Erfahrenes, Gelerntes, Gewußtes zu vergegenwärtigen.
Erinnerung ist nicht die kausale, neuronal markierte Folge vergangener Ereignisse, sonst wäre der Schmerz in meinem Fuß, den ich mir vor Tagen bei einem Unfall gebrochen habe, eine Erinnerung an den Unfall.
Fake-Philosophen fragen, um zu erklären, was wir mit „Erinnerung“ meinen, nach dem Ort des Gedächtnisses im Gehirn. Aber Fähigkeiten und Dispositionen haben keinen Ort; Hirnregionen wie das Kleinhirn und die frontalen und temporalen Lappen sind die conditio sine qua non für unsere Fähigkeit, uns zu erinnern, wie der motorische Kortex und die Beine für unsere Fähigkeit, zu gehen und zu rennen.
Nicht: „Mein visueller Cortex sah“, nicht: „Meine Augen sahen“, sondern: „Ich sah.“
Die Zutaten der Suppe, die wir ein Leben lang auszulöffeln haben, entstammen der Hexenküche der Biologie, wie die Tatsache, daß wir Männer oder Frauen, intelligent oder begriffsstutzig, feinfühlig oder stumpfsinnig, draufgängerisch oder ängstlich, introvertiert oder extrovertiert sind. Ist auch der Grad der Fähigkeit, moralisch zu handeln, uns in die Wiege gelegt?
Wir können nur sagen, daß Normen, die sich in Gesetzen, Vorschriften, Regeln oder Direktiven manifestieren, nicht zum Begriffsfeld erklärender Hypothesen und statistischer Wahrscheinlichkeiten gehören. Die Hypothese über mangelnde oder ausreichende Begabung erklärt das Versagen des einen und den Erfolg des anderen Schülers. Der begriffsstutzige Schüler vermag die Gleichung nicht zu lösen, Tadel ist in seinem Falle nicht nur zwecklos, sondern unangebracht; der intelligente, der es könnte, ist zu faul oder renitent und kann aus diesem Grund getadelt werden.
In der Welt der Maschinen, ob zweckdienlicher Roboter oder administrativer Staatsmaschinen, gibt es keine Moral.
Die Fähigkeit, eine moralisch angemessene oder unangemessene Entscheidung zu treffen, sprechen wir der einzelnen Person, keinem Kollektiv und keinem Apparat zu.
Moralisch wertvolle Taten können durchaus spontan sein; der aufmerksame Passant, der das Kind, kurz bevor es in das heranrasende Auto gerannt wäre, auf den Bürgersteig zurückriß, ließ seiner Tat keine zeitraubenden moralphilosophischen Überlegungen vorangehen, er hat nicht aufgrund wohlweislicher Erwägung eine Entscheidung getroffen, er hat gar keine Entscheidung getroffen und spontan oder instinktiv gehandelt. Auch was wir spontan oder instinktiv tun, kann sich a posteriori als moralisch richtig erweisen. Wir können nicht jede moralische Tat zuvor auf ihre Konsistenz mit dem moralischen Imperativ eines Immanuel Kant prüfen.
Wäre der aufmerksame Passant ein Mafioso und erkennte in dem gefährdeten Kind den Sprößling des Chefs der mit der seinen auf Leben und Tod verfeindeten Bande, des Anführers, der kürzlich seinen jüngeren Bruder auf heimtückische und bestialische Weise ermordet hat – wir scheuen uns, das Entsetzliche zu notieren. – Daraus aber folgt, daß selbst der Anteil unseres moralischen Empfindens, der sich in spontanen Handlungen kundtut, nicht tief im menschlichen Geist oder ungleich tief in verschiedenen Individuen verwurzelt ist.
Dem vom grauen Star Heimgesuchten legt sich ein Schleier über die Farben des Lebens. Der vom trüben Geist des baudelaireschen Ennui Heimgesuchte hat den lebendigen Bezug zu ihnen verloren, und habe er auch auf die Inseln der Seligen und in das üppige Prangen der tropischen Paradiese gefunden.
Wir können uns im Farbwert des Gesehenen täuschen, aber nicht darin, daß wir etwas sehen.
Zu sagen, alles, was wir sehen, ist eine Illusion, denn die wahre Realität, die aus Atomen und Quanten besteht, sehen wir nicht, ist in etwa so töricht, wie zu sagen, wir könnten nie wissen, was ein anderer mit dem meint, was er sagt, weil die Bedeutung, die er den Worten gibt, von derjenigen, die wir ihnen geben in einem Maße abweichen kann, das uns für immer verschlossen bleibt.
Wir töricht, der Paradoxie in der Behauptung nicht inne zu werden, unser mentales Leben sei das notwendige Produkt einer unhintergehbaren Selbsttäuschung.
Ich habe keinen Grund für die Äußerung zu vermelden, daß ich Schmerz empfinde; dagegen kann ich den einen oder anderen Grund nennen, warum ich von einem anderen sage, offensichtlich habe er Schmerzen oder er simuliere nur Schmerzgebaren.
Ich vermag echte von Krokodilstränen zu unterscheiden; aber nicht, weil die ersten unmittelbar aus der Innenwelt des anderen rinnen, während die zweiten sie verbergen. – Die falschen Tränen sind nicht weniger aussagekräftig als die echten.
Wir wissen nicht oder verkennen, was andere im Schilde führen, die ihre Absichten und Regungen geschickt vor uns verheimlichen. – Aber ein falsches Lächeln, ein Versprecher, eine schiefe Geste können ihre geheimen Absichten schlagartig zutage fördern.
Der Heiratsschwindler bedient das gleiche Repertoire an Gesten der Zuwendung in erniedrigender Absicht, das den Liebhaber in den Augen der Angebeteten zu erhöhen vermag.
Der Physiker kann voraussagen, wie sich die Eigenschaften und Aggregatzustände von Wasser unter modifizierten Bedingungen verändern; doch die statistischen Annahmen des Ökonomen lassen keine Voraussage über das Verhalten der einzelnen Marktteilnehmer zu; der eine kauft bei einbrechender Winterkälte Handschuhe, Schal und Mantel, der andere verkriecht sich hinter den Ofen.
Die Äußerungen und das Gebaren anderer sind uns oft unzugänglich und rätselhaft, doch nicht, weil die mentalen Zustände ihres Geistes im Gegensatz zu unseren eigenen uns nie zu unmittelbarer Kenntnis gelangen, sondern weil sie etwa selbst nicht wissen, was sie meinen und was sie wollen, weil sie sich über ihre Absichten im unklaren sind oder sich über ihre Gefühle und Antriebe täuschen.
Der Unsichere vollführt schlackernde, fahrige, zweideutige Bewegungen.
Wäre der Hund in der Lage, eine Autobiographie zu schreiben, sein Herrchen würde sich darin nicht wiedererkennen.
Tiere leben nicht in der Zeit des Menschen; der Hund könnte sich nicht sagen: „Hoffentlich kommt Herrchen morgen nicht wieder so spät nach Hause!“
Den Toten ein Zeichen zu setzen, ein Mal zu errichten, markiert den Anfang der menschlichen Kultur.
Das Mißtrauen sieht die klaren Farben des Lebens durch einen dunstigen Schleier.
Der Empfindliche hört noch einen verächtlichen Ton im leicht hingeworfenen „Lebe wohl!“.
Der Paranoide schmeckt im Kuß das Gift.
Der Wirrwarr und die Unaufgeräumtheit der menschlichen Seele, von denen die alten Theologen meinten, sie entstammten der Ursünde, geben uns den Stoff und die Motive sowohl der Komödien als auch der Tragödien, die in unseren Wohn- und Schlafzimmern stattfinden.
Im Laub der Dämmerung
Das Lied, das dunklem Grund entquollen
und hat geglänzt im Morgenrauch,
im Laub der Dämmerung verschollen
ist uns sein Licht, sein Laut, sein Hauch.
Die Blüten, die an Zweigen sprossen,
die sich dem grünen Strom geneigt,
ein Raub des Winds sind sie geflossen
in Fernen, wo die Muse schweigt.
Die Freunde, die am Feuer sangen
und küßten sich mit feuchtem Blick,
ins Südlicht sind sie fortgegangen,
als Schatten kehren sie zurück.
Dir, Liebe, ist im Schlaf geronnen
die Träne vom entrückten Lid,
und war er dunkel auch, der Bronnen,
sie hat im fahlen Mond geglüht.
Laß uns mit den Flüssen eilen
Laß uns mit den Flüssen eilen
bis zum offnen Ozean,
laß im blauen Glanz uns weilen,
Tropfen auf dem Enzian.
Liegt das Veilchen auf der Schwelle,
hast es du mir ja gepflückt,
ich gab dir die Mirabelle,
daß ihr Leuchten dich entzückt.
Laß uns mit den Nebeln steigen
ins azurne Mittagsblau,
laß im Abendrot uns schweigen,
träumend rinnen mit dem Tau.
Mußte auch das Veilchen blassen
und die Wange ward dir bleich,
süße Glut hat uns gelassen
Fleisch der Frucht, von Sonnen weich.
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wie ein Nasenstüber sei, was uns weckt und zu denken anregt.
Opposition und Widerspruchsgeist stabilisieren die Zustände.
