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Die gespiegelte Frucht

27.11.2016

Aphorismen und Sentenzen zur symbolistischen Ästhetik des lyrischen Gedichts

Im Ausgang vom Goethes Gedicht „Auf dem See“, in dem wir zum ersten Mal dem vollen Symbolgehalt der Spiegelmetapher begegnen, zielen die folgenden Auslassungen auf einige wesentliche Aspekte der symbolistischen Lyrik, in der Hauptsache repräsentiert durch das Werk von Stéphane Mallarmé.

Wir unterscheiden zwei Formen und Arten der Kontinuität: diejenige, die auf der Identität des Gegenstandes beruht, wenn wir sagen, daß sich eine Gestalt, eine Struktur, eine Entität trotz der Metamorphosen ihrer Bestandteile und Elemente in der Zeit erhält; und diejenige, die auf der Identität des Selbst beruht, insofern es seine Gedanken durch zeitliche Kontinuen hinweg als SEINE Gedanken identifiziert, auch wenn ihre Bestandteile und Elemente unterschiedlicher Natur sind, wie Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Willensimpulse, Erinnerungen und Phantasien.

Auch falsche oder unwahre Gedanken sind Gedanken: Ich glaube mich an etwas zu erinnern, das ich nicht erlebt habe. Die unwahre Erinnerung kann in eine wahre Phantasie umgewandelt werden.

Auch Phantasien können wahr sein: Ich träume, mein Freund Peter sei gestorben, am nächsten Tag erhalte ich die Nachricht von seinem Tod.

Wahrheitsfähige Gedanken setzen denjenigen voraus, der sie denkt, dich und mich. Keine Semantik ohne den apriorischen Begriff der Subjektivität.

Du liest ein Gedicht: Die Gedanken, die es in dir erweckt, sind DEINE Gedanken, doch es sind Gedanken in potentia, reine Virtualitäten, Entwürfe einer imaginären Welt, deren Bestandteile und Elemente sich beziehen oder anspielen auf alle Bestandteile und Elemente deiner realer Welterfahrung und deines wirklichen sprachlichen Weltumgangs, sie aber ihres realen Charakters entkleiden und mit der Aura des Unwirklichen, Scheinbaren, Traumartigen umhüllen. So gehen in deine Lektüre des Goetheschen Gedichts „Auf dem See“ in virtueller Form alle Bestandteile und Elemente der visuellen, taktilen, gustatorischen Wahrnehmungen ein, die du in deinem Leben mit dem Stoff Wasser gemacht hast, insbesondere natürlich deine Erlebnisse von Seen. Doch der See Goethes, der gedichtete See, ist kein realer See, auch wenn Goethe selbst den gedichteten See im Ausgang von der Erfahrung des realen Zürichsees ins Gedicht erhoben hat, und es hülfe deinem Verständnis des Gedichts nicht auf, dächtest du anstatt an das imaginäre Abstraktum „See“ an einen konkreten See deiner Heimat.

Die Frucht in Goethes Gedicht „Auf dem See“ ist eine Transformation oder Sublimierung des Blutes, nach dem der Sturm und Drang der Libido in der Eingangsstrophe als frische Nahrung verlangt oder schreit, die im See sich spiegelnde Frucht ist die zweifache Transformation oder Sublimierung des Blutes, die Frucht der Frucht, und als Bild im Spiegel, als imaginäres Bild, die Essenz der Dichtung, das Gedicht selbst.

Wenn wir „wahr“ semantisch streng definieren, sind Sätze in Gedichten nicht wahr (insofern hat Platon recht), aber eben deswegen faszinieren sie, aber eben deswegen sind sie bedeutungsvoll (und insofern hat Platon unrecht).

Wir existieren als bewußte Wesen, weil wir uns an uns erinnern, unser inne werden.

Gedichte bewirken sehr spezielle Formen und Arten der Selbstgewißheit und des Innewerdens, weil sie gleichsam an ein irreales, mögliches, ja unmögliches Ich erinnern.

Das Theologumenon von der Schöpfung der Welt oder der Satz über die Geschöpflichkeit der Welt ist im semantisch strengen Sinne nicht wahr (wir können alle wahren Sätze über diese Welt ableiten, ohne den Satz von ihrer Geschöpflichkeit vorauszusetzen), aber er ist wie die Sätze der Gedichte faszinierend und bedeutungsvoll.

Gedichte sind imaginäre Schöpfungen, und die in ihnen lebendigen Bilder und Zeichen scheinen einem uns unzugänglichen, dunklen und geistigen Willen zu willfahren.

Gedichte zu deuten ist daher dem prophetischen Verfahren, Gottes Willen und Providenz in den geschichtlichen Ereignissen ablesen zu wollen, nicht unähnlich.

Wir fühlen eine gewisse Insistenz am Gedicht, die sich mittels poetischer Formelemente der Wiederkehr oder abgewandelten Wiederholung wie Rhythmus und Reim erzeugen. Die Wirkung dieser Formelemente beruht auf Erinnerungen: In der Beschwingtheit und der wellenförmigen Frequenz des zweiten Verses erinnere ich mich an den Rhythmus, den der erste Vers vorgab oder mir als Vorschuß mitgab; in der Assonanz und dem Reim des Wortes am Zeilenausgang resoniert der Lautkomplex, den der vorausliegende Vers vorgab oder mir als Vorschuß mitgab.

Ein Echo hallt nach, wenn es auf das Wort trifft, das ich als Reim wahrnehme.

