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Philosophieren XX

31.07.2013

Wenn du zu sehen gelernt hast, was auf religiösen Bildern in welcher Weise dargestellt ist, bahnt sich dir ein Weg zum Verständnis dessen, was die Leute meinen, wenn sie von frommen und diabolischen, heiligen und zerstörerischen, gesegneten und fluchbeladenen Menschen, Taten und Dingen reden.

Auch für die Dinge und Angelegenheiten der Kunst haben wir ja Vokabularien und Sprachmuster die Fülle entwickelt, um sagen zu können, dieses Fresko aus der restaurierten spätrömischen Kirche Santa Maria Antiqua auf dem Forum Romanum stelle die Kreuzigung in byzantinischer Manier dar: An Christi Leib sind nicht die Male und Züge der Qualen und Leiden dargestellt, kein Blut, keine Wunde sticht ins Auge, vielmehr breitet der Erlöser in erhabener Ruhe die Arme weit aus, als wolle er das All umspannen und umarmen, als wolle das Bild dir zeigen, die Mächte des Bösen, des Negativen und Hässlichen haben ihr Vetorecht verloren und können nurmehr an der Oberfläche kratzen.

Auf Bildern vieler Jahrhunderte, in allen Ländern, in die die Botschaft der Freude gelangt ist, erkennst du die heiligen Personen leicht an der Aureole, die ihr Haupt gleichsam in himmlischen Dunst und Äther taucht, oder an der Mandorla, die oft die Gottesmutter vom Haupt zu den Füßen in einer Muschel warmer Strahlen birgt. Auch auf dem Kreuzigungsfresko der Kirche Santa Maria Antiqua zu Rom sind die hohen Personen des Christus, seiner Mutter Maria, auf die er teilnahmsvoll herabblickt, sowie des Lieblingsjüngers Johannes mit dem Heiligenschein ausgezeichnet. Hingegen sind die beiden römischen Soldaten, ihrer damaligen Bedeutung entsprechend klein in den Hintergrund gesetzt, ohne Aureole dargestellt. Auch wenn der Soldat mit dem Namen Longinus in späteren Jahrhunderten als Märtyrer verehrt wurde und zur Ehre der Altäre aufstieg – nicht zuletzt wegen der Verehrung der Heiligen Lanze, die Longinus dem Herrn am Kreuz in die Seite stieß und die tempi passati nunmehr als Herrschaftsinsignie des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation an Symbolkraft zugenommen hatte, wovon in unserem Bild sich noch keine Spur findet.

Schon wenige Zeit, nachdem die christlichen Kaiser den Foltertod der Kreuzigung, der in der römischen Antike an der Tagesordnung wahr, als Strafe für Kapitalverbrechen außer Kraft gesetzt hatten, zeigt dir der Künstler eine der entscheidenden Geschehnisse des Wirkens Christi gemäß den Evangelien in einem vom körperlichen Aspekt der Passion entrückten, milden Licht: Alles bis hin zur Mattigkeit und Glanzlosigkeit der Farben wirkt verhalten, zurückgenommen, ruhig: Marias Trauergeste, mit der sie sich das Gewand an die Wange führt, während sie ihren Sohn anschaut, ist wenig spektakulär. Das für den Glauben des Künstlers aufschlussreiche Zeugnis ist indes der Umstand, dass er den Gekreuzigten nicht im Tode dargestellt hat, sondern lebend.

Alle Gestalten des Bildes verharren in Ruhe, keine Bewegung ist sichtbar, kein Lufthauch, der ein Gewand ins Wehen brächte, sogar die Soldaten scheinen in der Position erstarrt zu sein, in der die Bewegung, die sie soeben ausgeführt haben, nämlich den Speer in die Höhe zu recken, zu ihrem Ende und Abschluss gekommen ist. An dieser Ruhe unmittelbar vor dem Versterben des Erlösers gewinnst du eine Spur davon, was es mit dieser Erlösung von dem Bösen auf sich haben mag: Denn es ist ja der Schein der Allmacht des Bösen, der uns beunruhigt.

Wenn du verstehen willst, was auf Bildern dieser Art, die wir religiöse Bilder nennen, dargestellt wird, musst du um die wesentlichen Inhalte des Dargestellten wie die Passionsgeschichte und die Bedeutung von malerischen Ausdrucksmitteln wie die Aureole wissen. Indes ohne deine Empfindungen und Gefühle als Resonanzboden des Gesehenen vibrieren und schwingen zu lassen, wird dir der Witz der Sache, die eigentliche Aussage und Pointe entwischen: Nur wenn du weißt, was Trauer ist, was Anteilnahme mit dem Leiden und dem Tod der dir Nahestehenden und wie die Klage ob ihrer Leiden sich anhört, nur wenn du in Bedrängnis und Not einmal unvermuteten Trost, Hilfe und einen Ausweg gefunden hast, wenn du empfunden hast, wie tief die Geste reicht, aus welchen Höhen die Geste kommt, die dich aus selbstverschuldeter Verstrickung ans Licht zieht, nur dann kommst du dem Verständnis des Dargestellten nahe und näher.

In allen religiösen Ausdrucksmedien, auf Bildern oder in Liedern, ob Preislied oder Hymnus, Klage- oder Pilgerlied, bei Musikwerken wie Oratorium, Messe und Kantate bist du gefordert, das Deine an Gefühlen und Gedanken ungeteilt zum Einsatz zu bringen. Ist nicht ein Gutteil des Religiösen die Umwandlung und Katharsis menschlichen Fühlens, das nunmehr auf einen als absolut geglaubten heiligen Wert und Maßstab gerichtet sich gleichsam ins Übermenschliche ausstreckt und -reckt, sich auf den Kern und reinen Typus seiner Funktion besinnt, als wäre Zorn erst Zorn, wenn er als heiliger Zorn gegen die Machenschaften des Bösen aufflammt, als wäre Liebe erst Liebe, wenn sie sich zum Zeugnis eines Höheren hingibt und opfert, Trauer erst Trauer, wenn sie nicht um ihretwillen jammert und klagt, sondern um Seinetwillen?

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