Der Opponent ähnelt nach und nach dem, wogegen er anrennt.
Der Fromme gleicht mehr und mehr dem Unhold, den er bekämpft, in Grund und Boden predigt, mit Weihrauch zu ersticken sucht, vor dem er das Kreuz schlägt.
Ah, die Schlingen des Begriffs abwerfen, Subjekt und Objekt, Wesen und Erscheinung; doch selbst darin noch, im Abwerfen und Loswerden, welches Würgen, welches Röcheln.
„Der Schein trügt: Auch wenn er ein korrektes Deutsch spricht, von Haus aus ist er Engländer, und seine Muttersprache ist das Englische.“ Hier geht alles mit rechten Dingen zu, und was wir auf solche und ähnliche Art äußern, ist sinnvoll, wenn auch trivial.
Dagegen: „Du bist wohl ein Mensch, aber in Wahrheit bist du eine von einem genetischen Programm aufgebaute und von neuronalen Prozessen gesteuerte biologische Maschine.“ – Auf diese Weise können nur Philosophen die Sprache mißbrauchen.
Der Säugling schreit, sein Schreien, sagen wir, ist ein unmittelbarer und unwillkürlicher Ausdruck seiner Befindlichkeit, von Hunger, Durst, Unbehagen, Angst. – Die Mutter eilt herbei, um ihn zu stillen, zu säubern, zu wiegen, zu beruhigen. Dieser Vorgang wiederholt sich. Schließlich sind wir geneigt zu sagen: Der Säugling schreit nach seiner Mutter, er schreit, damit seine Mutter zu ihm komme.
Aber diese Deutung geht fehl, solange das Schreien des Säuglings das Verhalten der Mutter unwillkürlich und nicht durch eine willkürliche Signalisierung auslöst.
Wenn unsere Verlautbarungen und Sprechakte das Verhalten anderer willkürlich oder willentlich aufgrund ihrer zweckdienlichen Ausrichtung und Formung auslösen, treten wir in den semantisch-logischen Raum des sprachlichen Handelns, in dem gilt: Wir hätten auch schweigen können.
Wir können voraussagen, daß der Säugling, bedrängt vom Gefühl des Mangels, schreien wird; wir können nicht voraussagen, ob der Angeklagte vor Gericht reden oder schweigen wird.
Wenn der Angeklagte die Absicht hegt, vor Gericht zu schweigen, macht er keine Voraussage über den Eintritt eines mentalen Zustandes, der ihm die Rede verunmöglicht; denn nicht sprechen können heißt nicht schweigen.
Das Wörterbuch kann als Instrument der Verständigung, aber auch als Repräsentation des Sprachschatzes zweier natürlicher Sprachen betrachtet werden.
Die topographische Karte kann als Instrument und Mittel der Orientierung, aber auch als projektive Abbildung einer bestimmten geographischen Fläche betrachtet werden.
Das Gedicht kann als Mittel betrachtet und benutzt werden, den Hörer oder Leser in einen bestimmten mentalen Zustand, eine seelische Gestimmtheit, zu versetzen; aber unabhängig von jeder konkreten kommunikativen Situation betrachtet ist es ein Gewebe von mehr oder weniger ungewöhnlichen Wörtern und Wendungen, die in einen eigentümlichen Rhythmus eingebettet sind, der sich von Vers zu Vers und Strophe zu Strophe wiederholt.
„Ich bin hier“ ist die Grundaussage sprachlicher Pragmatik.
„Ich bin hier“ – töricht zu fragen, ob sich der Sprecher nicht vielleicht irre, sinnlos, Zeugen für das Gesagte ausfindig machen zu wollen.
„Ich war dort“ ist die Grundaussage sowohl des autobiographischen Berichts wie der erzählenden Prosa.
„Ich war dort“ – hier können wir, wenn es sich um einen autobiographischen Bericht handelt, nach den zeitlichen und räumlichen Koordinaten fragen, aber auch nach Zeugen, die eine solche deskriptive Aussage bestätigen oder nicht bestätigen.
„Auch ich war in Arkadien“ – hier erfassen wir den imaginären Charakter mythischer Raum-Zeit-Koordinaten und zugleich den fiktiven Charakter der Sprecherposition des Gedichts. Töricht, nachprüfen zu wollen, ob der Sprecher wirklich dort gewesen ist, wo niemand gewesen sein kann.
Wir können aus den Beschreibungen im sechsten Buch der Äneis eine Karte der mythischen Jenseitslandschaft mit ihren Wegen und Flüssen, Sümpfen, Hainen und Inseln der Seligen mit denselben Darstellungsmitteln entwerfen, die wir für die Erstellung einer topographischen Karte Irlands verwenden. Der Unterschied liegt in der Art ihrer Verwendung: Die Karte der mythischen Unterwelt dient uns zur Orientierung bei der Lektüre Vergils, die Karte Irlands der Orientierung bei unserer Wanderung von Dublin nach Connemara.
Ich glaubte, gestern auf der anderen Straßenseite Peter zu erkennen; doch wie sich herausstellte, war es sein Zwillingsbruder Paul. Dagegen ist es unsinnig sich vorzustellen, Odysseus sei bei den Phäaken nicht Nausikaa, sondern ihrer Zwillingsschwester begegnet.
Dem Astronomen hilft sein Wissen über den Mond keinen Deut, um Goethes Gedicht „An den Mond“ zu verstehen.
Der Physiologe, der den neuronalen Hintergrund der Bewegungen unserer Sprechwerkzeuge untersucht, und der Physiker, der die von ihnen hervorgebrachten Luftschwingungen und Klangfrequenzen analysiert, helfen uns keinen Deut bei der Erhellung unserer Fähigkeit, die Bedeutung des Verlautbarten zu verstehen.
Die Erklärung der Bedeutung von Aussagen durch ihre psychologische Funktion ist nicht falsch, sondern unsinnig und verfehlt.
Die Erklärung der Bedeutung eines Gedichts durch seine psychologische Funktion, etwa eine Stimmung, ein Gefühl, eine visuelle Vorstellung hervorzurufen, ist nicht falsch, sondern verfehlt.
Wäre sie falsch, könnte man an den Psychologen die unsinnige Erwartung richten, eine bessere Erklärung zu finden.
Das Auge ist ein Teil der Welt, die es sieht.
Was Augen sehen, das Ding, die Landschaft, das Bild, ist weder im Auge noch im Kopf. Es ist gleichsam nirgendwo.
Wo ist, was Ohren hören, der Klang, das Wort, der Satz? Nicht in den Schwingungen der Luft, nicht in den Schwingungen des Trommelfells, nicht im Feuern der Neuronen.
Wir bewohnen das Haus, aber nicht unseren Körper.
Nur kleine Kinder glauben, sie werden unsichtbar, wenn sie die Augen schließen.
Wir können nicht sagen, wir hören den Klang und das Wort, wir verstehen den Satz, ohne daß ein anderer sagen könnte, er hört den Klang und das Wort und versteht den Satz.
Wir können die Tatsache, daß es regnet, nicht verstehen, ohne den behauptenden Satz, daß es regnet, bilden zu können. Freilich, wir können die Hand zum Fenster hinausstrecken und Regentropfen auf ihr empfinden. Doch die Empfindung der Nässe auf der Hand ist nicht die Feststellung der Tatsache, daß es regnet.
Freilich gelangen wir ohne die Empfindung der Nässe oder die Wahrnehmung der fallenden Regentropfen nicht zur Feststellung der Tatsache, daß es regnet.
Tatsachen existieren nicht ohne das Korrelat der Sätze, die ihre Existenz aussagen. Freilich, ihre Bestandteile wie Regentropfen existieren unabhängig davon, ob wir sagen, daß es regnet.
Der Zusammenhang von Empfindung und Wahrnehmung mit der Bildung von Sätzen, die einen bestehenden oder nicht bestehenden Sachverhalt ausdrücken, ist nicht kausal – also nicht naturwissenschaftlich mittels kausaler Erklärung ableitbar.
Wir hören Tropfen rieseln und denken, daß es regnet; aber der Nachbar im ersten Stock gießt seine Blumen auf dem Balkon.
Wir stellen bedauernd fest, der Freund sei trotz seiner Zusage nicht zu unserer Verabredung gekommen. Was nicht eingetreten ist und nicht existiert, die Tatsache, daß der Freund nicht erschienen ist, kann keinen kausalen Einfluß auf das ausüben, was wir sagen.
Wären wir nichts als durch genetische Codes aufgebaute und von neuronalen Prozessen gesteuerte biologische Maschinen, müßte nicht nur die sprachliche Kompetenz überhaupt, sondern die aktuelle Bildung und Äußerung von Sätzen mit rein naturwissenschaftlichen Methoden erklärt werden können. Aber der Satz „Wir können die Bildung und das Verstehen von sprachlichen Bedeutungen mit naturwissenschaftlichen Methoden kausal erklären“ kann mittels einer naturwissenschaftlichen Methode nicht kausal erklärt werden. Daraus folgt, daß wir keine rein biologischen Maschinen sind.