Wir treffen bei den Formen dichterischer Erinnerung wie Rhythmus und Reim auf eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die sie von anderen Formen unterscheidet: Im Zusammenklang mehrerer Töne ergibt sich uns nur dann eine Form musikalischer Erinnerung, wenn sie auf einer melodischen Linie oder einer harmonisch gespannten Fuge aufgetragen sind. Ohne diese Reihung verhallen sie im Leeren, im erinnerungslosen Augenblick. Auch die Tonreihe ist nichts außer der Erinnerung dessen, der sie vernimmt. Die Wortreihe kommt dem Lesenden allerdings mit dem Schaum der Bedeutungen entgegen, der sich in den Wogen des Rhythmus bricht und auf den Zeilen des Ufers glitzert.

In der Lektüre des Gedichts trifft mein imaginäres Ich auf mein reales Ich. Das eine kann das andere aufnehmen oder auslöschen.

Das reale Ich kann sich erinnern nur an das, was es einmal wahrgenommen hat. Die Erinnerung setzt die Wahrnehmung voraus, die Wahrnehmung die Tatsache der Verkörperung oder die Tatsache, daß ich mit eigenen Augen gesehen habe, woran ich mich jetzt erinnere. Das imaginäre Ich, das die Lektüre des Gedichts beschwört oder konstituiert, bewegt sich gleichsam wie ein Schatten über einen imaginären Körper: die Form und Gestalt des Gedichts.

Wir können auch von Berührung, Liebkosung, Behauchung sprechen: als würde die Gestalt des Gedichts wie ein tot geglaubtes Insekt durch deinen Atem wiedererweckt und ins Leben zurückgerufen.

Gestalt- und formlose Gedichte können nicht reanimiert werden.

Nicht in jeder Muschel reifte eine Perle heran – so schön dir ihr Perlmutt auch glänzt.

Wer die Muschel aufbricht, um ihr Fleisch zu schlürfen, kann nicht LESEN.

Die Buchstaben verwandeln sich dem kontemplierend Lesenden in Hieroglyphen zurück.

Als würden die Zeichen sich selber tragen, und dich nur, wenn du Wolke, Schatten, Hauch wirst wie sie.

Die Frucht des Gedichts hat keinen schalen Nachgeschmack.

Die Frucht des Gedichts ist der Spiegelsee, auf dem deine Seele schwimmt wie ein durchsichtiges Blatt.

Die Frucht des Gedichts wächst am Wunderbaum des imaginären Lebens.

Der Spiegel des Gedichts blendet durch Selbsterkenntnis.

Das Glück des Gedichts: wenn im Innern seines Spiegels der Lärm der Welt verhallt, sich ihre Grimassen entzerren.

Im Gedicht betrachten wir die Frucht des Lebens ohne Gier oder den triebhaften Zwang, nach ihr zu greifen.

Die Betrachtung, die das Gedicht uns gewährt, erfüllt uns in dem Maße, wie es aus der Erfahrung und Sublimierung der unserem Leben eingesenkten Schwermut heraus gesprochen ist.

Wer mit dem Gedicht etwas will, bezeugt einen vulgären Geschmack.

Auch noch das Gran Eitelkeit, das im Anspruch auf die Poésie pure steckt, in den Wind streuen, der da Staub und Asche mit sich führt.

Nun, wir sterben; das imaginäre Ich des Gedichts aber stirbt nicht.

Das imaginäre Ich des Gedichts führt ein Scheinleben außerhalb der realen Zeit.

Das Gedicht ist ein Fleck, eine Astauge, ein Loch im Zeitbewußtsein.

Und die Begegnung, der Ursprung der Sprache im Gespräch, das wir sind? Es ist wie mit dem Herzen Daphnes, das Apollo unter der Rinde des Lorbeers, des Gedichts, in das sie sich verwandelt, noch von ferne schlagen hört.

Erst ist es die Frucht am Baum, dann ist es ihr Duft, wenn sie in der Schale dämmert, dann ist es die Erinnerung an die Frucht, die im Dunkel schimmert, dann ist es die Erinnerung an den Duft, der aus dem leeren Teller der Langeweile steigt, dann ist es der Duft der Erinnerung, der nur mehr an dem kristallinen Schmerz spürbar ist, wenn er verweht.

Gedicht, Wolke, die vorüberzieht, das Licht verfängt sich einen Augenblick in seinen weißen Fäden, verfärbt sich leicht, zögernd und verblaßt.

Ins Nichts gehaltene Blüte – aus Nichts.

Schleier, unmerklich wehend – er verbirgt kein Gesicht, verhüllt sich selbst, enthüllt sich selbst.

Wir können nur sagen „Himmel“, „Licht“, „Tao“, „Leere“ – und sagen nichts und alles.

Gesetz, das sich durch sein Dasein erfüllt.

Kuß, der sich seinen Mund zeugt und an ihm verglüht.

Blüte, die sich blendend auftut und jäh in ihre Öffnung dahinwelkt.

Träne an einem Auge aus dem Saphir der Luft.

Du beschreibst den Garten, seine Lage unter dem Sternbild, trägst die Namen der Blumen, der Obstbäume und Sträucher, der Gräser und Stauden in einer Liste ein. Du bist ein Blatt am Stammbaum der Namen Linnés, ein Pfeil in den Sternkarten von Hubble. Dann liegst du des Nachts rücklings im Gras des Gartens, das Sternbild droben wandert und versinkt, rings weht es noch fern aus den Bäumen, du hast die Namen vergessen, du hast vergessen, daß du im Garten liegst, als du einschlafen willst, kitzelt dich ein Käfer an der Nase.

Erst wollte das Lied wecken, rufen, wiegen oder peitschen. Dann ging es müde oder erleichtert in sich selbst zurück. Bis es begann sich selbst zu wecken, zu rufen, zu wiegen und zu peitschen. Jetzt, da es keinem gehört, gehört es sich selbst, jetzt da es keinem singt für nichts, ist es reiner Gesang.

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