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Kleine philosophische Lektionen XIV

07.12.2014

Zum Begriff des Menschen

Mit dem Begriff des Menschen meinen wir nicht den Namen „Mensch“. Wenn die Griechen ihre Anrainer wie die Perser „Barbaren“ nannten, haben sie ihnen vielleicht den Namen „Mensch“ verweigert, aber nicht den Begriff des Menschen – denn sie haben sie in ihren Absichten und Handlungen verstanden (sonst hätten sie nicht Handel mit ihnen treiben oder gegen sie Krieg führen können). „Unmensch“ und „unmenschlich“ sind Teile des Begriffs des Menschen.

Wir können den Begriff des Menschen oder die menschliche Natur nicht in der Art definieren, wie wir den Begriff eines physischen Gegenstandes wie Wasser definieren. Hier können wir uns damit behelfen, dass wie eine Liste von deskriptiven Merkmalen aufstellen, die etwa Merkmale wie diese enthält: unspezifisch verteilter Stoff, der flüssig ist, unter null gefriert, bei 100 Grad Celsius verdampft. Auf der sicheren Seite sind wir, wenn wir definieren: alles, wessen chemische Analyse die Elemente 2x H und 1x O ergibt, und sonst nichts.

Listen mit wesentlichen Eigenschaften des Menschen veralten schnell. Setzt man „Werkzeuge herstellende und gebrauchende Lebewesen“, „Bewusstsein“ und „Selbstbewusstsein“ oder „Sprache“ auf die Liste, kommen die Primatenforscher gelaufen und rufen „Wir sind schon hier!“ Weist man die DNA-Analyse als Fingerbadruck der menschlichen Identität aus, kommen die Genetiker ins Gehege und rufen „Das Bisschen kann nur einen graduellen, keinen qualitativen Unterschied erklären!“

Wir kommen ein wenig weiter, wenn wir die Gründe untersuchen, weswegen Beschreibungen wie die von physischen Substanzen oder von natürlichen Objekten auf den Begriff des Menschen nicht anwendbar sind. Das Verhalten von Substanzen wie Wasser unterliegt physikalischen Gesetzen, nach denen es nicht möglich ist, Wasser unter irdischen Bedingungen auf 100 Grad Celsius zu erhitzen, ohne dass es verdampft. Wir könnten den Begriff des Menschen nur dann gesetzmäßig streng definieren, wenn wir zu jedem menschlichen Verhaltenstyp ein zugehöriges psychologisches oder psychophysisches Gesetz finden, nach dem es nicht möglich ist, dass du einem internen oder externem Stimulus s (einem Motiv oder einem Reiz) ausgesetzt wärest, ohne dass du auf eine typische Weise r reagiertest: Für alle s, r folgt aus s. Das aber ist nicht der Fall: Wenn du hungrig bist und den Antrieb verspürst, etwas zu essen, magst du dem Verlangen nachgeben und etwas essen. Aber dieses Verhalten ist nicht erklärbar unter Anwendung des psychologischen oder psychophysischen Gesetzes, wonach du, immer dann, wenn du hungrig bist, dich daran machst, etwas zu essen. Denn wenn du in einer wichtigen Besprechung mit deinem Lehrer oder Chef Hunger verspürst, überwindest du das Verlangen, in deiner Tasche nach dem mitgebrachten Proviant zu kramen und beherzt in deine Stulle zu beißen.

Daraus folgt: Der Begriff des Menschen ist nicht nach dem Modell natürlicher Gegenstände definierbar, weil menschliches Verhalten nicht nach psychologischen oder psychophysischen Gesetzen erklärbar ist – schlicht und einfach aus dem Grund, weil es diese Gesetze nicht gibt.

