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Variationen über ein verborgenes Thema

23.08.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Die Lichtreflexe auf dem Wasser, die das hinabgebeugte Gesicht des Narziss vergolden, erhöhen den Reiz der Widerspiegelung.

Wie erkennen das Redemuster der Frage, der Aufforderung oder der Behauptung nicht anhand eines durch Abstraktion erfassten Idealtyps der Frage, der Aufforderung oder der Behauptung, sondern entnehmen ein solches Muster einer Reihe seiner Varianten.

Wir haben nur die Varianten, im Reden, im Tun, im künstlerischen Ausdruck. Aber in der Reihe der Variationen erfassen wir intuitiv das zugrundeliegende Muster des Sprechakts, der Handlung oder des künstlerischen Ausdrucks.

Immer erneute Variationen auf ein sich immer entziehendes Thema, könnten wir sagen, ist der Sinn des Lebens.

Wir kennen unser Gesicht nur als gespiegeltes Bild. Wir erkennen unser Leben nur im Spiegel der Welt.

Doch ist dieser Spiegel gleichsam zersplittert, ja die Splitter und Fragmente spiegeln auch einander.

Wir erkennen unser Leben in der Befolgung und Verwendung von Redemustern: „Reich mir den Zucker!“ – „Stell dich neben Hans!“ – „Füge zur Reihe der natürlichen Zahlen immer ihren Nachfolger mittels Addition von 1 hinzu!“ –„Ich verspreche dir, morgen zu kommen.“ – „Er hat mich an der Nase herumgeführt.“ – „Meine Schmetterlingssammlung soll Hans bekommen.“

Wir kreisen um eine leere Mitte.

Das Auge sieht, aber nicht sich selbst, die Hand zeigt, aber nicht auf sich selbst, die Frage fragt, aber stellt sich selbst nicht in Frage.

Dein Blickpunkt spannt dir die sichtbare Welt auf, in der du dich selbst verortest.

Deine Rede spannt dir die soziale Welt auf, in der du dich selbst verortest.

Der Stein meines Daseins, könnte man sagen, fiel in dieses Wasser des unendlichen Schweigens, und die kreisförmigen Wellen, die von seinen Mittelpunkt ausgehen und ins Unabsehbare verlaufen, überschneiden und brechen sich an den kreisförmigen Wellen der anderen.

Wäre um im Bilde zu bleiben Gott das Wasser, in dem mein Fall Wellen bildete, bliebe er mir in seinem Wesen unendlich verborgen, denn dieses wäre gleichsam glatt und stumm, während ich es mit meiner Existenz in eine oberflächliche Erregung und ein ephemeres Rauschen versetzen würde.

Das Komische und Groteske der Existenz ist zumeist eine Funktion physischer Degeneration oder seelischer Missbildung, vom Klumpfuß des Hephaistos oder des Teufels über die von Freßsucht und Eitelkeit entstellte Physiognomie des Trimalchio im Satyricon des Petronius bis zur Spiegelfechterei des idealistisch abgemagerten Don Quichotte.

Die komischen Züge des Genies werden oft von nervlichen Entartungen wir der Migräne Pascals oder Nietzsches geprägt.

Der Ekel vor dem geistreichen Geschwätz ist ein Kennzeichen des Genies.

Besser schweigen als aus Eitelkeit und Gefallsucht die glänzenden Phrasen der intellektuellen Salons dreschen.

Wenn wir die Muster der Rede wie ein altes Mosaik betrachten, das aus einer Unzahl unterschiedlich gefärbter Plättchen (sogenannter tesserae) besteht, sind wir bei hinreichender Einbildungskraft oder Kombinationsfähigkeit in der Lage, fehlende Teile oder Lücken wie die Lücken einer alten Handschrift durch bedeutungsvolle und dem Stil und Geist des Originals entsprechende Fragmente zu ergänzen.

Der Überblick über das sinnvoll vervollständigte Mosaik vermittelt uns wie die erhaltenen kunstvollen Mosaike altrömischer Villen ein ganzes, in sich stimmiges Bild.

Doch ein Blick auf das Mosaik der Sprache vermittelt uns kein abgeschlossenes und vollständiges Bild. Es hat gleichsam Lücken zwischen einzelnen Mustern, die wie der leere Raum zwischen den Zeilen eines Gedichts keiner Ergänzung bedürfen, und seine Ränder sind offen: Immer wieder geschieht es, dass ihnen neue Stücke zuwachsen, die ein neues Muster bilden.

Wir können uns ein Muster denken, das wie der Refrain eines Kinderlieds in sich selbst verläuft oder sich wie das pythagoreische Pentagramm oder die Mandelbrot-Menge unendlich auf sich selber abbildet.

