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Der Sprachkristall

29.08.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Einen Kuß, ein Empfinden nennen wir süß, ein anderes bitter; einen Ton hoch, einen tief; eine Klangfolge schwebend, sinkend, steigend, unentschieden; eine Farbe hell oder dunkel, düster oder heiter.

Wenn wir eine Blume, die Nelke heißt, als Veilchen bezeichnen, haben wir uns geirrt und werden zurecht korrigiert. – Wenn wir ein trauriges Lied nicht als traurig empfinden, können wir nur schwerlich eines besseren belehrt werden.

Können wir lernen, ein trauriges Musikstück als ein solches zu empfinden, aufzufassen, zu verstehen?

Ist wie Kultur des Geschmacks Gefühlskultur möglich?

Wir schließen nicht aus der traurigen Miene, der verzagten Stimme, der schlaffen Geste, dem schleppenden Gang, daß dieser Mensch traurig ist: Wir sehen es. – Wenn der Mensch ein Schauspieler ist, der Hamlet darstellt, sehen wir es gleichfalls; aber wir schreiben die physiognomischen Erscheinungen, die wir als Ausdruck von Traurigkeit oder Melancholie auffassen, nicht dem Schauspieler zu, sondern der Figur, die er spielt, der Rolle, die er verkörpert.

Woran erkennen wir den Simulanten des Gefühls? – Der da Mitgefühl mit den Armen in Übersee heuchelt oder medial effektvoll (und lukrativ) inszeniert, aber seine Mutter, seine Frau, seinen Freund im Stich läßt.

Wir könnten in das Gehirn des traurigen Menschen blicken, aber nicht am MRT-Scan ersehen, daß er traurig ist; wir könnten es vielleicht anhand der Aufnahme des Gehirnes (aufgrund vergleichbarer Fälle) folgern.

Wir beißen in den Apfel und empfinden einen sauren Geschmack; die chemische Formel der Säure suggeriert uns keine entsprechende Geschmacksempfindung.

Gibt es „da draußen“ die objektive, aller sinnlichen Qualitäten und allen Sinnes bare Welt, die Welt der Physik, auf die wir, was wir qualitative Eigenschaften nennen, projizieren?

Freilich, der Schnee ist ein Kristall, den der Physiker objektiv zu beschreiben vermag; aber die Jahreszeit, die ihn uns auf Dach und Wiese weht, ist ein Teil unserer Lebenswelt, den es nur „gibt“, insofern wir von Winter, Kälte und Schneeverwehungen im Horizont unserer sensiblen und begrifflichen Möglichkeiten reden.

Der Schnee des Gedichts weist freilich auf kein objektives Datum im Kalender, sondern auf einen chronometrisch unbestimmten Moment im Jahreszyklus der Seele.

Der Gesichtsraum ist wie der Klangraum, ja wie der logische Raum, gleichsam systematisch in sich abgedichtet und geschlossen; aber dann hat es keinen Sinn zu fragen, ob es da ein Draußen gibt, in dem er wie der Handspiegel in der Schublade verborgen liegt.

Die Farbe und der Ton sagen primär sich selber aus; wir können sie freilich sekundär zur Warnfarbe und zum Signalton verwenden.

Seine Umgebung färbt, tingiert, variiert den Sinn. – Der Kammerton a hat eine andere Wertigkeit in der Dur- oder Mollumgebung, nicht zu reden von der diatonischen oder mixolydischen.

„Ich komme wieder.“ – „Ich gehe jetzt.“ – Wie anders, wenn es die Mutter zum Kind sagt, die Geliebte zum treuen oder untreuen Liebhaber, wie anders, wenn der Seelsorger zum Genesenden oder Sterbenden.

Wir fühlen nicht, daß wir metaphorisch reden, wenn wir das Wetter heiter, die Miene verschlossen, das Augenzwinkern verschmitzt oder das Lob speichelleckerisch nennen.

Der philosophische Mythos der Bedeutung erwächst aus ihrer Verwechslung mit einer mentalen Eigenschaft, als schwebe sie gleichsam oberhalb der Sprache im luftleeren Raum.

