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Philosophieren XLI

13.09.2013

Du hast nicht getan, was zu tun du vorhattest, und bist jetzt betrübt. – Kann ich daraus schließen, dass das, was du vorhattest, etwas war, das dich erheitert hätte? Oder kann ich daraus schließen, dass im Falle du deine Absicht verwirklicht hättest, du nicht betrübt, sondern im Gegenteil froh gewesen wärest? – Würden wir mit unseren Gedanken – oder mit den Sätzen, die sie ausdrücken und darstellen – die Wirklichkeit widerspiegeln, was spiegelten unsere Gedanken und Sätze dann wider, wenn wir denken und sagen, dass ein Sachverhalt oder eine Tatsache NICHT bestehe? – Ist die Negation wie ein Schatten, den der Sachverhalt oder die Tatsache in den Raum des Möglichen wirft? – Wir denken und sagen gerade so schnell, bequem und unbefangen „nicht p“ wie „p“.

Auch wenn der Satz „Der Schah von Persien sitzt auf dem Pfauenthron“, jetzt ausgesprochen, nicht wahr ist, weißt du doch, dass er einmal wahr war, und könntest ohne Widerspruch die Annahme wagen, dass er wer weiß? einmal wieder wahr sein könnte. Gilt dies auch für den Satz: „Ich bin zwar als Mann geboren, könnte aber genauso gut eine Frau sein“ oder „Ich bin zwar als Frau geboren, könnte aber genauso gut ein Mann sein“? Oder wäre eine solche Möglichkeit auszusinnen gleichbedeutend damit, sich vorstellen zu wollen, ein euklidisches Quadrat habe eine Winkelsumme von weniger oder mehr als 360 Grad?

Behaupte ich, wenn ich die Möglichkeit einer Tatsache negiere, die Möglichkeit einer Welt, in der es alles Mögliche gibt, nur diese eine Tatsache nicht? Impliziert die Möglichkeit deiner Nicht-Existenz die Möglichkeit einer Welt, in der es alles Mögliche gäbe und auch das, was eben jetzt hienieden geschähe, nicht aber dich? – Deine mögliche Nicht-Existenz setzt neben der Tatsache, dass dich deine Eltern nicht gezeugt hätten, eine Viel- oder Unzahl anderer Tatsachen voraus: In jener Welt ohne dich sind sich deine Eltern vielleicht niemals begegnet. Wenn sich deine Eltern nicht begegnet wären, wären ihre Lebensgeschichten anders verlaufen. Wären die Lebensgeschichten deiner Eltern anders verlaufen, wären auch die Lebensgeschichten ihrer Verwandten, Freunde und Bekannten anders verlaufen. Wären aber die Lebensgeschichten ihrer Verwandten, Freunde und Bekannten anders verlaufen, wären auch die Lebensgeschichten wiederum deren Verwandten, Freunde und Bekannten anders verlaufen – also die Lebensgeschichten ALLER Menschen.

Folgt daraus nicht, dass die Welt, in der deine Existenz gleichsam nicht vorgesehen wäre, in vielfacher, umfänglicher oder gar globaler Hinsicht anders aussähe als diese unsere Welt, in der du deinem frohen bis betrübten Dasein frönst? – Du könntest dich auch fragen, wie weit die Voraussetzungen und Bedingungen zurückgehen (kausal, naturgesetzlich, logisch), deren tausendmaschiges Netzwerk die einzigartige lokale Verflechtung hervorgebracht hat, die wir als „Marienbader Elegie“ kennen? Ist die Farbigkeit, die Mehrtönigkeit, die Obertönigkeit des Wortes „Liebe“, wie es Goethe gebraucht, ohne die Voraussetzungen und Bedingungen denkbar, deren tausendmaschiges Netzwerk Judentum, Christentum sowie antike Dichtung und Philosophie – um nur diese zu nennen – geflochten haben? Wie viele Generationen sind es von Moses – so du ihn als historische Figur dem 1300 Jahrhundert v. Chr. unterschiebst – bis zu Goethe? –

Was hieße es aber, sagen zu wollen oder zu können, die Möglichkeit deiner Existenz sei der logischen Valenz nach nicht der Möglichkeit deiner Nicht-Existenz gleichzustellen? Hieße das nicht, annehmen zu müssen, dass deine Existenz in dieser unserer Welt gleichsam vorgesehen war und ist und nicht die Rolle eines kontingenten Etwas spielte, das auch nicht hätte sein können? Dass du nicht zu einer betrachtenden und ästhetischen oder gröber und klarer gesagt: einer Eckensteher-Existenz verurteilt bist, sondern durch tätige Hingabe und mitfühlende Verantwortung gleichermaßen deiner einzigartigen Rolle gerecht zu werden hast? Frage dich, warum alle Welt diese Welt als Tollhaus des Zufalls, als Arena blutig-grotesker Turniere auf Leben und Tod, als Totenspiel somnambuler Narren beschwört, feiert oder verflucht? –