Das Bemerkenswerte an der geometrischen Widerspiegelung des gleichen Musters im gleichen Muster besteht darin, dass sie sich nicht durch ein ganzzahliges Verhältnis, sondern nur durch eine irrationale Zahl ausdrücken lässt.

Ist der Raum der Sprache nicht abgeschlossen, so können wir die ganze Reihe der Muster der Rede nicht als Muster erster Ordnung von einem singulären, übergeordneten und universalen oder allgemeingültigen Muster höherer Ordnung ableiten.

Du rufst mir zu und ich drehe mich um. Du bittest mich, das interessante Gespräch bald fortzusetzen. Die Gewissheit, mit der ich mich angesprochen fühle, ist kein mentaler Zustand wie das ego cogito, sondern das sichere Gefühl im eingewöhnten Umgang mit konventionellen Redemustern wie der Aufforderung und der Bitte oder des Versprechens.

Wir haben in dieser Hinsicht keine letzte Gewissheit, wie Descartes annahm, denn dein Zuruf könnte einer anderen Person gegolten haben und ich könnte deinen Wunsch, unser Gespräch demnächst fortzusetzen, irrtümlich für bare Münze nehmen, wenn du ihn ironisch gemeint hast.

Wenn das Gesetz als Spruch oder Befehl Gottes in einer Schrift offenbart wäre, müsste es anhand dieser Schrift mit letzter Gewissheit erkennt werden können. Wenn aber über die Auslegung der Schrift die klügsten Geister in Streit lägen, könnte dies nur zweierlei bedeuten: Zum einen, dass die Schrift nur scheinbar, aber nicht wirklich das Gesetz enthielte; zum anderen, dass Gott nicht willens oder nicht fähig wäre, seine Befehle in unmissverständlicher Weise auszudrücken. Wäre er nicht willens, wäre er nicht Gott, sondern ein böser Dämon; wäre er nicht fähig, wäre er weder weise noch mächtig, also nicht Gott.

Wäre ein einziger außerzeitlicher Gott der Sprache mächtig? Nein, nur endliche Wesen können sich und nur im Plural miteinander verständigen.

Der einzige Gott Mohammeds wäre ein stummer Gott, wenn aber stumm, könnte er nicht den Koran durch seinen Engel diktiert haben lassen.

Könnte der trinitarische Gott einer Sprache fähig sein? Wäre dem so, was hätten drei Personen eines Wesens sich mitzuteilen?

Die göttliche Naivität Homers zeugt sich darin, dass er gleich zu Beginn der Ilias die Götter des Olymps in keiner anderen Sprache als auf Griechisch und auf keine andere Weise als in Hexametern sich unterhalten lässt.

Könnten die leicht lebenden Götter des Olymps eine Sprache wie die Sprache der Sterblichen sprechen oder verstehen, in der sich das Dasein der Zeitlichkeit im Schatten des Todes ausdrückt?

Pascal konnte die Erfahrung der Nähe Gottes in seinem Memorial vom 23. November 1654 glaubwürdig festhalten. Aber sich auf das Memorial Pascals zu berufen, um die Nähe Gottes für sich in Anspruch zu nehmen, ist unglaubwürdig.

„Feuer. Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit. Gewissheit. Empfinden: Freude, Friede.“

Was Pascal mit Feuer meinte, können wir nur ahnen. Es ist ähnlich dem Himmelsfeuer Dantes, eine heilsgewisse Umkehrung der vernichtenden oder peinigenden Wirkung des Höllenfeuers. Sicher aber ist der Ausdruck Gewissheit der Gegenbegriff zur Gewissheit des kartesischen ego cogito. Und wessen er gewiss wird, ist nicht das Bewusstsein seines Empfindens, sondern sein Gehalt.

Jemand könnte einen anderen töten, um des Gefühls der Leere und Sinnlosigkeit des Daseins zu entkommen.

Aber auch ein solcher Mord wäre eine wenn auch abscheuliche Form der Zerstreuung.

Die Agonie beginnt mit der Geburt. Jedem Kosmos ist von Anbeginn ein unmerkliches Zittern und Schwanken einbeschrieben.

Die kaum merkliche Unregelmäßigkeit auch der schönen und ebenmäßigen Züge macht den anrührenden Charme des Vergänglichen aus.

Der Glaube an die Ewigkeit, an irgendein Unverwesliches, ist wie Goethes einschlägige Äußerungen bezeugen die Triebfeder des schöpferischen Geistes, die ihn über die ihm aus dem Totenschädel entgegengrinsende Gewissheit erhebt, dass auch sein Werk dem Vergessen anheimzufallen bestimmt ist.