Wenn wir sowohl eine Entscheidung als auch eine Handlung oder die Leitung einer sozialen Institution gerecht nennen, ist Gerechtigkeit dann nicht eine Art mentaler oder geistiger Eigenschaft, die wir losgelöst von den Entscheidern, Handelnden oder Leitern identifizieren können (wie Platon meinte)?

Die Sonne des Guten, die wir an den farbigen Brechungen dessen nur erahnen, was uns gut dünkt (auch wenn es schlecht ist).

Der Kristall der Idee, der umso reiner ist, je weniger farbiges Licht er streut.

Der Spielleiter mischt und verteilt die Karten unter den Teilnehmern zu gleichen Teilen, ohne viel nachzudenken, gleichsam automatisch (oder im Dunkeln).

Tugenden wie Gerechtigkeit, Klugheit oder Mäßigung, die wir in der antiken Mythologie und Dichtung zu gleichsam lebenden Allegorien erhoben finden, sind Personifikationen jener Attribute von Handlungen, die wir gerecht, klug oder maßvoll nennen.

Aber wenn der Satz „it is snowing“ und der Satz „Es schneit“ dasselbe meinen, drücken sie dann nicht denselben Gedanken aus? Doch gewinnen wir die Identität dieses Gedankens anders als durch den sprachlichen Ausdruck jener Sätze, von denen wir natürlich mit Recht behaupten, daß der eine jeweils die adäquate Übersetzung des anderen darstellt?

Der Schüler lernt den Unterschied zwischen andante, allegro und allegretto; der Lehrer erinnert ihn an den Unterschied zwischen Schreiten, Eilen und Rennen, an die Gangarten des Pferdes Tritt, Trab und Galopp. Ist das eine die Übersetzung des anderen?

Der iambische Vers verlangt ein schnelleres Lesen als der Hexameter oder der Vers der alkäischen Ode.

Wir bedürfen keines objektiven Zeitmessers, gleichsam eines poetischen Metronoms, um die Verhältnismäßigkeit der unterschiedlichen Leserhythmen des Iambus, des Hexameters und des alkäischen Verses zu ermessen.

Wir fühlen, wenn einer Goethes Marienbader Elegie zu hastig, zu laut, zu pointiert liest. Hören wir, um dies beurteilen zu können, ein metrisches Paradigma im inneren Ohr ab?

Ohne Wiederholung oder wiederholende Variation kein Rhythmus, ohne Spiegelung oder spiegelbildliche Umkehrung oder Verzerrung kein dichterisch-lebendiger Ausdruck.

„Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen“ – die Wendung Goethes scheint ohne Beispiel und poetisches Muster, und dennoch ist sie aus sich selber evident.

Das Erste und Letzte, das Früheste und Währende, worauf wir unsere Weltorientierung und unsere sprachliche Äußerung stützen, ist das, was sich von sich aus zeigt (Heidegger), das Urphänomen (Goethe).

Mit dem Licht haben wir sich komplettierende oder kontrastierende Farben, mit dem Klang Zusammenklang und Mißklang, mit dem Gefühl Lust und Erschrecken.

Der fein geschliffene Kristall bündelt und reflektiert die Strahlen der Sonne; das Gedicht ist ein Sprachkristall, er bündelt und reflektiert die Strahlen des Gemüts.

Manch ein Kristall hat trübe Stellen und opake Flecken; hier verfangen sich die von uns ausgesandten Strahlen, hier sind wir blind.

Ganz glatte, ebenmäßige Flächen, die nichts als abgedroschene Plattheiten oder fadenscheinige Metaphern darstellen: In ihnen spiegelt sich unser müdes Gesicht. – Aber wir lesen keine Gedichte, um dies zu sehen.

