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Blindes Verstehen

16.03.2018

Sentenzen und Aphorismen

Die Ros‘ ist ohn‘ warum: sie blühet, weil sie blühet;
sie acht‘ nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.

Angelus Silesius

 

Rose,
oh reiner Widerspruch,
Lust,
Niemandes Schlaf zu sein
unter soviel Lidern.

Grabinschrift Rilkes

 

Wir nehmen den Begriff des blinden Verstehens per analogiam zu Begriffen wie blindes Vertrauen und blinde Liebe.

Wo auf dem Grund gleichsam ein Auge lauert, das nicht wie der Wasserspiegel eines Brunnens das reine Blau des Himmels widerspiegelt, sondern immerfort nach sich selber im zitternden Spiegel der Luft schielt, kann von Liebe nicht die Rede sein.

Der Liebende ist blind für das Licht, das von den zerstreuten Strahlen des Tages auf den Geliebten fällt.

Der Liebende ist blind für das Tageslicht, das den Geliebten wie einen abgelösten Gegenstand vor ihn hinstellt.

Das schließt nicht aus, daß der Liebende offenen Auges die Gegend mit sorgenden Blicken abtastet, ob dem, den er liebt, ein Hindernis drohe, ein Feind auflauere.

Wer im entscheidenden Augenblick nicht blind vertraut, ist der Freundschaft, die es ihm abverlangt, nicht wert.

Wer im Augenblick der Gefahr, da der Freund die rettende Hand reicht, sich Reflexionen hingibt, ob jener es denn ernst meine und er selbst es denn wert sei, stürzt schon in die Tiefe.

Das schließt nicht aus, daß dem Freund angesichts des Verrats seines Freundes die Augen aufgehen und er der Überlegung, was zu tun sei, Raum gibt.

Mit dem Verstehen ist es wie mit dem blinden Gehorsam. Daß ein Wort meint, was es uns sagt, daß „Rose“ Rose bedeutet, verstehen wir gleichsam in der Nacht der Sprache, wo zwischen dem Wortlaut und dem Sinn des Wortes kein Spalt offensteht, durch den das Licht einer Einsicht fiele.

Daß wir eine Blume als Rose, nicht aber als Koralle spezifizieren können, gehorcht einer grammatisch-logischen Regel der Zuordnung, die wir nicht erfunden haben und der wir nur auf Kosten der Verständlichkeit unser blindes Vertrauen entziehen können.

Natürlich steht es uns frei, angesichts einer Blume nicht nur mit dem korrekten Ordnungsbegriff der Rose herauszurücken, sondern als Kenner sie der Sorte der Gallica-Rosen zuzuweisen oder mit dem Eigennamen „Aimable Rouge“ als einer Unterart der Gallica-Rosen zu benennen. Dies sind die Freiheitsgrade, die uns bei unseren Wanderungen durch den logisch-grammatischen Raum des Sinns offenstehen.

Verstehen ist kein Teil einer Theorie. Es ist etwas, was wir tun. Wir verstehen, daß es klingelt, weil unser Freund verabredungsgemäß vor der Tür steht, INDEM wir die Türe öffnen. Du verstehst, daß deine Freundin Kummer hat, weil sie weint, INDEM du sie tröstest und ihr die Tränen abwischst. Du verstehst, was das „Lacrimosa“ in Mozarts Requiem, was die Arie „Erbarme dich, mein Gott“ in Bachs Matthäuspassion bedeutet, INDEM du tiefer atmest und seufzt oder weinst.

Du verstehst, was Frühling meint, Schönheit, Lust des Lebens, glücklich sein wollen, wenn der Sonnenstrahl dir in der Nase kitzelt und dich der Wandertrieb angesichts des Blütenschaums ferner Kirschgärten packt, der schimmert, als hätte es über Nacht geschneit. Du verstehst, was all das heißt, Reife, Fülle, Vollendung, wenn Äpfel rötlich aus der Dämmerung der Zweige leuchten oder du dich unter üppige Reben des glühenden Weinbergs legst und irgendein triviales Liedchen vor dich hinsingst. Du verstehst, was Abschied meint, Trauer, Tod und Klage, wenn du Allerseeelen durch den Novembernebel die einsamen Lichter auf einem Friedhof flackern siehst und der Deinen gedenkend, die hier oder woanders in der Erde liegen, Tränen vergießt.

Es ist ein tief eingefleischtes Vorurteil anzunehmen, wir verstünden erst und nur, was uns erklärt wird, was uns am Schnürchen wohlerwogener Gründe vor Augen abgezählt wird. Aber die Erklärungen, die Gründe und Theorien kommen erst post festum, wenn der Harz des Verstehens längst an der Rinde unserer alltäglichen Gewohnheiten herabgeronnen ist und sich ausgehärtet hat.