Die Variationen der Reihe des Pythagoras oder der Mandelbrot-Menge bringen das ihnen eingeschriebene Muster bis an die Grenzen des Sichtbaren ans Licht. Man könnte sich ein Spiel von Variationen denken, in denen das ihnen eingeschriebene Muster mehr und mehr verdeckt wird und sich ins Unsichtbare und Rätselhafte entzieht.

In einem solchen Spiel würde die Sprache von Grund auf zweideutig, schillernd, sich von Stufe zu Stufe ihrer Anwendung verrätseln. Während in der gewöhnlichen Sprache durch die wiederholte Verwendung eines Sprachmusters dieses Muster immer klarer zum Vorschein tritt, würde in dieser Sprachwelt wie in der Welt Kafkas das Gesagte durch Wiederholung seines Sinnes mehr und mehr beraubt.

Zunächst sehen die Zeichen und Zeichenreihen auf dem Papier so aus, als regiere ihre Anordnung ein wenn auch (noch) verborgener Wille, dem man mehr oder weniger sinnvolle Absichten und Zwecke zu unterstellen bereit ist. Dann tauchen mehr und mehr Zeichen auf, die keinem bekannten Muster folgen und auch der hellsichtigsten Einbildungskraft und der scharfsinnigsten Kombinationskunst kein thematisches Material zu einer Musterbildung liefern. Der Zweifel keimt, ob der sich bisher bekundende Wille seine Absichten und Zwecke vergessen und gleichsam der Künder des Gesetzes sich aus seiner Verkündigung nach und nach zurückgezogen hat oder ob die ganze Rede von Anbeginn als Blendwerk aufgefasst werden muss, sodass sich die Zeichen als sinnlose Ereignisse erweisen wie das Lautbild der Regentropfen, die auf Blätter fallen, worin wir bisweilen eine Melodie oder den Ruf unseres eigenen Namens zu hören vermeinen.

Je eingeschrumpfter der Verstand, desto aufgeblähter die moralische Gesinnung.

Die vom Licht der Aufklärung Geblendeten glauben, es gebe ein universales Muster moralischer Imperative, und sie dekorieren es gern mit glänzenden und gefühligen Etiketten wie Humanismus, Menschenfreundlichkeit oder gar Liebe. Doch ebensowenig, wie es ein universales oder allgemeingültiges Muster für den Sinn aller möglichen Sätze geben kann, lässt sich ein universales, allgemeingültiges Muster für alle Handlungen beschreiben oder konstruieren, dem gemäß wir einzelne Handlungen von erhabener Gesinnungswarte herab als ein für allemal gut oder schlecht zu bewerten hätten.

Dieselbe Tat und demzufolge dasselbe Handlungsmuster, wie einen anderen zu töten, kann mit gleicher Berechtigung als gut wie auch als schlecht bewertet werden, wenn das eine Mal der Einwohner einem schussbereiten Einbrecher aus Notwehr den Garaus macht oder das andere Mal ein Fanatiker einen Ungläubigen aus niedrigen Beweggründen erdolcht.

Die Berufung auf ein universales, allgemeingültiges Muster moralischer Handlungsgebote wird auch von der Tatsache untergraben, dass wir die Ausführung solcher Gebote wie der angeblichen Pflicht zu unbedingter Hilfsleistung aus plausiblen Gründen zu unterlassen berechtigt sind. Keiner ist moralisch genötigt, jemandes Gesuch um Aufnahme und Unterstützung nachzukommen, von dem er annehmen darf, dass er die gewährte Bitte dazu missbrauchen wird, ihm selbst, seiner Familie, seinem Volk oder seinem Land zu schaden.

Jedes halbwegs gute Menschenleben kann nur auf dem Wurzel- und Nährgrund einer geschichtlich geprägten Sprache und Kultur gedeihen, die ein biologisches und kulturelles Erbteil der Ahnen darstellt. Die eigene Kultur und Sprache zu fördern und zu pflegen, kann demnach als eine Form der pietas, einer von bestimmten Weltanschauungen und Religionen unabhängigen Art weltlicher Frömmigkeit oder Weltfrömmigkeit, betrachtet werden. Der Bedrohung des eigenen Erbes durch Verrohung im Innern oder Überfremdung von außen zu wehren, könnte demnach ebenso als Pflicht angesehen werden wie die ihr korrespondierende, die Eigentümlichkeit und Eigenständigkeit fremder kultureller Lebensweisen zu achten.

 

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