Wir können Sätze bilden, die Sachverhalte, die nicht bestehen, als bestehend behaupten; solche Sätze sind entweder falsch oder weder wahr noch falsch, sondern Bestandteile von fiktionalen Texten wie Märchen und Fabeln, in denen Tiere sprechen, wie Mythen, in denen Götter mit Menschenfrauen Halbgötter zeugen, wie Legenden, in denen Tote lebendig werden, oder wie Gedichte, in denen Quellen klagen und Blumen seufzen.
Die Annahme, die Muse habe Homer inspiriert, ist keine erklärende Hypothese für die in der Ilias verwendeten Sätze, die weder wahr noch falsch sind, weil sie dem Bereich mythischer Rede angehören. In welchem Labor, mit welchem Experiment sollte sie erhärtet oder widerlegt werden?
Um zu verstehen, was ein Sprecher meint, wenn er sagt: „Vorsicht, Stufe“, müssen wir die Äußerung als Warnung interpretieren; wenn er sagt „Die Sonne scheint“, je nach Kontext als Einladung zu einem Spaziergang oder als Feststellung einer Tatsache auf dem Hintergrund beispielsweise jener Tatsache, daß es soeben noch geregnet hat.
Doch der begriffliche Rückgang auf die Sprecherintention ist kein Universalschlüssel für jede Art sprachlichen Verstehens. Mag der Freund, der uns darüber aufklärt, daß dieser Baum keine Fichte ist, wie von uns angenommen, sondern eine Tanne, die Absicht haben, uns zu belehren, wir verstehen, was er meint, auch ohne Rückgriff auf die Sprecherintention.
„Jeder Mensch ist ein Künstler.“ – „Das An sich wird zum Für sich.“ – „Alle Menschen werden Brüder.“ – „Die Zahl 1 ist definierbar als die Menge aller Mengen, die nur ein Element enthalten.“ – „Der sinnvolle Satz ist ein Bild eines möglichen Sachverhalts.“ Wir können die Falschheit oder Sinnlosigkeit von Sätzen verstehen, ohne die Intention dessen zu kennen, der sie äußert.
Das expressive und das appellative Moment unserer Verlautbarungen (das nach der Mutter schreiende Kind) haben wir mit den Tieren gemein.
Anzunehmen und zu versuchen, Natur, Geschichte und Kultur mittels einer universalen Methode zu Leibe zu rücken und zu erklären, führt zu einem Mißbrauch der Sprache, mag er auch die Errichtung eines grandiosen Kartenhauses inspirieren wie bei Hegel; ein Hauch von philosophischer Sprachkritik, und es fällt in sich zusammen.
Mag die Vermehrung und Ausbreitung von Pflanzen und Tieren mittels darwinscher Prinzipien der Fitnessoptimierung hinreichend erklärbar sein, die Tatsache, daß gewisse Menschengruppen auf dem Höhepunkt der Vorsorge und Lebenssicherung durch Wohlstand und Technik ihre Fortpflanzungsbereitschaft mehr und mehr einschränken, entzieht sich diesem Typ naturwissenschaftlicher Erklärung.
Es ist absurd und zeugt von begrifflicher Konfusion anzunehmen, daß die Entdeckung des zyklischen Umlaufs der Erde und der Planeten um das Zentralgestirn der Sonne, die kopernikanische Wende, einen kausalen oder internen Zusammenhang mit unseren Lebensfragen habe; denn ob nun die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne kreist, Fragen wie die nach dem, was wir für gut, richtig und schön oder für das Gegenteil ansehen, werden davon nicht berührt.
Nicht die Sprache überhaupt, sondern die Fähigkeit, bestehende und nicht bestehende Sachverhalte oder ontologisch irrelevante logische Relationen und mythische Sphären sprachlich und symbolisch darzustellen, ist das spezifische Humanum.
Was wir mit „Denken“ meinen, kann weder psychologisch noch neurologisch erfaßt, geklärt und erklärt werden.
Überkommen mich Zweifel, heißt dies nicht, daß gewisse Neuronen schwächer feuern (vielleicht im Gegenteil).
Wenn ich an jemanden denke, ist die Wahrheit oder Falschheit meiner Erinnerungen an die Person unabhängig von dem Motiv, das mir die Erinnerung eingeflößt hat.
Gedanken sind keine unsichtbaren seelischen Vorkommnisse oder mentalen Entitäten, keine Modifikationen einer ätherischen Substanz in einer für andere unzugänglichen Innenwelt.
Wir können sehen, was einer denkt.
Jemand geht unruhig auf und ab, schaut immer wieder auf die Uhr, wirft einen nervösen Blick aus dem Fenster, setzt sich hin, blättert in einem Buch, läßt es rasch wieder fahren, geht erneut im Zimmer auf und ab. Wir sehen, daß er wartet, einen Besucher erwartet, und was immer ihm dieser mitbringen mag, es scheinen keine Blumen zu sein.
Der Säugling, der nach der Mutter schreit, wird als kleines Kind gelernt haben, seine Mutter zu rufen.
Der durch den Nasenstüber zum Denken Erwachte wird den Drang, nach jemandem zu rufen, hinunterschlucken, auch wenn er im Sterben liegt.
Über Nacht ist Schnee gefallen, die Stille, Weite, Frische des Eindrucks. Erlöst vom Zwang, etwas zu sagen, etwas zu verstehen. Dann gewahrst du die feinen Risse, die Mulden der ersten Tropfen, das aus dämmernder Tiefe glucksende Wasser.
Der Abglanz heller Innigkeit
Daß stille Kerzen uns noch schenken
den Abglanz heller Innigkeit,
wenn wir der Liebenden gedenken,
und was sie trennte, Dunkelheit.
Und Schatten geistert an die Wände
der Nachtwind, schauernd mit dem Schein,
wir wölben ihnen Segenshände,
daß sie nicht ruhlos sollen sein.
Daß lichte Trauben uns noch schwingen
in krokusblauem Frühlingshauch,
gedenken wir des Dichters Singen,
und was ihn würgte, Aschenrauch.
So pflanzen wir auf seinem Grabe
den Enzian vom Gletscherfels
und netzen ihn mit heller Labe,
den Tropfen eines keuschen Quells.
Diurnum philosophicum III
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Die leisen Gesten, die uns vom Geheimnis sagen, Geheimnis, das wird sind, nicht kennen, sind wie zarte Schimmer im jungfräulichen Schleier über morgenkühlen Teichen.
Die das Wort traktieren, die Popularen, schwadronieren von großen Dramen, die uns läutern, uns in die Peripetie einer letzten Entscheidung reißen.
Doch werden wir ganz undramatisch von Wellen, die uns wiegen, von Klängen, die uns lösen, gleichsam uns selbst zurückgegeben.
Freilich sind wir Tropfen nur in einer Welle, die steigt und fällt und fällt und steigt, mag sie bisweilen auch in einer öden Wüstenei versickern.
Was zwischen Geburt und Tod uns widerfährt, ist dramatisch nur in der Wiederkehr uralter Rituale, der Rites de passage zwischen Kindheit und Jugend, Jugend und Reife, Reife und Alter.
Der philosophische Trug, das Proton Pseudos, beginnt mit dem dämonischen Glauben an die wahrheitskonstitutive Macht der Geschichte, mit Hegel und Marx.
Die Torheit im Glauben an das, was sie Freiheit und Entwurf nennen, Fichte, Hegel, der frühe Heidegger, Sartre, als könnten wir den formlosen Teig des Lebens in die selbstentworfene Plastik unserer eitlen Selbstvergötzungen transfigurieren.
Der individuelle Entwurf führt zur Erstarrung und den Karikaturen des amusischen und akademischen Daseins, der kollektive mündet in Terror oder dem Wahnwitz des computergesteuerter sozialen Lebens.
Sie hassen oder verachten das Provinzielle, das in überlieferte sittliche Ordnungen ruhig eingebettete Dasein; der rastlose Trieb wütet in ihnen, durch den Goethe Mephistopheles sich in die große Staatsaktion hat stürzen lassen, vor deren Fortschrittssegnungen die zeitlos-schlichten Gestalten von Philemon und Baucis zu weichen hatten.
Die Progressiven hassen oder verachten den freien Bauern, den schweigsamen Winzer mit dem ewigen Grind unter den Fingernägeln, die ernst, fromm und streng eingefügt leben in die Rhythmen der ewigen Wiederkehr der Jahreszeiten, von Aussaat und Ernte, und mit dem eigenen Land, Wingert und Erbe der Macht der Überlieferung huldigen.
Die Revolutionen sind die epileptischen Anfälle und Krämpfe des Molochs Stadt.
Wer dem Fortschritt, ob zur egalitären Demokratie oder zum Thermitenstaat des Kommunismus, beide sind ja in ihrer Art totalitär, rein aufgrund seines provinziellen Gebarens im Tun und Reden auch nur den Schatten eines Widerspruchs entgegenhält, wird bald vom gnadenlosen Strahl der höheren moralischen Wahrheit ihrer herrschenden Eliten ausgetilgt.
Wie Hegel der Kunst nur die befremdlich-museale Schönheit abgeworfener Schlangenhäute zubilligte, während der Weltgeist schon innerlichere Gemächer zur Behausung aufgesucht habe, verwirft der Fortschrittler die plumpen, ranzigen und etwas ungut riechenden alten Kulturen, ihre rätselhaften Sitten, ihre abergläubischen Frömmigkeitskulte, Litaneien und Wallfahrten, ganz zu schweigen von ihrem Gallimathias an unverständlicher Rede.