Die Möglichkeit deiner Nicht-Existenz bildet nicht so etwas wie ein kleines Loch, einen winzigen toten Punkt oder einen klitzekleinen schwarzen Fleck auf einem großen Genrebild von Pieter Brueghel d. Ä., in dem ein bösartiger Narr oder ein nihilistischer Mephistopheles eine püppchenzarte Figur im Hintergrund eines grotesken Menschengewimmels mit einer Nadel ausgestochen oder einer Rasierklinge ausradiert hätte – was aus einiger Entfernung nicht einmal auffiele. –

Deine Nicht-Existenz oder vielleicht die Nicht-Existenz der Stubenfliege, die sich gerade jetzt auf deinem Ärmel niederlässt, hätte zur Folge, dass das Bild der Welt, wenn wir es mit dem Genrebild Brueghels vergleichen, anders aussähe, eine andere Farbigkeit, eine veränderte Verteilung von Licht und Schatten, eine andere Anordnung der Sujets, ja andere Sujets aufwiese – am Ende überhaupt kein Genrebild mehr wäre, und sogar so verschiedenartig von dem Genrebild Brueghels ausfiele, dass es ein Maler wie Brueghel hätte überhaupt nicht malen können.

Wenn diese Welt (einschließlich deiner Existenz und der Existenz der Fliege auf deinem Ärmel) so sehr verschieden wäre von jener Welt (ausschließlich deiner Existenz und der Existenz der Fliege auf deinem Ärmel), wären sie dann so verschieden wie zwei Sprachen mit sehr unterschiedlicher Laut- und Wortbildung und anders strukturierter Grammatik wie das Deutsche und das Chinesische oder so verschieden wie ein klassisches Musikstück verglichen mit einem atonalen Musikstück? –

Oder wären diese Welt mit dir und jene Welt ohne dich so verschieden, dass sie überhaupt nicht mehr vergleichbar wären? Wo verläuft aber die Grenze, diesseits derer du sie vergleichen und jenseits derer du sie nicht mehr vergleichen kannst? Wann und wo beginnen alle Vergleiche, Bilder, Metaphern zu versagen? Sind wir hier an einer faktischen Grenze oder an einer begrifflichen Grenze angelangt? Jene nehmen wir mit dem Anlauf des Vergleichs, des Bildes, der Metapher spielend, bei dieser beginnen wir zu stottern. –

Ist es wie mit der Grenze zwischen unserer Welt und jener Welt, in der das Leben nicht auf organischen Kohlenstoffverbindungen, sondern auf Siliziumverbindungen aufgebaut wäre? Oder wäre dies die Grenze zwischen einer Welt wie der unseren und einer Welt, in der die Wesen, die wie Lebewesen aussähen und agierten, in Wahrheit tote Automaten wären? –

Die Modulation erfolgte nach Moll, nicht nach Dur beziehungsweise nach Dur und nicht nach Moll, wie du vielleicht erwartet hast. – Ist es so mit der herausragenden Tat, wenn der eine einem anderen das Leben gerettet oder der andere den anderen ums Leben gebracht hat, als würde vom Licht oder dem Schatten dieser einzigen Tat eine neue, wesentliche oder endgültige Deutung auf die Summe des bisherigen Lebens fallen? – Hätte der Lebensretter der Mörder oder der Mörder der Lebensretter sein können? Oder gehören sie zwei getrennten, weil strukturell verschiedenartigen Welten an? –

Und umgekehrt: Du hast in jungen Jahren ein Gelübde abgelegt und wolltest christlicher, buddhistischer, hinduistischer oder taoistischer Mönch oder christliche, buddhistische, hinduistische oder taoistische Nonne werden oder du fühltest dich zu außerordentlichen Taten der Nächstenliebe berufen und hast dann sinistren Verführungen und sinntötender Zerstreuung nachgegeben oder wurdest einfach müde und matt, und dein Ideal sank dahin – ist es hier wie mit dem Lebensretter und dem Mörder bestellt, nur nicht post festum, sondern ante festum, und das Licht der Tat, das Schuld, Sünde, Müdigkeit oder Langeweile verdunkelten, wirft sich als Schatten auf die vertane Lebensfrist? Wäre dies die Providenz der Hölle, von der Augustinus gemutmaßt hat? –

Oder gibt es hienieden die Möglichkeit der Möglichkeit, die Möglichkeit der Umkehr, des Richtungswechsels, des Neubeginns? Gibt es hienieden die Möglichkeit in potentia, indes nur im Raum der Gnade? Und ist der Raum der Gnade kein abgezirkelter Bereich, sondern ein Licht, in dem du stehst oder nicht stehst?

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