Der Musikwissenschaftler mag noch so sorgfältig Erklärungen und Gründe mittels Analyse von Tongeschlecht und Stimmführung, thematischer Variation und Orchestrierung für die ästhetische Wirkung von Mozarts „Lacrimosa“ anführen, den physisch oder seelisch Tauben werden sie nicht zu Tränen rühren.

Wir können nicht anhand der Evolutionstheorie uns über den Sinn des eigenen Lebens vergewissern.

Keine Wissenschaft schenkt uns die Weisheit, derer es bedarf, das Leben zu bestehen.

Es ist ein eitles Unterfangen, in dicken Wälzern über Ethik nachzuschlagen, wenn es gilt, hier und jetzt das Gute zu tun.

Die Suche und die Sucht nach Erklärungen ist ebenso wie das Schattenfechten mit Theorien ein Symptom mit sich selbst zerfallener Kulturen wie der westlichen. Das für uns Wesentliche, Sinn und Wert des Tuns und Redens, finden und pflücken wir wie das Kind Butterblumen auf der Sommerwiese, aber nicht im grauen Nebel der Theorie.

Wenn Übergescheite und Intellektuelle die geistige Atmosphäre mit ihrem Gerede ersticken, ist es mit dem schönen Leben vorbei.

Gott kommt aus seiner ewigen Nacht und teilt sie mit dem Blitz des Schöpfungsworts.

Daß alles sich vor dem Gerichtshof ihrer kleinen Vernunft mit Grund und Aber-Grund zu rechtfertigen habe ist jener fatale sokratische Schatten, von dem sie wähnen, er sei das Licht der Aufklärung.

Die Mutter befiehlt dem Kind „Räum das auf!“ und es gehorcht fraglos. So wird es groß.

Gott befiehlt durch seine inspirierten Diener, was zu tun sei. Sie aber erkühnen sich in maßloser Hybris, das göttliche Wort vor ihren von Rattenkot starrenden Richtertisch zu zerren.

Zu glauben, Gott befehle, was gut sei, weil es den Kriterien menschlicher Vernunft willfahrt, nicht aber sei es gut, weil Gott es befiehlt, ist eine Inspiration des Bösen.

In der Innerlichkeit der Nacht wandelt uns das Unendliche unendlich an, unendlich um.

Die Götzenanbetung der im geistlosen Scheinwerferlicht der Laboratorien sezierten Materieklumpen ist die gefeierteste Seelenverfinsterung.

Der aus dem Schlaf Auffahrende ertastet den Lichtschalter blind.

Der von besorgten Umstehenden angerufene Schlafwandler stürzt erwachend ab.

Der vulgäre Hang, jeder solle etwas Eigenes aus seinem Leben machen. So laufen alle mit derselben Konfektionsware herum.

Je dürftiger und stumpfsinniger das Leben, umso mehr bangen sie darum, umso besessener wollen sie es verlängern.

In einem Blatt grünen alle Hoffnungen, mit einem fallen alle ins Bodenlose hinab.

Der Namenlose, der sich im Dienst am Edlen verleugnet, fällt schon zu Lebzeiten der Vergessenheit anheim. Das ist seine Größe, doch selbst diese bleibt ihm verborgen.

Dichter-Eunuchen im Reigen des Dionysos.

Mit den Untaten anderer, mit dem von ihnen vergossenen Blut suchen sie vergebens ihr geistiges Vakuum zu füllen.

„Oh!“ und „Ach!“, Urworte der Dichtung. Nicht einmal Worte, Anruf und Seufzer angesichts des Unaussprechlichen.

Den Triebtäter setzen sie zum Dank für die Blutrosen, auf die er seine widerwärtigen Phantasien ejakulierte, auf die Bestenliste. Heute wird er von einem mauschelnden Salonmarxisten kanonisiert, morgen Schullektüre.

Das Schöne ist ein Funken aus Gottes unendlicher Sternennacht, der sich in einer Träne der Jungfrau vor dem Gekreuzigten widerspiegelt.

Gottes Nacht ist still, Schweigen, das wie die Blüten der Zentifolie sich Blatt auf Blatt bettet, das wie der Blick der Liebe sich unendlich in Gegenblicken vertieft.

Brunnen der Nacht, an dessen Umfassung das Salz des Lichts verweht, Kelch der Stille, an dessen Rand sich der schmutzige Grind des Lärms nicht niederschlägt.

Das Wort der Menge ist wild und verwildert, weil es zwischen Zähnen hervorgepreßt wird.

Weiße Blüte auf dem Teich der grenzenlosen Nacht. Altar einer Religion der Stille.

Sie wollen immer sein und gelten. Wie ermüden diese verkrampften Gesten.

Sie lärmen vor dem stummen Schacht des Grabes.

Wie tote Seelen wähnen sie, das vergossene Blut hauche ihnen neues Leben ein.

Dankbarkeit ist die Tugend der Edlen.

 

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