Ihre gesinnungsethisch reingewaschenen Pädagogen wittern den geringsten Rest von Dung und provinzieller Schlacke, der dir am Fuß, und sei es am Versfuß, kleben mag.
Der provinzielle Dung und der unaustilgbare Schmutz des Lebens sind der Einspruch wider den moralischen Purismus der Aufklärung und die Sozialhygiene der technisch verwalteten und überwachten modernen Welt.
Der Argot, die Zigeuner- und Gaunersprache machen dem Dichter noch ein wenig Hoffnung.
Die rhetorischen Nebel eines unfruchtbaren grauen Lifestyle-Jargons senkten sich über den dichterischen Geist, er atmete noch, doch vernahm man nur mehr ein rhythmisches Röcheln.
Die Karikatur und Parodie des religiösen Heilsgedankens in den messianischen Prophetien einer revolutionär erhitzten pubertären Jugend.
Sprache dient nicht nur und nicht einmal hauptsächlich der Verständigung. Du nimmst ein Wörterbuch zur Hand, um dich im fremden Land verständlich zu machen und was geredet wird zu verstehen; das Wörterbuch dient dir zur Verständigung, aber es ist mehr als ein Instrument der Kommunikation, nämlich eine Repräsentation einer beliebig großen Anzahl von Wörtern der fremden und der eigenen Sprache. Ähnlich der topographischen Karte, anhand derer du einen Weg zu einem bestimmten Ziel zurücklegen kannst: Sie ist mehr als ein Instrument der Orientierung, nämlich die projektive Abbildung einer Gegend mit ihren Straßen und Wegen, Orten und Sehenswürdigkeiten, Wäldern und Flüssen mittels ikonischer und symbolischer Kennzeichnungen.
Wir geben mit Äußerungen wie dem Schmerzensausruf und der Klage, der Freude und des Behagens unserem Befinden Ausdruck, wir nehmen mittels performativer Sprechakte wie der Aufforderung, der Frage, des Hinweises gezielt und zweckgerichtet Einfluß auf den Willen und die Willensbildung unserer Gesprächspartner; das ist angesichts unserer biologischen Konstitution und unserer sozialen Einbettung nicht weiter verwunderlich. Doch daß wir etwas verlautbaren, sagen und aufschreiben, was bedeutsam und sinnreich anmutet, aber unmittelbar keinem Zwecke dient und keine Absicht verfolgt wie einen Erinnerungs- oder Traumbericht, eine Anekdote, eine Fabel, ein Gedicht, dies ist das eigentliche Wunder der menschlichen Sprache.
Sine ira et studio, sagt Sallust, und er meint eben dies: historische Objektivität des Berichts und eine möglichst genaue und ausgewogene Geschichtserzählung.
Das Gedicht ist wie jeder literarisch-fiktionale Text kein Mittel der Verständigung, sondern ein Spiel mit Worten.
Manchmal gleicht es der einsam gelegten Patience, manchmal dem munteren Ballspiel der Kinder, bei denen es keine Gewinner und Verlierer gibt, aber Kombinationsgabe, wacher Sinn für Anspielungen und Andeutungen sowie Freude an der Eleganz und Anmut der Bewegungen gefordert und gern gesehen sind.
Der Geist des Spiels weht bereits als kleine Brise oder duftiger Hauch in die Täler unserer gewöhnlichen Unterhaltung, wenn wir sie durch einen Witz, ein Bonmot, eine Anekdote würzen oder durch eine Erinnerung, eine kleine Geschichte, eine Fabel erhellen.
Die Sprache ist nicht die ancilla rationis, die Dienstmagd der Vernunft.
Die Vernunft ist nur ein Zweig am großen Baum des Lebens, und wenn er Blüten treibt, werden sie von Wurzeln genährt, an die sie nicht heranreicht.
Das Leben hat wohl Ursachen, die uns Biologie und Genetik vor Augen führen, aber es muß sich nicht durch Gründe rechtfertigen wie Hypothesen, die nach der Rechtfertigung ihrer Plausibilität und Wahrscheinlichkeit verlangen.
Sprache ist wie ein pflanzlicher Organismus eigenen Gepräges, der je nach dem fruchtbaren Boden, dem er entwächst, sehr verschiedene, immer aber einzigartige Blüten und Früchte hervorbringt.
Wir können die Wörter einer fremden Sprache mit denen unserer Muttersprache übersetzen, aber nicht die grammatische Struktur, an der sie hängen wie Früchte an rätselhaft verschlungenen Ranken.
Die vermessene Dummheit, an den Formen der grammatischen Struktur einer Sprache herumzulaborieren, gleicht jener, die sich an der Erbsubstanz zu schaffen macht.
Die ins Unbewußte des organischen menschlichen Lebens eingesenkte Sprache ist seine kulturelle Erbsubstanz.
Der von rationalen und moralischen Absichten geleitete Eingriff in die sprachliche Erbsubstanz erzeugt Monster und Chimären.
Der echte Dichter kann nur seiner eigenen Sprache dienen, keinem Globalesisch oder einem gesinnungsethisch gereinigten Esperanto.
Der echte Dichter inspiriert sich an den großen Dichtungen zumindest der alten europäischen Völker, und doch muß er, um die eigene Stimme zu finden, ein sprachlicher Nationalist und Liebhaber seines mütterlichen Idioms sein oder er bleibt ein hohles Windei.
Das Geschwätz der Parlamente vermag nur Einfaltspinsel oder das Projekt der Moderne feiernde Philosophen darüber zu täuschen, daß es von Sprechpuppen im eigenen Interesse geführt wird, das mittels hochtrabender Phrasen von Menschenrechten und Zukunftsvisionen geschickt als Allgemeinwohl getarnt und verkauft wird.
Das tumultuarische, verräucherte Palaver der Stammkneipenrunde, die diskrete Unterredung der Attachés und Diplomaten, das Gemauschel der Teppich- und Diamantenhändler, die Besprechung zwischen Richter und Staatsanwalt, das heimliche Geflüster der Liebenden und tausend andere Dialogsituationen zeigen: Es gibt kein allgemeines, einheitliches oder allein verbindliches Schema und Ethos des Diskurses und Gesprächs; jeder Dialog hat sein eigenes Lokalkolorit, seinen eigenen psychosozialen Hintergrund, sein eigentümliches Idiom.
Es gibt keinen rationalen Dialog zwischen Habermas und seinen Opponenten wie Lyotard, Foucault und Deleuze, die ja die Idealität des herrschaftsfreien Diskurses in Frage stellen.
Welches Grauen oder welche Lachanfälle überkommen einen angesichts von pseudomephistophelischen Visagen oder verlogenen Frömmigkeitsmasken solcher, die sich rühmen, sich selbst verwirklicht zu haben.
Normen wie die des Ausgleichs, der Vergeltung, der Wiedergutmachung oder der Ahndung des Unrechts hat nicht Vernunft in steinerne Tafeln gemeißelt, sondern entspringen der Verletzlichkeit der Lebenssubstanz. Vernunft kann sie nicht begründen, sondern nur praktikable Folgen und angemessene Mittel ableiten, die der Durchsetzung von Normen dienen, wie Arten der Vergeltung oder der Bestrafung.
Nur der einzelne Täter trägt seine individuelle Schuld, freilich im Mythos und bei den Deutschen auch die Eltern, die ihn zeugten, oder seine Nachbarn, ja seine ganze Sippe, auch wenn sie der Tat nicht einmal beiwohnten.
Aus deiner Verpflichtung, mir das geliehene Geld zurückzuerstatten, folgt mein Recht, es einzufordern, solltest du den ausbedungenen Rückgabetermin verstreichen lassen. – Aus der Pflicht folgt das Recht, nicht umgekehrt.
Je mehr Rechte man der von archaischen Impulsen getriebenen und von Aufrührern leicht entzündbaren Masse einräumt, umso mehr verwildert der amtlich gepflegte öffentliche Garten der Pflichten.
Die moderne Demokratie hat keinen singulären Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit, auch die Sklavenhaltergesellschaft der Römer, das imperiale England und das über Pickelhauben thronende Preußen waren Rechtsstaaten.
Gut, ich bin immer noch verpflichtet, dem Nachbarn, der mir Geld geliehen hat, die Summe wie ausbedungen zu erstatten; nicht aber, nachdem er mich als arbeitsscheuen Parasiten bei Krethi und Plethi und meinen Freunden verleumdet hat, ihm mit Hochachtung zu begegnen; habe ich meine Schuldigkeit getan, besteht meine Form der Anteilnahme an seinem Schicksal darin, ihn zu ignorieren.
Die angeblich allgemeine Norm, die mich dazu verpflichtet, Hinz und Kunz in gleicher Weise wie meinen Freund und Wohltäter zu achten, haben lebensfremde Theologen oder doktrinäre Gesinnungsethiker wie Kant und Habermas ausgebrütet.
Gott bewahre uns vor dem Weltethos eines Hans Küng oder Jürgen Habermas, denn es ist die alle Lebensfrische und schöpferische Lust erstickende Gärung über der kulturellen Einebnung der lokalen und nationalen Kulturen. Ach nein, es ist nur der süßliche Fäulnishauch über der Verrottung der eigenen nationalen Kultur.