Aber daraus folgt nicht, dass ich nicht verstehen könnte, warum du enttäuscht, wütend oder eifersüchtig bist, wenn dich dein Freund betrogen hat, auch wenn es keine (einem psychologischen Gesetz entsprechende) notwendige Wirkung der Tatsache, dass dich dein Freund betrogen hat, gibt derart, dass du enttäuscht, wütend oder eifersüchtig bist. Du könntest auch erleichtert sein, denn jetzt hast du einen plausiblen Grund, dich von ihm zurückzuziehen, wonach dir schon geraume Zeit der Sinn stand. Aber wenn ich diesen letzteren Hintergrund wüsste, verstünde ich auch deine ungewöhnliche Reaktion. Du hattest ja deine Gründe, so zu reagieren und nicht anders.

Jetzt haben wir eine Einsicht gewonnen, wie wir den Begriff des Menschen zumindest mit einem wichtigen Element konstruktiv bestimmen können: Wir sind Lebewesen, die unser Verhalten und unsere Einstellungen zur Umwelt nicht nur wie physische Dinge gemäß Ursachen ablaufen lassen müssen, sondern nach Gründen steuern und modifizieren können. Dabei sind die Motive, nach Gründen zu handeln, in einem Netzwerk verflochten. Wenn du auf der Straße von einem Grobian übel beschimpft wirst, hättest du einen guten Grund, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen, aber du ziehst es vor, deiner Selbstachtung zuliebe ihn höflich abblitzen zu lassen oder ganz zu ignorieren.

Weil Gründe netzartig verflochten sind, können wir sie in einem formalen Gerüst praktischer Argumente zur Geltung bringen, gewichten und abwägen. Daraus entstehen schnell komplexe Hierarchien von Gründen und Präferenzen: Ich ziehe es vor P zu tun als Q, denn würde ich Q tun, müsste ich als Folge R in Kauf nehmen (aber R will ich vermeiden).

Du kannst mich nur verstehen, wenn wir voraussetzen, dass du mit mir in demselben logisch-semantischen Raum der Gründe lebst. Auch wenn ich von einer paranoiden Psychose befallen würde und aus Angst vor Vergiftung mich weigerte, mit dir gemeinsam zu essen, könntest du mich verstehen, denn du weißt, dass die Angst vor Vergiftung ein Grund ist, so zu handeln. Der Wahnsinn ist eine Art Ausbuchtung im logisch-semantischen Raum der Gründe, aber kein unzugängliches Mysterium oder das Jenseits aller Vernunft.

Gründe zu verstehen, heißt nicht, sie zu billigen. Wenn ein absoluter Machthaber seine Macht dazu missbraucht, eine Ethnie auszugrenzen oder zur Auswanderung zu nötigen, von der er annimmt, dass sie die Grundlagen seiner Macht unterminiert, ist seine Annahme über diese Ethnie der Grund, von dem her wir sein Verhalten verstehen – auch wenn wir es nicht billigen. In unseren Augen mag er wie ein Unmensch handeln und sich unmenschlich verhalten. Doch wie gesagt: „Unmensch“ und „unmenschlich“ sind Teile des Begriffs des Menschen.

Nur wenn du dich selbst verstehst, kannst du verstehen, was ich meine oder tue. Wenn die Tatsache, einen anderen verletzt zu haben, für dich kein Grund ist, dich zu schämen und auf Wiedergutmachung zu sinnen, wirst du nicht verstehen, wenn ich mich dafür schäme, dich beleidigt zu haben, und dich um Entschuldigung bitte. Wenn also soziale Scham für dich kein Grund für eine Entschuldigung wäre, könntest du meine Entschuldigung nicht annehmen. Ein solcher Mangel an Selbstverständigung führt zum Abbruch der Kommunikation.

Den Begriff des Menschen aufhellen oder erklären zu wollen, führt uns demnach in den Vorgang der Selbstverständigung. Denn es scheint menschlich zu fragen: Wer bin ich? Und darauf gibt es keine eindeutige Antwort – außer der: jemand zu sein, der sich bemüht, sich selbst besser zu verstehen, um zu verstehen, was der andere meint und tut.

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