Indes, andere blinde Stellen, Schatten und Flecken entstehen und sind unvermeidbar aufgrund von unwillkürlichen Verbiegungen und Überschneidungen der Kristallgitter; hier fühlen wir am Rand des Rätselhaften oder Unverständlichen die Ohnmacht der Sprache und die Intransparenz und Willkür des Schicksals, ähnlich der „Verunreinigung“ und „Verschattung“ des leuchtenden Bernsteins aufgrund von eingeschmolzenen Insekten und Faltern. – In den späten Hymnen und hymnischen Entwürfen Hölderlins scheinen solche blinden Stellen, Schatten und Flecken sich bisweilen zu häufen.

Kristall des Gedichts, der nicht unsere momentane Befindlichkeit widerspiegelt, sondern in einer gleichsam unberührbaren Ferne aufglänzt, der Ferne einer ungeahnten Möglichkeit des Fühlens und Denkens.

Die Gitter des Sprachkristalls bilden die Rhythmen des Gedichts, Reime Tropfen des Lichts, die an ihnen gleichsam gefroren sind.

Mehr oder weniger im gleichen Abstand sind an den zueinander symmetrischen Gittern des Sprachkristalls die Moleküle der Worte, aber auch die Leerstellen der Atempausen angeordnet; zu den wichtigsten Molekülen zählen die Namen für Gegenstände, Begriffe und Personen.

Die Namen des Gedichts gehören zu einem anderen Kalkül als beispielsweise die Namen des historischen Berichts oder der wissenschaftlichen Darstellung; die Namen der botanischen Darstellung wurden ursprünglich mittels hinweisender Definition gelernt: „Dies ist eine Rose“. Die Rose des Gedichts mag ein Ableger der Rose unserer Gärten sein, aber sie rankt sich statt über einen Zaun über das Gitterwerk der Sprache, und dieses hat anders als unser Garten keinen Ort in der realen Welt.

Wo befindet sich die Rose der Divina Commedia? Nun, in dem von Dante beschriebenen und evozierten Himmel, der wiederum eine imaginäre Doublette des Himmels über Italien ist, doch seine Grundfarbe ist nicht Blau, sondern Gold.

Der Sprachkristall des Gedichts reflektiert das Licht in den Farben eines imaginären Spektrums.

Der Sprachkristall des Gedichts entsteht aus dem Dunst oder der kristallisierenden Schmelze der dichterischen Intuition. – Welche Formen und Gestalten er im einzelnen ausbildet, ist vorab nicht determiniert, nicht voraussehbar, und kann vom Dichter nur geahnt, nicht geplant werden.

Die dichterische Intuition bedarf geeigneter Bedingungen, wie die Wassertropfen der Wolken frostiger Winde, sollen Schneekristalle sich bilden.

Keine Schneeflocke wie die andere.

Bei bedeutenden, wenn auch gewagten Übersetzungen wird aus einem Bergkristall ein Achat.

Manche kristallinen Formen wie die Schneeflocke zergehen unter dem ersten Anhauch; andere, hart geronnen wie der Quarz, scheinen für die Ewigkeit gemacht.

Das Lied eines Eichendorff und die Ode des Horaz.

Bei der Kristallisation schießen molekulare Strukturen an einen kristallinen Kern an, der auch als Keimling künstlich in die Lösung versetzt werden kann.

Der kristalline Keimling des Gedichts ist der dichterische Einfall, der Zufallsfund am Wegesrand, das, was Goethe die Gelegenheit nannte.

Freilich, der Kristall ist nur einer der Idealtypen dichterischer Gestaltung, wir können daneben beliebig viele natürliche Formen als poetologische Muster und Modelle typologisch ordnen und beschreiben wie Wolken, Knospen, Waben, Korallen, Muscheln, Medusen, Muster von tierischen Fellen oder Chitinpanzern, Augen, Gehirne …

Mögen wir Gedichte mit bunten Fensterscheiben vergleichen; doch welche Farben auf ihnen leuchten, welche Ornamente oder Bildmotive sie zieren, bleibe dahingestellt, nicht zu reden davon, ob das lautere Licht der Morgenfrühe, ein verblassendes Abendrot oder das Zwielicht der Mondnacht auf sie fällt.

 

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