Die Athener hatten ihren Ostrakismos, der die Verbannung des Verurteilten nach sich zog; unser Scherbengericht besteht in der Ächtung der Person und ihren Ausschluß aus der medialen Öffentlichkeit. – Dem Scherbengericht freilich, das Jürgen Habermas über Ernst Nolte einberief, folgte allerdings nicht nur seine Ächtung und sein Ausschluß aus der Öffentlichkeit, sondern auch sein Exil.
Wer dem hohen Ethos der Eliten nicht willfahrt, wird zunächst zur Persona non grata abgestempelt, dann für einen Geisteskranken erklärt, mit dem ein vernünftiges Gespräch zu führen ganz unmöglich sei.
Hegel und Marx: die Paten; Lenin, Mussolini, Hitler, die Enkel und Erben.
Die zugleich absurde und faszinierende Idee: Das Ich, der Geist, die Menschheit durchlebe und durchleide das Drama der Entäußerung und Entfremdung bis zum höchsten Grade des Selbstverlustes, der die Peripetie, den Umschwung der Wiederaneignung in der absoluten Selbsterkenntnis oder der befreienden Tat der Avantgarde einleitet. Die Avantgarde und ihre Schergen können dann, vom Weltgeist oder dem Gesetz der Geschichte autorisiert, getrost darangehen, den leider noch verbliebenen Rest an Äußerlichkeit und Fremdheit, der den reinen Selbstgenuß verdirbt und verhindert, den Bourgeois, den Kulaken, den Juden auszumerzen.
Was uns an Versen blieb
Das Glück war uns wie Mondes Schwanken
auf Wellen, die ins Dunkel gleiten,
ein goldner Wink aus Rebenranken,
daß wir zur Waldkapelle schreiten.
Und war die Schwelle auch geborsten,
die Lilien welk, verrußt das Bildnis,
noch stiegen Nebel aus den Forsten,
noch rann der Purpur in die Wildnis.
Und ward die Heimat uns genommen,
da unter Lauben wir gesungen,
spät ist ein Schwan ins Schilf geschwömmen,
die Knospe Lächeln aufgesprungen.
Was uns an Versen blieb, der Schauer
von Nachttau in der irdnen Schale,
er wölkt zu Efeus trunkner Trauer,
verzehrt vom gnadenlosen Strahle.
Mit Flammenzungen singen
Daß wir mit Flammenzungen singen,
der Sang sich wölkend moduliert,
wenn Ambra wir und Weihrauch bringen,
noch Glut die Abschiedshymne schürt.
Frag nicht, woher die Flammen nehmen,
schläft unterm Schnee das Herz vereist,
ob Blitze fahren in die Schemen,
die uns ersticken Mut und Geist.
Daß wir in Sommernächten schwanken
mit Knospen, die sich aufgetan
dem vollen Mond, sich Stimmen ranken
sanft um den weißen Muschelkahn.
Frag nicht, ob uns das Dunkel weiten
noch Rosenlicht und Fliederschaum,
ob Schimmer auf dem Wasser gleiten,
rinnt Mondes Tau im Schwanenflaum.
Wir sind ein Faden nur
Wir sind ein Faden nur, gesponnen
in bunten Teppichs Rankenspiel.
Wir sind ein Tropfen nur, zerronnen
in dunklen Strömen ohne Ziel.
Der Teppich, dem zum Zwirn wir dienen,
zeigt goldner Knospen Wiederkehr,
bald glänzen Siegel voll Rubinen,
bald schatten Reben, traubenschwer.
Es heben uns die hohen Wogen
für Augenblicke an das Licht,
für Augenblicke schäumt der Bogen,
bis ihn der Teer der Nacht verpicht.
Sind es die Musen, sind es Moiren,
die uns verweben in das Bild,
schmilzt Schnee auf Gipfeln, ungeheuren,
von denen unser Dasein quillt?
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Der Irrwitz triumphiert nicht trotz seiner Absurdität, sondern wegen ihrer.
Je absurder die Idee, umso faszinierender und wirkmächtiger.
Die Idee, daß die Bedeutungen der Wörter die Schatten der Dinge sind, die sie bezeichnen, die Idee, daß wir aus dem Gebaren des anderen erraten, was wir an uns selbst mit Gewißheit erfahren, die Idee, daß wir immer wieder in Selbstgespräche verwickelt als Monaden existieren, die Idee, daß es eine innere Erfahrung gebe, die wir mittels derselben Methoden und Metaphern beschreiben können wie die äußere Erfahrung.
Man kann vor dem eigenen Schatten erschrecken. Dann gewahren wir, daß er stets mitwandert, und beginnen wie mit einem treuen Begleiter mit ihm zu sprechen, ja ihm die intimsten Geständnisse zu machen. Schließlich haben wir den Gipfel erklommen, und im Zenit des Mittags schwindet er für selige Augenblicke dahin – wir verstummen. Die Sonne zieht weiter, der Schatten taucht wieder auf, und wir setzen das Zwiegespräch fort. Die Sonne sinkt, der Schatten wird länger, fragiler, zerfranst an den Rändern und verschwimmt endlich in der einbrechenden Dämmerung mit all den anderen Schatten, bis wir, selbst Schatten unter Schatten, uns im Schilf der Nacht verirren.
„Wer hält mit Wache?“ – „Ich!“ Nicht das eitle Geschwätz in Ich-Erzählungen zählt, sondern das Wort, zu dem einer steht.
„Ich fühle mich matt“, „Ich habe Peter gestern im Park getroffen“, „Ich erinnere mich nicht an den Namen meines ehemaligen Lehrers“ – diese Sätze versteht jeder, der sie oder ihnen ähnliche bilden und aussprechen könnte.
Wenn wir mit einiger Gewißheit annehmen, daß es sich bei dem Sprecher um keinen Simulanten handelt, können wir davon ausgehen, daß er mit dem Satz „Ich fühle mich matt“ ausdrückt, was er meint.
Aber teilt er uns damit eine unbezweifelbare Wahrheit oder unerschütterliche Gewißheit mit? – Nein, denn es gibt keine unbezweifelbaren Wahrheiten oder unerschütterlichen Gewißheiten, es sei denn, es handele sich um schlichte Tautologien; aber dieser Satz ist nicht tautologisch.
Wir können nicht sagen, daß uns jemand, der ein bestimmtes Empfinden oder eine bestimmte Wahrnehmung ausspricht, etwas Wahres mitteilt. Der Satz „Es hat geregnet“ kann wahr oder falsch sein, die Äußerung „Ich glaube, es hat geregnet“ entzieht sich dieser Alternative.
Wir können aus dem wahren Satz „Es hat geregnet“ folgern, daß die Straße naß ist. Aus dem Satz „Ich fühle mich matt“ können wir dagegen nichts folgern.
Derjenige, der den wahren Satz „Es hat geregnet“ äußert, tut etwas kund, was er weiß. Wissen bedeutet, über eine wahre Information verfügen, eine Information freilich, die uns auch entgangen oder vorenthalten und verschwiegen worden sein könnte, eine Information, die wir auch hätten in den Wind schlagen können. Mit der Äußerung „Ich fühle mich matt“ tun wir nichts kund, was wir wissen, und also auch nicht wissen könnten. Denn wir äußern mit diesem Satz keine Information, die uns auch hätte entgehen oder vorenthalten und verschwiegen werden können, keine, die wir in den Wind hätten schlagen können.
Es ist eine absurde, freilich von Philosophen gern aufgegriffene und verbreitete Idee, Äußerungen in der Ich-Form als informative, deskriptive oder wahrheitsfähige Sätze zu nehmen und sie in Analogie zu jenen Sätzen zu behandeln, mit denen wir kundtun, was wir wissen oder zu wissen glauben.
„Ich weiß, daß p“ ist kein informativer Satz über p, sondern über eine Glaubensgewißheit des Sprechers; denn es könnte auch gelten: nicht-p.
Man vergißt, daß „ich“ kein Begriff für ein etwas, sondern ein Wort der Umgangssprache zur durch Deixis geleiteten Orientierung im sprachlichen Lebensraum ist. „Wer hat das Heft verloren?“, fragt der Lehrer vor der Klasse. „Ich!“ Oder, was damit kongruieren kann und auf den Spielraum der Übersetzbarkeit von Äußerungen der ersten und dritten Person verweist, Hilde antwortet: „Peter!“
„ich“ ist kein Substantiv, es vermehrt seine Bedeutung nicht dadurch, daß wir es substantivieren.
„ich“ ist kein Nomen, sondern ein Pronomen.
Wir unterscheiden die Ich-Funktion als biologisch bis ins urzeitliche Leben reichende Leistung sowohl vom Bewußtsein als auch von der Sprache. Schon der Einzeller, die Amöbe, lebt gleichsam im Schatten der Ich-Funktion, wie jeder Organismus, der durch osmotisch atmende Hautgrenzen vom System seiner Umwelt unterschieden und im ununterbrochenen chemischen und sensorischen Austausch mit ihr im Gleichgewicht oder gleichsinnig mit ihr ist.
Es gibt keinen originären Anfang des Denkens, man kann mit jedem beliebigen Ding beginnen. Du nimmst einen Krug zur Hand und wandelst mit ihm durch Räume und Zeiten, vom Symposion Platons bis zur Hütte Heideggers.
Ich bin immer irgendwann irgendwo, aber nicht „in mir“, „im Kopf“ oder „in einem mentalen Zustand“. – Bin ich freilich im mentalen Zustand des Erinnerns, dann bezieht er sich auf ein Ereignis in der Welt, an dem ich irgendwann irgendwo Anteil hatte. Davon kann ich berichten; mein Freund aber kann einwenden: „Nein, damals waren wir nicht am Bodensee, sondern am Walchensee.“
Sätze, die mit „Ich“ anfangen oder in der Ich-Form auftreten, sind meist nicht aus sich selbst heraus verständlich. „Veni, vidi, vici“ verstehen wir erst, wenn wir wissen, wer es bei welcher Gelegenheit gesagt hat.
Das präreflexive Moment an dem Wörtchen „ich“ ist nur der Niederschlag der Tatsache, daß wer es spielend-leicht wie aufgrund subkutaner Intuition ausspricht, seinen korrekten Gebrauch der in früher Kindheit ausgereiften biologischen Ich-Funktion verdankt.
Erst sagt der kleine Peter: „Peter müde!“, später dann „Ich bin müde“; dies verweist auf keinen Zuwachs an Einsicht, sondern an Beherrschung der Normalsprache.
Wir sprechen uns keine aktuellen mentalen Zustände zu, sondern haben sie.
Wir sagen: „Ich bin zu müde, um weiter in dem Buch zu lesen“; dagegen: „Gestern war ich zu müde, um weiter in dem Buch zu lesen“; in diesem Falle berichten wir von jener Person (und sprechen ihr den betreffenden mentalen Zustand zu), die gestern hätte sagen können: „Ich bin zu müde, um weiter in dem Buch zu lesen.“
Unsere Empfindungen sind mehr oder weniger intensiv, aber sie entbehren im Unterschied zu unseren Wahrnehmungen der Kriterien von richtig und falsch. Ich sage „Das ist eine Fichte!“; der botanisch beschlagene Freund korrigiert: „Das ist eine Tanne.“
Das Grundübel des deutschen Idealismus, das sich der Phänomenologie und dem Existenzialismus weitervererbt hat, sein Ausgang vom welt- und sprachlosen Subjekt, ist seinerseits ein Erbe der kartesianischen ontologischen Differenz zwischen res cogitans und res extensa. Hier ist die Sprache, die sprachliche Lebenswelt, unterschlagen. Ich lerne ja die Dinge benennen, und kann darin korrigiert werden, statt Tanne Fichte zu sagen. Doch bliebe ich meinem Fehler verhaftet, vertiefte sich mein Kontakt zu den Dingen nicht aufgrund der Rede der Sprachgemeinschaft, der ich angehöre.
Daß die Bedingung, der Grund, der Reflexion nicht wiederum Reflexion sein kann, diese logisch-epistemische Trivialität wird uns als tiefe Einsicht verkauft.
Welche absurde Mystifikation, welch ein Taschenspielertrick liegt in der Annahme, das sogenannte Ich habe sich selbst „gesetzt“. – Als habe man das Sophisma von der Selbsterzeugung Gottes vom Himmel der Transzendenz ins Zwielicht der Immanenz verlegt.
Das fatale Wirken schiefer Bilder und verfehlter Metaphern: als wäre meine Aufmerksamkeit darauf, was mir widerfährt, wenn mich eine Empfindung beeindruckt, dem Sehen mit einem inneren Auge zu vergleichen.
Freilich schenken wir dem, was wir für uns so treiben wie Lesen oder Schreiben oder eine Rechenaufgabe lösen, mehr oder weniger große Aufmerksamkeit. Wir lesen einen Satz Fichtes wie „Dem Ich ist ein Auge eingesetzt“ und fühlen, wir haben ihn nicht verstanden, wir lesen erneut mit größerer Aufmerksamkeit; allerdings vergebens – oder vielmehr, wir verstehen, es dämmert uns, weshalb er unverständlich ist.
Mit der Fähigkeit, ich zu sagen, betreten wir den sozialen Raum der Kontrolle, Normierung, Verpflichtung und Verantwortung. Deiner Zusage, mir das geliehene Buch morgen auszuhändigen, muß der korrespondierende Sprechakt in Form der ersten Person vorausgegangen sein. Die psychotische Störung dieser Fähigkeit entlastet den Sprecher, auch wenn er den korrekten Sprechakt geäußert haben sollte, von seiner Verantwortung, sollte er seine Zusage nicht eingehalten haben.
Der sprachliche Lebensraum, in dem wir Ich-Sätze äußern, ist alles andere als subjektiv, nämlich der intersubjektive Raum der gemeinsamen Sprache und der sprachlich übermittelten Bedeutungen sowie die objektive Lebenswelt der materiellen und immateriellen Güter, der sozialen Gepflogenheiten und Institutionen.
Weil sie die erhabenen und tröstlichen Gefühle, die der alte Glaube oder ihr Kinderglaube vermittelt hat, auch nach seiner Zersetzung durch Bibelkritik und Aufklärung nicht ganz missen wollen, finden gewisse Philosophen im trüben Verlies der Innerlichkeit ein winziges Oberlicht, in das bisweilen die Sonne heiterer Jugendtage hineinzublinzeln scheint.
Aber diese Sonne strahlt nur auf einer kitschigen Tapetenwand in der Rumpelkammer der Erinnerung.
Wie töricht, danach zu fragen, wie das Ich wahrzunehmen oder zu erkennen sei! „Ich“ ist eben jene Instanz, der wir das Wahrnehmen und Erkennen zusprechen.
Ich nehme nicht MICH wahr, sondern beispielsweise die Bewegungen meiner Hand, wenn ich einen Schnürsenkel binde.
Wie anders töricht wiederum, Ich und Bewußtsein unmittelbar zu verbinden: Der Rezeptionsraum meines Empfindens ist groß genug, daß ich noch an seinem Rand (dem Rand des Gesichtsfeldes, des Hörfeldes, des Tastfeldes) winzige Lichtflecken, verschwebende Klangfarben oder minimale Temperaturschwankungen bemerke, von denen ich allerdings nicht sagen könnte, daß ich sie bewußt wahrgenommen habe.
Es ist Unsinn, das Modell der Wahrnehmung und speziell der visuellen Wahrnehmung (der Beobachtung) auf das zu übertragen, was wir Selbstgefühl nennen; was wir erleben, wenn wir uns die Finger verbrennen oder der Wein uns mundet. Das Schmerz- und das Lustempfinden sind unmittelbar mit dem, nicht abtrennbar von dem, der sie hat.
Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis sind philosophische Chimären.
Man lernt sich nicht kennen, wenn man die Augen schließt.
Ich erkenne meinen Freund Peter auf der anderen Straßenseite anhand der Wahrnehmung seiner individuellen Gesichtszüge und seines eigentümlich schleppenden Ganges; aber es ist unsinnig zu sagen, daß ich mich anhand meiner individuellen Gesichtszüge oder dem eigentümlichen Leberfleck am Hals im Spiegel erkenne.
Man kann Peter mit Paul verwechseln, wenn beide eineiige Zwillinge sind; aber man kann sich selbst nicht mit einem anderen verwechseln.
Die mathematische Gleichung zeigt uns, daß der Wert links vom Gleichheitszeichen identisch mit demjenigen rechts vom Gleichheitszeichen ist; doch die Formel Ich = Ich, die hochtrabende Rede von der Selbstidentität oder von der Einheit des Bewußtseins mit sich selbst sind philosophischer Nonsense.
Wie lernt man sich kennen? Nun, seine Fähigkeiten, indem man eine neue Sportart oder Sprache erlernt; seine Empfindungsfähigkeit, indem man sich dem Genuß exotischer Weine oder chinesischer Gedichte hingibt; seine intellektuellen Möglichkeiten und Grenzen, indem man wieder einmal Wittgensteins Traktat liest.
Was Philosophen Bewußtsein und Selbstbewußtsein nennen, ist nicht das Ergebnis einer Erkenntnis, die sich auf einen ominösen inneren Beobachtungsgegenstand bezieht; solche Benennungen sind nur eine hochgestochene Redeweise, ein rhetorischer Nebel um die schlichte Tatsache, daß ich auf die Frage: „Hast du gesehen, daß die Ampel auf Rot gesprungen ist?“ mit „Ja!“ antworte und damit meine: „Allerdings, das ist mir nicht entgangen.“
Es gibt nichts, dessen ich gewahr oder mir bewußt sein könnte, ohne die korrespondierende Empfindung oder Wahrnehmung; es ist daher unsinnig zu behaupten, ich wäre meiner selbst in einem absoluten Sinne, unabhängig von aller Erfahrung, bewußt.
Ich ziehe meine Hand instinktiv zurück, um sie vor dem Feuer zu schützen; ich könnte mir eine siamesische Lebensform mit einer anderen Person ausmalen, bei der ich die Hand dieser mit mir neuronal verdrahteten Person spontan vor dem Feuer zurückziehe. Aber handelt es sich dann noch um IHRE Hand?
Der Unterschied zwischen meinem Schreibtisch und meinem Körper besteht darin, daß jener mein Eigentum, dieser aber ein Teil meiner fühlenden und empfindenden Person ist.
Du hast mir das Buch zurückgegeben: Das Buch ist wieder im Besitz dessen, der als Eigentümer von Dingen die Person ist, die einzig von ihnen sagen kann: „Sie gehören mir.“ Dagegen sagen wir nicht von Gliedern unseres Körpers, daß sie uns gehören, höchstens, daß sie zu uns gehören (wie wenn Kinder „Hände-Übereinanderklatschen“ spielen).
Wenn wir den Satz äußern „Das Buch gehört mir“, setzen wir eine ganze sprachliche Lebenswelt von rechtlichen Institutionen und juridischen Sprechakten voraus, innerhalb deren Personen auftauchen, die sagen können: „Ich kaufe das Auto“, „Ich leihe dir das Buch“, „Ich erhebe Anspruch auf Wiedergutmachung“ und tausend andere Wendungen mehr.
Wer „ich“ sagt, hat noch gar nichts gesagt.
Die Rede vom Selbstverhältnis gehört zu den Mystifikationen der idealistischen Philosophie. Ich mag ein heimliches Verhältnis mit meiner Nachbarin haben, ich habe vielleicht ein gebrochenes Verhältnis zu bestimmten Personen aus meiner Vergangenheit, aber ich habe kein Verhältnis weder mit mir noch zu mir.
Statt sich in gestelzter Rede ein problematisches Selbstverhältnis zuzuschreiben, könnte einer sagen: „Als ich sie mit ihrem neuen Geliebten sah, wollte ich im Erdboden versinken“, „Mir ist, als würde ich mit Prothesen fühlen“, „Früher wußte ich, was ich wollte, heute bin ich ein Schatten meiner selbst“ oder „Allem, was ich tue und sage, fehlt die lebendige Frische.“ – Hier müßten sich Betrachtungen über die pathogene Macht von Gefühlen und Haltungen wie Scham, Willensschwäche und Schwermut anschließen; ohne Rückgriff auf objektive Daten der sozialen und sprachlichen Lebenswelt aber sind sie nicht zu leisten.
Wenn wir vor den Sophismen des Subjektivismus zurückschrecken, lockt uns nicht das angeblich sichere Fundament einer objektiven Wissenschaft oder das abstruse Projekt einer Naturalisierung des Subjekts und des Bewußtseins; vielmehr öffnet sich uns das weite Spielfeld der sprachlich aufgebauten und mitgeteilten Bedeutungen.
Eines Tages entdeckten wir, daß Walfische keine Fische, sondern Säugetiere sind; wir mögen sie weiterhin Walfische nennen, aber setzen das Wort gleichsam in Anführungszeichen. Könnte Philosophen etwas ähnliches mit dem Wörtchen „ich“ widerfahren?
Die elbische Nacht
Wenn abendblaue Schatten gleiten
auf schneeverwehtem Teich,
willst du ans Ufer mich geleiten,
still schwebend, schwanengleich.
Ich wußte nicht, woher noch füllen
das Wort, den hohlen Krug,
den Brunnen, die den Sommern quillen,
war Schneelicht nicht genug.
Du hast mit Schmelz von zarten Flocken
gesalbt mir Stirn und Mund,
mein Fühlen glühte, unerschrocken,
Nacht tönte hell im Grund.
Und bist du elbisch auch entschwunden
im mondgeküßten Dunst,
das Schweigen hast du mir entbunden,
den tiefen Quell der Kunst.
Diurnum philosophicum II
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Schritt, Trab und Galopp, die drei Gangarten des Pferdes. Der überzüchtete Mensch kennt deren mehr, wie das Staken des Mannequins, das feierliche Schreiten des Priesters, den Stechschritt des Soldaten, Wandeln, Gehen, Hasten, Laufen, Rennen, Springen, Sprinten, Schleichen, Pirschen, Schlurfen, Schlendern, Stolzieren …
Gewisse Insekten mit Facettenaugen sehen in Farbräume, die uns für immer verschlossen sein mögen. Doch welche andere Gattung erfand Farbpaletten wie die eines Tizian, Tintoretto, Pontormo Rubens oder Monet?
Der Schwerttanz männlicher Kampfesfreude, der Schwanentanz weiblicher Anmut.
Die mythisch-expressive Polarität von Schilfrohr und Schildkrötenpanzer, Flöte und Laute, Pan und Apollo, Musik und Dichtung.
Zwei Arten von Dummheit, die des Instinkts und die des Verstandes; die erste weiß nicht, wohin sie will, die zweite nicht, wie sie dahin gelangt.
Die erste Art ist die gravierende, obwohl die zweite in den Formen von Schusseligkeit, Zerstreutheit, Vergeßlichkeit und Borniertheit eher ins Auge sticht. Denn nicht zu wissen, was man will, ist ein Kennzeichen der Entwurzelung und Degeneration, wogegen kein Kraut gewachsen ist; dem auf dem Weg Verirrten kann durch eine gute Wanderkarte ein Licht aufgesteckt werden.
Der Mann unterliegt bekanntlich mehr der Gefahr, Zweck, Sinn und Ziel seines Treibens aus dem Auge zu verlieren, als die Frau, die stärker unter den gleichsam konventionellen Formen von Dummheit zu leiden pflegt.
Die instinktíve Gewißheit bedarf keiner Gründe der Rechtfertigung, während sie von der intellektuellen meist eingefordert werden können.
Wir üben gestische und verbale Formen der Begrüßung; wer fragt, warum, wird rechtens mit der Antwort abgespeist: „Weil wir Höflichkeit für eine Tugend halten.“ Wer weiter fragt, macht sich lächerlich.
Das helle Tier wittert die Gefahr, zumal im widrigen Gestank verrotteten Fleisches, wenn es sich nicht gerade um Aasfresser handelt; der degenerierte Mensch wird vom Fäulnisgeruch des Untergangs wie die Fliege vom glitzernden Dung angelockt.
Die Schärfe männlichen Verstandes ist eine Funktion taktiler und visueller Orientierung; so gelang die frühe Meisterung der Jagd- und Kriegstechniken oder der Geometrie.
Der tödliche Pfeil Apollos trifft ins Herz, ebenso der anders tödliche, der Pfeil des Eros.
Das Flechtwerk, die gewebten Muster, die fluiden Ornamente rinnen rhythmisch aus weiblicher Hand, ihr Kennzeichen: Sie haben nicht Anfang noch Ziel, sie kehren in sich selbst zurück.
Die sehende Hand des Töpfers und Malers, die fühlende der Liebkosung, die sprechende der Gestikulation.
Das Zeigen ist ein Äquivalent des Sprechens.
Der unendliche Dialog zwischen Auge und Hand ist nicht sokratisch-dialektisch; hier werden keine überflüssigen oder Wesensfragen gestellt, die Hand folgt der Führung durch den Blick , das Auge ist der Hand immer einen Sprung, einen Deut voraus; doch manchmal überläßt das Auge die Hand auch ihrer blinden, gleichsam somnambulen und traumtänzerischen Fühlungnahme und Handhabe der Dinge oder den Routinen und Automatismen des Werkzeuggebrauchs. Das Thema der Unterredungen zwischen Auge und Hand sind die zu handhabenden Dinge wie Messer und Gabel, Schnürsenkel und Türklinken, Schlüssel und Tasten, Seife und Handtuch und die zu bewältigenden Stoffe (oder Substanzen) wie Wasser, Erde oder Feuer, Teig, Leim oder Holz.
Der Schlüssel muß ins Schloß passen, öffnet nur rohe Gewalt die Tür, ist das Schloß zerstört.
Es ist fatal, statt auf die Bremse auf das Beschleunigungspedal zu treten; unklug, die Dame im Schachspiel ohne Deckung zu lassen; blamabel, die ironische Frage als wörtliche mißzuverstehen.
Es ist töricht, wenn auch verbreitete philosophische Unart, anzunehmen, ähnliche Wörter würden auf dieselbe oder analoge Art und Weise Bedeutung vermitteln oder verleihen; aber Herr Müller ist kein Müller, das Bewußtsein ist kein Sein, Ich ist kein Name, die Farbe hat keine Ausdehnung, das Bild ist nicht sein Gegenstand.
Man wird nicht leichter, wenn man sich wie eine Balletteuse auf die Zehenspitzen stellt.
Man wird nicht verständlicher oder glaubwürdiger, wenn man statt mit der platten Wahrheit herauszurücken einen rhetorischen Spitzentanz aufführt.
Der eingebildete Kranke ist krank; nur leidet er nicht an der körperlichen Krankheit, die sich seine Hypochondrie ersann, sondern einer seelischen.
Ein Dichter, der nie den Vers hinschreibt, den er eigentlich schreiben wollte; und so schreibt er weiter.
Das Farbspektrum, das die Physik Newtons zerlegt, ist eigentlich unsichtbar.
Zu fragen, wie die Welt des Tastbaren, Fühlbaren, Sichtbaren, Hörbaren, kurz die Welt der Empfindung, unsere Welt, in die farblose, unsichtbare, stumme Welt der Objekte paßt, ist ähnlich unsinnig wie die Frage, wie man mit toten Figuren wie denen des Schachs ein geistreiches Spiel spielen kann.
Unsinnig, wie zu fragen, was toten Buchstaben den lebendigen Hauch verleiht, sodaß wir verstehen, was wir lesen.
Der Irrtum Kants, daß Anschauung und Begriff verschiedenen kategorialen Ordnungen angehören. Ich sehe keinen Farbklecks, der sich mir mithilfe des Verstandes als Rose entpuppt, sondern eine Rose, und weiß ich nicht, um welche Blumenart es sich handelt, doch eine Blume.
Es gibt kein geistiges Mysterium derart, daß ein an sich unsichtbares, gestaltloses, farbloses, geruchsloses, stummes Etwas sich in eine duftende Rose oder einen verständlichen Lautkomplex verwandelt.
Es gibt kein An sich, das sich in ein Für mich verwandelt. Dies ist der Irrweg der idealistischen und existentialistischen Denker von Hegel bis Sartre.
Wir wissen nicht, ob „Gott“ Gott bedeutet, so wie wir wissen, daß „Mond“ den einzigen planetarischen Trabanten der Erde bedeutet und Wasser H2O.
Die Erde ist zu groß, das Leben zu abgründig, die Sprache zu komplex, als daß wir begreifen oder auf den Begriff bringen könnten, was wir hier treiben.
Homer hatte keine Ahnung davon, daß er in der antiken Welt lebte; wie können wir uns vermessen, anzunehmen, wir lebten in der Neuzeit, der Moderne, der Postmoderne?
Du mußt nichts Besonderes sein oder anstellen – du atmest weiter, solange der Atem nicht aussetzt.
Das kleine Mädchen sagt: „Die Puppe schläft“ und meint damit, wir sollen leise sein, um sie nicht aufzuwecken. Sie zeigt auf ihr schlafendes Brüderchen: Meint sie dasselbe, wenn sie sagt: „Peter schläft“?
Wir verstehen unter „schlafen“ einen Zustand, aus dem man erwachen kann. Meint das Kind dies, wenn es die Puppe mit dem intelligenten Mechanismus hochhebt, der sie die Augenlider aufschlagen läßt, und sagt: „Jetzt ist die Puppe wach!“?
Es gibt keinen Dietrich für alle Zimmer im Grand Palais Abgrund, keinen Universalschlüssel für alle Fragen des Lebens.
Ähnlich wie der Name Berlin an sich nichts bedeutet, sondern Bedeutung erst in Sätzen annimmt wie „Berlin liegt an der Spree“, verhält es sich mit den Personalpronomina, allen voran dem der ersten Person; denn „ich“ und seine deklinierten Formen bedeuten nichts, es funktioniert als Bedeutungsträger erst in Sätzen wie „Ich gehe jetzt nach Hause“, „Gib mir doch bitte Deine Telefonnummer“, „Ich habe Schmerzen“ oder „Ich erinnere mich nicht an seinen Namen.“
Wenn ich sage, daß ich Schmerzen habe, spreche ich, wie Wittgenstein betont, keinem obskuren Wesen eine spezifische Empfindung zu; darin könnte ich mich irren. Nicht aber in meinem Schmerzempfinden.
Wir können den deskriptiven, also wahrheitsfähigen Satz „Er hat Schmerzen“ nur jener Peter genannten Person zuschreiben, wenn wir davon ausgehen, daß Peter nach seinem Befinden gefragt sagen könnte: „Ich habe Schmerzen“, aber auch „Mir geht es gut.“
Wir schreiben Peter spezifische mentale Zustände zu; Peter nicht sich selbst.
Die Fähigkeit, ich zu sagen, weist per se und unmittelbar auf nichts Höheres, Tieferes, Metaphysisches hin, wie die Idealisten und Dieter Henrich meinen, sondern ist das Kennzeichen für die Tatsache, daß ein mit Wahrnehmung und Empfindung begabtes Lebewesen perspektivisch zentriert ist. Diese Tatsache muß auch für Tiere gelten; auch wenn sie nicht in unserem Sinne über Sprache verfügen, wird ihr Wahrnehmen und Empfinden bis zu einem vielleicht schattenhaft-rudimentären Grade zentriert sein.
Es ist kein metaphorischer Gebrauch des Reflexivpronomens, wenn wir sagen: „Der Hund freut sich, sein Herrchen wiederzusehen“, „Die Maus flüchtet in ihr Erdloch, denn sie fürchtet sich vor der Wildkatze“ oder „Die Katze gähnt und langweilt sich.“
Wir drücken mit der Interjektion „Aua!“ aus, was der getretene Hund durch sein Gewinsel kundtut.
Nur Verrückte oder Philosophen haben, was man ein einheitliches Weltbild nennt; der Paranoiker glaubt, daß alle ihm an den Kragen wollen, ja, daß Gott ihn in diese Welt voller Gefahren und Anfechtungen verbracht hat, um ihn zu bestrafen oder zu seinem eigenen voyeuristischen Vergnügen zu foltern; die paranoische Methode dechiffriert alle Erfahrung auf diesen trüben, armseligen Gehalt. Hegel wähnte, der Weltlauf sei eine zwar vertrackte und verwackelte, aber mit der dialektischen Methode zu dechiffrierende Verlaufsbahn von Ereignissen, die in seiner eigenen Existenz mündet.
Die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der Methoden zur Bewältigung und Lösung von Schwierigkeiten, Problemen, Fragen: Wegmarken und Karten führen den Wanderer an sein Ziel, mit der veralteten Karte bleibt er stecken; mittels des Umwegs von Einsetzungen und Umstellungen lösen wir die Gleichung, bloßes Raten führt hier nicht weiter; durch Abgleich mit ähnlichen Stellen im Gesamtwerk des lateinischen Dichters vermag der Philologe die Lücke im Manuskript zu schließen, reine Intuition kann ihn in die Irre leiten.
Die natürliche Ungleichheit der menschlichen Individuen zeigt sich nicht nur an der Singularität des Fingerabdrucks, der Handschrift oder der Gehirnwindungen, sondern offensichtlicher noch an der weiten Skala unterschiedlicher Fähigkeiten, Begabungen und Neigungen – von den motorischen Leistungen über die Grade der Aufmerksamkeit bis zu sexuellen Vorlieben und Perversionen; jeder hat sein spezifisches Sensorium, jeder seine eigenwillige Idiosynkrasie.
Dichter, nicht Schriftsteller, ist jener zu nennen, der mit einer Sonderbegabung hinsichtlich der Wahrnehmung von Düften, Farben, Klängen, Gestalten und Rhythmen ausgestattet oder auch geschlagen ist. Indes, wenn ihm die alltäglichen Worte und Wendungen wie Pilze im Mund zerfallen, bleibt er Dichter nur, wenn er eben diese Sprachnot wie Hofmannsthal in seinem berühmten Brief an Lord Chandos in geistreicher und ausdrucksvoller Weise kundzutun vermag.
Zigeunerspuk
Sie, deren Lieder uns gezogen
hinab zu leuchtenden Korallen,
wie Geister sind sie aufgeflogen,
uns blieb nur schiefergraues Lallen.
Der Liebe nachtbetaute Daunen,
wie glänzen sie in Mondes Mulden.
O wollet unsrer Öde raunen,
ihr wehmutdunkler Jugend Hulden.
Und die um Flammengarben stampfen
mit den nomadennackten Ballen,
laßt Seufzer aus den Kehlen dampfen,
in weiche Herzen Triller krallen.
Mit zarten Muschelgriffen Klingen,
die wie vereiste Schmerzen blitzen,
sie schneiden durch die Luft und singen,
und Schatten flackern, die sie ritzen.
Uns aber faßt ein süßes Grausen,
wenn mennigrote Brüste starren,
uns bannt ein somnambules Brausen
von Hirtenflöten und Gitarren.
Im Wind der Seidenfächer scherzen
der trunknen Blicke Schmetterlinge,
sie taumeln um den Kelch der Herzen,
und wenn sie schlürfen, stäubt die Schwinge.
Wir schmecken bittrer Wollust Schauer,
wenn ihre Becher klirrend kreisen.
Die kaum sich aufgetan, die Trauer,
senkt ihre Knospe, da sie reisen.
Auf dem Pilgerpfad
Wie ist das Sternbild uns verhangen,
im Dickicht unsrer Angst entrückt,
es hüllt kein Schimmer unser Bangen
von Rosen, die das Lied gepflückt.
Doch sehen wir, daß Tropfen flossen
von Blüten, erdwärts schon gebeugt,
und ewig in sie eingeschlossen
den Glanz, der hohen Sinn bezeugt.
Ward uns der Strahl, der Geist, genommen,
das Rauschen ferner Quellen auch,
scheint fahl ein Mond, im Dunst verschwommen,
im dürren Grase seufzt ein Hauch.
Wie fühlen wir uns ganz verlassen,
auf sternenlosem Pfad allein,
wir können Duldens Sinn nicht fassen,
Moos dunkelt um den toten Stein.
Wir fanden keine Weihestätte,
nicht Kelch noch Kreuz, nicht Gral noch Grab,
wo uns gegrünt, geblühet hätte
der eingesenkte Pilgerstab.
So mögen uns die Wellen tragen
zu Ufern ohne Wiederkehr,
wo blasse Asphodelen ragen
in einen Himmel wüst und leer.
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